Neue Wege in der theoretischen Teilchenphysik
Mit Cluster-Algebren lassen sich die Prozesse bei Teilchenkollisionen einfacher berechnen
Theoretische Teilchenphysikerinnen und -physiker vergleichen Feynman-Integrale manchmal mit Bestien – wild und unberechenbar. Drei Physikern ist es nun gelungen, die wilden Tiere teilweise zu zähmen, und zwar mit Hilfe der Mathematik. Ihre wissenschaftliche Errungenschaft verspricht Erleichterungen für die theoretischen Berechnungen von Teilchenkollisionen.
“Wir sind einem neuen mathematischen Weg gefolgt, den Cluster-Algebren”, sagt Johannes Henn, einer der Autoren der Publikation. Cluster-Algebren wurden in den frühen 2000er-Jahren entdeckt. Sie bestehen aus Sets von Formeln, den Clustern, die durch bestimmte Regeln miteinander in Verbindung stehen. „Cluster-Algebren sind auch deswegen so spannend, weil sie zahlreiche Verknüpfungen zwischen Mathematik und Physik ermöglichen,“ so Henn.
Gemeinsam mit Dmitry Chicherin (LAPTh Annecy) und Georgios Papathanasiou (Desy Hamburg) hat Johannes Henn frühere Ergebnisse aus einem “toy model”, also einer vereinfachten Theorie, auf eine reale Quantenfeldtheorie übertragen und erstaunliche Parallelen gefunden. “Wir haben entdeckt, dass sich bestimmte Feynman-Integrale, die für die Beschreibung unserer Welt wichtig sind, mit Cluster-Algebren assoziieren lassen. Diese Erkenntnis vereinfacht die Berechnung der Feynman-Integrale”, so Henn.
Was sind Feynman-Integrale?
Mit den Feynman-Integralen berechnet man in der theoretischen Teilchenphysik mögliche Prozesse bei Teilchenkollisionen, wie zum Beispiel die Entstehung von Teilchen oder deren Wechselwirkungen. Diese Prozesse werden durch Feynman-Diagramme veranschaulicht. Die Diagramme sind grafische Darstellungen, eine Art Bildsprache, die für die mathematischen Formeln, die Feynman-Integrale, steht.
Da die möglichen Wechselwirkungen der Teilchen aber ins Unermessliche wachsen können, werden die Feynman-Integrale und damit auch die Feynman-Diagramme immer komplizierter – anders gesagt, unzähmbarer. Und hier kommen die Cluster-Algebren ins Spiel.
Cluster-Algebren grenzen die unendlichen Möglichkeiten ein
Die Wissenschaftler haben entdeckt, dass die Eigenschaften von Cluster-Algebren die möglichen Antworten in der Quantenchromodynamik (QCD) eingrenzen können. Die QCD ist die Quantenfeldtheorie, die die Wechselwirkungen von Quarks und Gluonen, von subatomaren Teilchen, beschreibt. Bei ihrer Arbeit haben sich die Autoren auf Prozesse mit vier Teilchen konzentriert, die zum Beispiel die Entstehung eines Higgs-Bosons und eines Teilchenjets aus der Wechselwirkung von zwei Gluonen beschreiben.
„Es stellte sich heraus, dass sich die relevanten Feynman-Integrale durch sechs Polynome, also Summen von Vielfachen in ihren Bewegungsvariablen, charakterisieren lassen“, sagt Henn. „Mit etwas Detektivarbeit haben wir es geschafft, diese Polynome mit den Clustern einer bestimmten Cluster-Algebra aus dem „toy model“ in Verbindung zu bringen.“ Dieser von den Wissenschaftlern entdeckte Zusammenhang kann die Struktur bisheriger Ergebnisse erklären und gleichzeitig einen neuen Weg in der Theorie ebnen: Zukünftige Rechnungen lassen sich damit vereinfachen und die komplizierten Feynman-Integrale in manchen Fällen sogar komplett umgehen.
Cluster-Algebra-Strukturen wurden im „toy model“ in einer Vielzahl von unterschiedlichen Teilchenprozessen gefunden. Deren gelungene Weiterentwicklung für die QCD wirft für die Wissenschaftler die spannende Frage auf, inwieweit sich ihre Erkenntnisse auf weitere Prozesse bei Teilchenkollisionen übertragen lassen. Damit ließe sich der Weg zu Antworten über die Bausteine unserer Welt verkürzen und gleichzeitig das Verständnis der mathematischen Struktur erweitern.
Diese Forschung wird vom Europäischen Forschungsrat (ERC) im Rahmen des Horizon 2020 Forschungs- und Innovationsprogramms der Europäischen Union unterstützt (grant agreement No. 725110).