Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für molekulare Genetik

Das X-Chromosom als Modell für genetische Regulation

Autoren
Schulz, Edda G.
Abteilungen
Lise-Meitner-Gruppenleiterin Systems Epigenetics
Zusammenfassung
Anhand der X-Chromosomen und ihrer gezielten Inaktivierung lassen sich verschiedene Erbkrankheiten, aber auch die regulatorischen Zusammenhänge in unserem Genom besser verstehen. Die durch das Gen Xist gesteuerte Stilllegung eines ganzen Chromosoms ist zwar einzigartig und existiert nur bei Säugetieren, seine einzelnen Bestandteile sind es jedoch nicht und treten im Genom vielfach und in ähnlicher Form auf.

Einleitung

Jede Zelle weiblicher Säugetiere besitzt zwei X-Chromosomen. Zu Beginn der Entwicklung exprimieren weibliche Zellen somit die zweifache Dosis an X-chromosomalen Genen. Etwas später wird aber eines der beiden X-Chromosomen zufällig ausgewählt und abgeschaltet.

Für die Inaktivierung ist das Gen Xist (sprich: „exist“) verantwortlich, es liegt auf beiden X-Chromosomen vor. Wird es angeschaltet, entstehen hunderte kleine, nicht kodierende RNAs. Sie hüllen eines der beiden X-Chromosomen ein und reduzieren es zu einem kleinen, weitgehend regelosen Partikel.

Woher weiß die Zelle, ob und wann sie eines von zwei Chromosom abschalten muss? Dieser und anderen Fragen gehen wir mit einem interdisziplinären molekulargenetischen Ansatz nach, der sowohl Einzelzell-Sequenzierung und CRISPR/Cas9-Screenings als auch mathematische Modelle umfasst.

Ein Modell für die Einleitung der X-Inaktivierung durch Xist

Genetische Schaltkreise sind es, die die komplexen Abläufe während der Entwicklung des Embryos steuern. Ähnlich wie ein Computer besitzen Zellen Programme, die sich starten und stoppen lassen. Doch anders als bei einer Maschine aus Kupferbahnen und Halbleitern bestehen deren Schaltungen aus Molekülen, die einander andocken oder erst durch chemische Reaktionen entstehen. Wir wollen den Schaltkreis verstehen, der die X-Inaktivierung startet. Dazu haben wir eine Reihe von möglichen Mechanismen simuliert und experimentell verfolgt. Auf diese Weise haben wir einen Schaltkreis gefunden, der aus zwei Rückkopplungsschleifen besteht [1]. Eine selbstverstärkende Rückkopplungsschleife erinnert die Zelle daran, welches X-Chromosom ausgeschaltet wurde. Die Schleife fungiert als Schalter, der, wenn einmal umgelegt, zur Produktion der Xist-RNA führt.

Eine weitere, negative Rückkopplungsschleife sorgt dafür, dass in der weiblichen Zelle nur eines der beiden X-Chromosomen inaktiviert wird. In männlichen Embryonen verhindert dieselbe Schleife, dass deren einziges X-Chromosomen ausgeschaltet wird.

Der negativen Rückkopplungsschleife liegen Xist-Aktivatoren zugrunde: Proteine, die auf den X-Chromosomen kodiert sind. Nur wenn diese Aktivatoren in doppelter Dosis vorliegen, wie es in Zellen mit zwei X-Chromosomen der Fall ist, kippt der Schalter und ein überzähliges Chromosom wird abgeschaltet. Auf diese Weise bleibt die X-Inaktivierung auf weibliche Embryonen beschränkt. Der Mechanismus verhindert zudem das Abschalten des zweiten X-Chromosoms. Denn sobald eines der beiden Chromosomen und damit auch das darauf befindliche Aktivator-Gen inaktiv ist, fällt ja auch die Dosis der Aktivator-Proteine ab.

Als wir verschiedene Säugetierspezies verglichen, entdeckten wir prinzipiell ähnliche Schaltkreise. Obwohl diese sich auf molekularer Ebene möglicherweise unterscheiden, konnten wir aus den Ergebnissen ein Modell für die Einleitung der X-Inaktivierung bei verschiedenen Säugetierarten aufstellen.

