Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik
Eine neue Art, Babysterne zu füttern
Das klassische Bild der Sternentstehung konzentriert sich auf das Material in einem isolierten, dichten Kern einer Wolke aus Gas und Staub, der aufgrund seiner Gravitation kollabiert. Wenn auch nur eine geringe Rotation in diesem dichten Kern vorhanden ist, bildet sich eine zirkumstellare Scheibe als natürliche Folge der Drehimpulserhaltung. In diesem Paradigma wird davon ausgegangen, dass sich das gesamte Material, aus dem Sterne, Scheiben und Planeten entstehen, in diesem dichten Kern befindet. Einer der Vorteile dieses Szenarios ist, dass die Stern- und Scheibenentstehung durch numerische Simulationen in einer isolierten, geschlossenen Box untersucht werden kann, was die Implementierung einer Reihe von physikalischen Prozessen ermöglicht.
Jüngste Beobachtungen haben jedoch gezeigt, dass Molekülwolken meist aus Filamenten bestehen, in denen sich die dichten Kernregionen befinden [1]. Die meisten Kerne entstehen und entwickeln sich also nicht in Isolation. Dieser Paradigmenwechsel bei der Sternentstehung legt nahe, dass wir das Zusammenspiel zwischen dichten Kernen und umgebenden Molekülwolken untersuchen müssen, um unser Verständnis der Stern- und Planetenentstehung zu erweitern..
Entschlüsselung der Sternentstehung mit NOEMA
Das in den französischen Alpen befindliche Northern Extended Millimeter Array (NOEMA) bietet die Möglichkeit, in die dichtesten Regionen von Molekülwolken zu blicken und das dichte Gas zu untersuchen. NOEMA ist eine Anordnung von derzeit elf 15-Meter-Antennen (Abbildung 1). Für unsere Beobachtungen kombinierten wir die Signale aller Teleskope zu einem virtuellen, fast 600 m langen Teleskop, einem sogenannten Interferometer. NOEMA verfügt über technische Fertigkeiten, wie eine extrem große Bandbreite, die es ermöglicht, mehrere unterschiedliche Molekülsorten gleichzeitig beobachten zu können. Damit ist NOEMA die führende Einrichtung zur Untersuchung der Verbindung zwischen dichten Kernen und ihrer Umgebung.
Wir haben einen der jüngsten Sterne in der Perseus-Molekülwolke (eine der nächstgelegenen und am besten untersuchten Sternentstehungsregionen) mit NOEMA beobachtet und dabei mehrere molekulare Übergänge ins Visier genommen. Dank der hohen Empfindlichkeit konnten wir in der inneren, abgeflachten Region des dichten Kerngebiets Verbindungen wie N2H+ und N2D+ nachweisen, die als Moleküle des späten Typs gelten. Dieses Ergebnis stimmt mit dem klassischen Bild eines isolierten dichten Kerns überein.
Überraschenderweise entdeckten wir zudem eine helle, schmale und längliche Struktur (Abbildung 2) an Stellen, an denen der dichte Kern bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Diese Struktur, die wir Streamer nennen, enthält Moleküle wie HC3N und CCS, die als Moleküle des frühen Typs bekannt sind. Sie sind insbesondere dann zu sehen, wenn das Gas noch "frisch" ist, und sie weisen eine ganz andere Struktur auf als der dichte Kern. Dieser Streamer scheint dichte Kerne mit ihrer Umgebung zu verbinden [2].
Fast-Food für einen jungen Stern
Sterne erhalten den größten Teil ihrer Masse in den frühesten Stadien ihrer Entstehung. Es ist daher von entscheidender Bedeutung zu verstehen, wie diese Materie in die zentralen Regionen (von der Größe der Scheibe) gelangt. Dank der gleichzeitigen Beobachtung mehrerer Übergänge desselben Moleküls sind wir in der Lage, zu bestimmen, wie viel Masse im Streamer sichtbar ist und wie schnell diese in die Zentralregion transportiert wird.
Wir modellierten Form und Geschwindigkeit des in Emission sichtbaren Gases und kommen zu dem Schluss, dass das Gas im Streamer im freien Fall zu den zentralen Regionen gelangt. Die Rate, mit der Materie abgegeben wird, ist auf Scheibenskalen größer als in Richtung zum jungen Stern: Es strömt mehr Gas in die Scheibe hinein als von der Scheibe zum Stern.
Dies zeigt, dass Streamer eine neue, bisher unentdeckte Route für den Materietransport darstellen können. Leider sehen wir nur einen Schnappschuss des gesamten Sternentstehungsprozesses. Wir wissen nicht, ob der Streamer eine dauerhafte Struktur über die gesamte Zeitskala der Sternentstehung hinweg ist oder ob es sich um einen ganz besonderen Moment im Leben des Sterns handelt. Daher erweitern wir diese Arbeit auf andere Regionen und junge Sterne, um herauszufinden, wie häufig Streamer während des Sternentstehungsprozesses vorkommen und wie relevant sie tatsächlich sind.
Dieses überraschende Ergebnis demonstriert nicht nur die neuen Möglichkeiten, die NOEMA bietet, sondern unterstreicht auch die Bedeutung der gleichzeitigen Untersuchung vieler Moleküle. Das durch den Streamer gelieferte Material könnte ganz andere chemische und physikalische Eigenschaften haben als der ursprüngliche dichte Kern. Daher könnte der Streamer in der Lage sein, die chemische Zusammensetzung des Materials, das direkt an der Scheiben- und Planetenbildung beteiligt ist, in der Nähe des jungen Sterns zu verändern oder zu beeinflussen.
Ausblick: Neue Wege zur Lieferung von Materie
Ein Streamer, der die Molekülwolke mit der Scheibe verbindet, bietet einen neuen Weg, um Material in die zentrale Region eines Sternentstehungsgebietes zu bringen. Wir führen derzeit mehrere Experimente mit NOEMA durch, um zu untersuchen, wie häufig Streamer auftreten und welche Eigenschaften sie aufweisen. In den nächsten Jahren werden diese Ergebnisse Aufschluss geben über die Rolle der weiteren Umgebung bei entstehenden Sternen, Scheiben und Planeten.