Entwicklungsgeschichte im neuen Licht
Der Neandertaler lebt - in uns! Durch die Entwicklung modernster Untersuchungsmethoden konnten Svante Pääbo und sein Team nachweisen, dass Reste der archaischen DNA noch heute im modernen Menschen zu finden sind: Rund zwei Prozent unseres Genoms stammen vom Neandertaler.
Lange glaubte die Wissenschaft, diese Spezies sei ausgestorben und der moderne Mensch habe nichts mit ihm zu tun. Noch 2004 sahen die Fachleute um Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, keine Anhaltspunkte für einen signifikanten Genfluss vom Neandertaler zum modernen Homo sapiens. Doch durch die Entwicklung modernster Untersuchungsmethoden konnten Pääbo und sein Team schließlich doch nachweisen, dass Reste der archaischen DNA heute noch im modernen Menschen zu finden sind: Rund zwei Prozent unseres Genoms stammen vom Neandertaler. Durch Vergleiche mit dem Genom heutiger Menschen kommen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler immer mehr hinter die Geheimnisse von Anpassung und Entwicklung.
Da Asiaten sogar noch einen etwas höheren Anteil von Neandertaler-Genen haben, soll die erfolgreiche Forschung der Leipziger nun nach Asien ausgeweitet werden. Dabei hilft wieder die Max-Planck-Förderstiftung: Svante Pääbo und sein Team wollen die von ihnen entwickelte Technologie und Methodik auf Fossilien anwenden, die in China gefunden und in einer Sammlung der Chinesischen Akademie der Wissenschaften erfasst worden sind. Fundamentalte Fragen zur Entwicklung von Mensch und Tier in China und in ganz Asien stehen dabei im Zentrum. Wie ist die paläolithische Bevölkerung Chinas mit der im restlichen eurasischen Raum verwandt? Wie hat sich der Ackerbau in China verbreitet? Welchen Weg nahmen die Wanderungsströme zwischen Ost- und Westeuropa? Wie verlief die biologische Anpassung in China zu den Umweltfaktoren? Wie entwickelten sich die inzwischen ausgestorbenen Arten von Menschenaffen und andere Wirbeltiere?
Auf DNA-Spurensuche.
Begonnen hat dies alles in den frühen 1980er Jahren mit einer 2.400 Jahre alten ägyptischen Kindermumie. Der damalige Doktorand Svante Pääbo schlug sich mit dem Problem herum, deren DNA zu extrahieren – ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Nur ein winziger Anteil der der DNA in einem Knochenfragment ist alt, manchmal weniger als 0,1 Prozent. Der Rest stammt von Bakterien und Pilzen, außerdem zerfällt der DNA-Strang mit der Zeit in kleine Stücke, und manche Bausteine des Erbguts wandeln sich chemisch um. Auch ist die Gefahr sehr groß, dass die Probe bei jedem Kontakt mit "moderner" DNA verunreinigt wird. Mit seiner Neugier und großer Ausdauer überwand Pääbo diese Hindernisse und entwickelte in nächtlicher Arbeit eine Methode, durch die menschliche DNA aus grauer Vorzeit extrahiert und entschlüsselt werden kann. Damit begründete er das neue Forschungsfeld der Paläontologie und schaffte es mit seiner Entdeckung auf die Titelseite von Nature.
Pääbo ist längst der Star der Szene, und um ihn herum hat er am Max-Planck-Institut ein erfahrenes Team herausgebildet, das die Analysetechniken verfeinert und weitere Methoden der Paläogenetik entwickelt hat. Sie konnten die DNA vieler ausgestorbener Tiere wie Mammuts, Riesenfaultiere und Moas sequenzieren. Den Durchbruch brachte die "Next Generation Sequency"-Technologie, mit deren Hilfe bis zu hunderte Millionen Gen-Sequenzen gleichzeitig und hochgradig automatisiert ausgelesen werden können. Dies ist auch bei sehr alter, stark fragmentierter DNA effektiv möglich. Damit fiel der Startschuss für ein ehrgeiziges Projekt: Die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms. Vier Jahre später hatten Pääbo und sein Team es geschafft. Sie konnten in der Zeitschrift Nature einen ersten Entwurf der Gensequenz unseres vor rund 40.000 Jahren vermeintlich verschwundenen Verwandten präsentieren. Der Entwurf basierte auf der Analyse von mehr als einer Milliarde DNA-Fragmenten aus mehreren Neandertaler-Knochen. Außerdem sequenzierten die Wissenschaftler fünf menschliche Genome europäischer, asiatischer und afrikanischer Abstammung und verglichen diese mit dem Neandertaler. Das förderte Erstaunliches zutage: In den Genomen aller außerhalb Afrikas lebender Menschen befanden sich Spuren vom Neandertaler. Als unsere Vorfahren also in dem Zeitraum von vor rund 80.000 bis 50.000 Jahren den afrikanischen Kontinent verließen und sich in Europa und Asien verbreiteten, stießen sie auf die Neandertaler und die beiden Arten kreuzten sich offenbar – was heute noch im Genom erkennbar ist.
Die Vergleiche zeigen, wie eine sich ständig wandelnde Umwelt den Menschen zwingt, sich anzupassen und zu verändern. So wurden die meisten schädlichen Neandertaler-Gene durch Selektion aussortiert, nützliche dagegen setzten sich in der menschlichen Population fest. Wahrscheinlich haben unsere Vorfahren ihre weiße Hautfarbe von den Neandertalern geerbt. Andere uralte Gensequenzen kodieren für bestimmte Immunrezeptoren und verringern die Neigung zu Magengeschwüren. Einige Neandertaler-Gene, die heutige Menschen in sich tragen, erhöhen das Risiko, an Diabetes mellitus Typ 2 oder Morbus Crohn zu erkranken. Während der Neandertaler noch "Schimpansen-ähnliche" Genvarianten besitzt, tragen die modernen Menschen an derselben Stelle abgeleitete Varianten.
"Genau diese Bereiche unseres Genoms können entscheidend zur Entwicklung des modernen Menschen beigetragen haben, weil wir hier sehr früh in unserer evolutionären Geschichte besonders vorteilhafte Mutationen erworben haben", vermutet Pääbo. Ihm selbst hat die Forschung neben fundamentalen Erkenntnissen auch viel Ehre eingebracht: Er ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Vereinigungen wie der Leopoldina und der American Academy of Arts and Sciences, und die Liste seiner Auszeichnungen reicht vom renommierten Leibniz-Preis über die Darwin-Plakette, die Lomossow-Goldmedaille bis zum Breakthrough Prize in Life Sciences. Weitere Erkenntnisse und weitere Ehrungen sind zu erwarten.