Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation

Statistische Physik und moderne Mobilität

Autoren
S. Herminghaus*, L. J. Deutsch, C. Hoffrogge-Lee, M. Patscheke, M. Timme, A. Sorge, N. Molkenthin, N. Beyer, P. Marszal, D. Manik, F. Jung, C. Brügge, J. Simons, M. Schäfer, D. Gebauer, A. Hahn, C. Malzer, F. Maus, W. Frühling, J. Schlüter, V. Chifu, I. Gholami, T. Baig-Meininghaus
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen Abteilung Dynamik komplexer Fluide
Zusammenfassung
Um das Verkehrsaufkommen auf unseren Straßen zu reduzieren, muss die Zahl der Passagiere je Fahrzeug erhöht werden. Dies kann durch Ride-Pooling und durch die Stärkung der Liniendienste geschehen. Mithilfe der Methoden der statistischen Physik haben wir eine Theorie solcher Systeme entwickelt, deren Vorhersagen wir durch Experimente (Pilotprojekte) bestätigen konnten. Wir haben dieses System inzwischen in die Nähe der Marktreife gebracht und streben in naher Zukunft eine kommerzielle Verwertung an mit dem Ziel, die Städte lebenswerter und das Land mobiler zu machen.

Urbanes Leben pulsiert im Takt des Verkehrs, und im ländlichen Bereich spielt Mobilität eine kritische Rolle. Der vorherrschende motorisierte Individualverkehr ist jedoch wegen seines hohen Ressourcenverbrauchs nicht zukunftsfähig. Es müssen deshalb Alternativen zum privaten PKW entwickelt werden. Was aber genau zu tun ist, erschließt sich nur auf der Basis eines übergreifenden Verständnisses von Verkehrsströmungen in verschiedenartigen Umgebungen. Wir nutzen Methoden der statistischen Physik, die sich bereits für ähnliche Kollektive, wie granulare Strömungen oder schwärmendes Plankton, gut bewährt haben. In unserem einfachen Modell gibt es Passagiere und Kleinbusse. Damit haben wir eine statistische Theorie für Ride-Pooling-Systeme entwickelt, wie sie bereits am Mobilitätsmarkt zu finden sind [1]. 

Auf dieser Basis betrachten wir die Marktdynamik, die sich entfaltet, wenn man ein solches Ride-Pooling-System in Konkurrenz zum Privat-PKW ausrollt. Hier finden wir ein interessantes Ergebnis (Abb. 1 links). Die durchgezogene Kurve stellt den Marktanteil dar, der bei einem bestimmten Ticketpreis für einen rentablen Betrieb nötig wäre (break even). Gestrichelt ist die ungefähre zu erwartende Nachfrage dargestellt: Sie fällt auf einen Nischenwert ab, wenn der angebotene Dienst teurer ist als der PKW. Die beiden Kurven schneiden sich fast unweigerlich (in einem sehr großen Parameterbereich) in drei Punkten. Die beiden gefüllten Kreise Q und P repräsentieren stabile Arbeitspunkte der Marktdynamik. Hier strebt das System von alleine hin. Dazwischen liegt der offene Kreis. Dies ist ein instabiler Punkt, von dem die Marktdynamik wegströmt, wie von einem hohen Bergsattel herunter. Der offene Kreis stellt also so etwas wie eine hohe Barriere dar, die zwischen Q und P liegt.

Der Punkt P liegt nun ziemlich genau dort, wo man derzeit alle Ride-Pooling-Systeme findet: Sie bedienen einen kleinen Nischenmarkt bei einem Ticketpreis, der etwa dem Vier- bis Fünffachen der Betriebskosten eines Privat-PKW entspricht. Hier besteht unsere Theorie also ihren ersten Test. Was ist aber mit dem Punkt Q? Hier hätte man den gesamten Markt erobert (Marktanteil 100 % = 1) mit einem Tür-zu-Tür-Transportdienst, der nur einen Bruchteil der Betriebskosten eines PKW kosten muss. Letzteres ist möglich, weil durch das Ride-Pooling die Betriebskosten auf die Passagiere aufgeteilt werden können. Könnte man also den Punkt Q erreichen, wären viele der heutigen Mobilitätsprobleme gelöst.

