Diagnostik auf digitalem Fundament

Diagnostik auf digitalem Fundament

Brachydaktylie, Cutis laxa, Kraniosynostose, Marfa-Syndrom - kaum jemand hat je von diesen seltenen Krankheiten gehört. Stefan Mundlos am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik geht mit seinem Team den Ursachen seltener Erkrankungen auf den Grund: Er hat sich auf die Genomanalyse seltener Knochenerkrankungen spezialisiert.

Auch von einem bestens ausgebildeten Kinderarzt können seltene Erkrankungen oft nicht erkannt werden. Eltern, deren Kinder daran leiden, irren oft von Arzt zu Arzt und ernten meist nicht mehr als ein Schulterzucken. So ist eine schnelle Diagnose ausgeschlossen; darüber hinaus sind die meisten seltenen Erkrankungen gar nicht im Abrechnungssystem der Krankenkassen erfasst, und die Therapiemöglichkeiten sind sehr begrenzt. Hilfe von der Industrie können die Betroffenen kaum erwarten – dafür sind die jeweiligen Patientengruppen und der entsprechende Medikamentenmarkt zu klein.

Stefan Mundlos, Forschungsgruppenleiter am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, geht mit seinem Team den Ursachen seltener Erkrankungen auf den Grund: Er hat sich auf die Genomanalyse seltener Knochenerkrankungen spezialisiert. Mithilfe modernster Technologien zur Genomanalyse, wie sie am Berliner Institut zur Verfügung stehen, suchen sie die Gene, die hinter Skeletterkrankungen stecken, und analysieren ihre Funktion. Mit diesem Wissen können neue Behandlungsmöglichkeiten erforscht werden.

Mit der großzügigen Unterstützung der Stiftung "kindness for kids" konnten hier entscheidende erste Schritte unternommen werden. Im Fokus der Arbeit steht die Genomanalyse bei Fehlbildungen der Extremitäten, beim Ondine-Syndrom – eine seltene angeborene Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die mit einer gestörten Atemregulation einhergeht – oder bei quadrupedalem Gang, eine neurologische Störung, durch die sich die Patienten nur auf Händen und Füßen fortbewegen können.

Idealerweise münden Mundlos' wissenschaftliche Projekte in die Praxis – wenn sein Team es geschafft hat, die Ursache einer zuvor rätselhaften seltenen Erkrankung dingfest zu machen, und sie sich fortan über einen neuen genetischen Test nachweisen lässt. Täglich sehen medizinsche Fachleute seltene Krankheitsbilder, die sich in manchen Merkmalen und Symptomen gleichen, in anderen unterscheiden. Täglich laufen Blutproben und Akten von Erkrankten aus aller Welt ein. Mittlerweile haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Kollektion von Krankheiten gesammelt, die sie systematisch erfassen. So lassen sich aus allen beschriebenen Krankheitsmustern bestimmte "Phänotypen" ableiten, wie Genetiker sagen.

Die Gruppe arbeitet eng mit dem Institute for Medical and Human Genetics (IMG) an der Berliner Charité zusammen, ebenso mit dem Berlin-Brandenburg Center for Regenerative Medicine (BCRT). Die Wissenschaftler speisen ein Computerprogramm mit den ständig wachsenden Informationen über seltene Erkrankungen. Das Programm vernetzt verschiedene Symptome und ordnet sie schließlich jenen ähnlichen Fällen zu, die andernorts einem Kollegen in der Praxis begegnet sind. Es kann Querverbindungen herstellen und speichert Daten über die zugrunde liegenden genetischen Mutationen und molekularen Mechanismen. Die Intelligenz dieses Programms wächst mit der Masse der Daten, die zunehmend präzisere Diagnosen ermöglichen. Die Diagnostik seltener Erkrankungen wird so auf ein modernes, den digitalen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts angemessenes Fundament gestellt.

„Die Ursache zu kennen bedeutet für die betroffenen Eltern etwas Erlösendes“, sagt Stefan Mundlos. In den Sprechstunden der Charité wird er mit der bohrenden Frage konfrontiert, ob auch ein nächstes Kind betroffen sein könnte – oder die Enkel. Und falls ja: mit welcher Wahrscheinlichkeit? „Eine richtige Diagnose ist zentral“, erklärt der Pädiater, „ohne Diagnose keine Prognose und keine Therapieentwicklung.“ Das Problem: Für viele seltene Erkrankungen sind aufgrund der erst jüngst anlaufenden Erforschung noch keine Diagnosen möglich, weil ein entsprechender genetischer Test fehlt.

Bild: MPI für evolutionäre Anthropologie

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