Integration von Signalwegen in der Zelle

In Stammzellen von Mäusen haben wir das Zusammenspiel der einzelnen molekularen Komponenten des Schaltkreises entschlüsselt [2]. Zunächst haben wir einen kleinen Abschnitt innerhalb des Xist-Gens entdeckt, der in zwei verschiedenen Zuständen vorliegen kann. In männlichen Zellen ist dieser Abschnitt chemisch so modifiziert, dass die Aktivierung des Xist-Gens nicht funktioniert. In weiblichen Zellen liegen andere Modifikationen vor, die wiederum eine Aktivierung erlauben.

Der Abschnitt allein reicht aber nicht aus, um die Abschaltung des X-Chromosoms auszulösen. Dazu ist ein weiterer Abschnitt notwendig, den wir mithilfe eines CRISPR-Screens identifiziert und „Xert“ getauft haben. Xert ist eine Enhancer-Region, die von Proteinen gezielt angesteuert wird und daraufhin weitere Gene aktivieren kann. Wir haben gefunden, dass Xert die Aufhebung des Stammzell-Zustandes abfragt und so den Zeitpunkt bestimmt, an dem die X-Inaktivierung startet.

Die Xert-Region ist ähnlich wie die Enhancer anderer Entwicklungsgene weit von ihrem Zielgen entfernt. Wir konnten zeigen, dass sich die DNA zu einer Schlaufe biegen muss, um in Kontakt zum Xist-Gen zu kommen. Mit Xert haben wir einen neuen Schaltkreis im Erbgut von Mäusen identifiziert, der Informationen über das Entwicklungsstadium der Zelle empfängt und an das Xist-Gen weiterleitet. Xert schafft aber nur die Voraussetzung, das Deaktivierungsprogramm des X-Chromosoms anzustoßen. Das Xist-Gen wiederum ist für die Signale von Xert nur dann empfänglich, wenn zwei X-Chromosomen und damit eine doppelte Aktivatoren-Dosis vorliegt. Somit sind zwei Signalwege miteinander verknüpft, die Informationen aus verschiedenen Quellen verrechnen: Einerseits der Entwicklungsstand der Zelle und andererseits die Anzahl der X-Chromosomen.

Das X-Chromosom als Beispiel für Genomregulation

Die Vorgänge bei der X-chromosomalen Inaktivierung stehen stellvertretend für eine Vielzahl von regulatorischen Prozessen, denn im Verlauf der Entwicklung müssen eine Reihe von Genen zu unterschiedlichen Zeitpunkten an- oder abgeschaltet werden. Wenn wir das Netzwerk an Einflussfaktoren verstehen, die auf das X-Chromosom wirken, lernen wir daraus auch die komplexeren regulatorischen Netzwerke in einer sich entwickelnden Zelle kennen. Im nächsten Schritt werden wir die von uns identifizierten Schaltelemente mit quantitativen Methoden untersuchen, um besser zu verstehen, wie Zellen eine “Gendosis” messen können und wie ein solches molekulares Gedächtnis funktioniert.

Die Forschung am X-Chromosom bietet Chancen für das Verständnis geschlechtsspezifischer Entwicklungsstörungen und für die Entwicklung spezifischer Therapien. Frauen mit Turner-Syndrom, die nur ein X-Chromosom besitzen (X0) und Männer mit dem Klinefelter-Syndrom, die neben je einem X- und Y-Chromosom ein zusätzliches X-Chromosom besitzen (XXY), weisen charakteristische genetische X-chromosomale Aktivierungsmuster auf. Dosiseffekte von Chromosomen sehen wir zum Beispiel auch bei Trisomien.

Literaturhinweise

Mutzel, V.; Okamoto, I.; Dunkel, I.; Saitou, M.; Giorgetti, L.; Heard, E.; Schulz, E.G.
A symmetric toggle switch explains the onset of random X inactivation in different mammals
Nature Structural and Molecular Biology 26, 350-360 (2019)
Gjaltema, R.A.F.; Schwämmle, T.; Kautz, P.; Robson, M.; Schöpflin, R.; Lustig, L.R.; Brandenburg, L.; Dunkel, I.; Vechiatto, C.; Ntini, E.; Mutzel, V.; Schmiedel, V., Marsico, A.; Mundlos, S.; Schulz, E.G.
Distal and proximal cis-regulatory elements sense X-chromosomal dosage and developmental state at the Xist locus
Molecular Cell 82, 190-208.e17 (2021)

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