Freilich existiert dieser Punkt Q nicht unter allen Umständen. Einwohnerzahl und Nachfrage müssen groß genug sein, was sich durch eine Anfragefrequenz-Dichte im Betriebsgebiet ausdrücken lässt. Auch dies kann man mit dem Modell gut berechnen (Abb. 1 rechts). In dem gesamten weiß hinterlegten Bereich existiert der Punkt Q, in dem grau hinterlegten dagegen nicht: Hier würden sich also die beiden Kurven in der linken Abbildung (durchgezogen und gestrichelt) nicht dreimal, sondern nur einmal (in P) schneiden. Für vier verschiedene Regionen sind die zugehörigen Break-even-Arbeitspunkte dargestellt, und zwar sowohl für autonome Kleinbusse (linke Reihe) als auch für Kleinbusse mit Fahrer. Man erkennt die weit verbreitete Meinung der Verkehrsplaner wieder, dass in ländlichen Gebieten (hier: Eichsfeld) kein Ride-Pooling-System rentabel fahren kann (im grauen Bereich liegend). Mit autonomen Fahrzeugen wäre dies allerdings durchaus möglich (weißer Bereich).

Schließlich haben wir unsere theoretischen Ergebnisse in der Praxis getestet. Hierfür  haben wir uns mit den regionalen Genehmigungsbehörden, den Aufgabenträgern, Taxiunternehmen und Verkehrsbetrieben verständigt. Auf diese Weise konnten wir, gefördert durch die EU (EFRE) und das Land Niedersachsen sowie in Zusammenarbeit mit den Aufgabenträgern, zwei Pilotprojekte ausrollen: eines über zwei Monate im Raum Bad Gandersheim  und eines während etwa sieben Monaten im Herbst und Winter im Oberharz. Der Ticketpreis entsprach jeweils dem ÖPNV-Tarif.

Das System, bekanntgeworden unter dem Namen EcoBus, wurde von den Bewohnern sehr gut angenommen. Abb. 2 zeigt die Entwicklung der Nutzerzahlen während der ersten Monate im Oberharz. Jede Farbe entspricht einem der neun Fahrzeuge (Bild rechts), die wir im  Einsatz hatten. Etwas oberhalb von 250 Fahrten pro Tag war die Kapazität unseres Systems erreicht. Es wurden umfangreiche Erkenntnisse über die Akzeptanz eines solchen Transportsystems gewonnen, insbesondere über die Rolle, die der adressgenaue Transport dabei spielt. Die durchschnittliche Zahl der Passagiere pro Kleinbus (Pooling-Rate) entsprach innerhalb der Fehlergrenzen dem, was unsere Theorie vorausgesagt hatte. Demzufolge hätten wir mit der etwa zehnfachen Zahl an Fahrzeugen den gesamten Bedarf an öffentlichem Verkehr im Bediengebiet abdecken können, bei sehr akzeptabler Kostendeckung.

Dies konnte aber noch nicht das Ziel sein, denn die Kleinbusse sind, was die Anzahl der Kunden pro Fahrzeug betrifft, den Liniendiensten noch weit unterlegen und daher auch weniger umweltfreundlich. Was offenbar entstehen muss, ist ein System, das die Liniendienste (für die größeren Distanzen) mit den Kleinbussen (für den adressgenauen Transport) in optimaler Weise „intermodal“ kombiniert und dem Kunden dafür den Kauf von nur einem Ticket abverlangt.

Wir haben daher nach Abschluss der beiden Pilotprojekte das System intermodal weiterentwickelt, sodass es zusätzlich zum Ride-Pooling der Kleinbusse für die „letzte Meile“ die Fahrpläne der im Bediengebiet fahrenden Linien kennt und berücksichtigt. So können adressgenaue Wegeketten (Kleinbus-Linie-Kleinbus) angeboten und trotzdem Kundenwünsche in optimierter Weise kombiniert werden, und es wird ein Tür-zu-Tür-Transport auch unter Einbeziehung der Linien möglich. Letztere werden also nicht mehr „kannibalisiert“, sondern - im Gegenteil - gestärkt.

Auch hier wollten wir es nicht mit Theorie und Softwareentwicklung bewenden lassen. Im Rahmen einer Kooperation mit den Leipziger Verkehrsbetrieben läuft das System seit dem 13.10.2019 in einem Stadtteil im Norden Leipzigs stabil und weitgehend störungsfrei. Wir erwarten, dass wir am Ende dieses Projektes, das u.a. vom BMVI gefördert wird, eine Software haben werden, die die öffentliche Hand in die Lage versetzt, ein preiswertes Tür-zu-Tür-Transportsystem anzubieten. Das soll für die Kunden preiswerter als der Privat-PKW und an Bequemlichkeit vergleichbar sein. Eine entsprechende Ausgründung zur kommerziellen Verwertung befindet sich in Vorbereitung.

Literaturhinweise

Herminghaus, S.
Mean field theory of demand responsive ride pooling systems
Transportation Research A 119, 15 (2019)

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