Wie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamik vorantreiben
Im Herbst 2008 erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt: Der Markt für verbriefte Wertpapiere US-amerikanischer Hypothekendarlehen implodierte. Anleger, die in die vermeintlich sicheren Papiere investiert hatten, sahen sich plötzlich mit riesigen Verlusten konfrontiert. Die notwendigen Wertberichtigungen und fällige Zahlungen aus Kreditversicherungen brachten das Finanzsystem in kürzester Zeit an den Rand des Kollapses. Warum hatten Investoren und Ökonomen die Vorzeichen der dann einsetzenden weltweiten Finanzkrise nicht erkannt? Märkte sind nicht effizient. Die Rationalitätsannahmen der ökonomischen Theorie scheitern an der komplexen Wirklichkeit der Wirtschaft. Erwartungen lassen sich nicht als rational verstehen, sondern sind kontingente Imaginationen der Zukunft. Solche „fiktionalen“ Erwartungen spielen eine zentrale Rolle für Entscheidungen und für die wirtschaftliche Dynamik, behauptet Jens Beckert.
Seit dem Herbst 2008 ist die Analyse der Ursachen und Konsequenzen der Finanzkrise ein wichtiges Thema in den Sozialwissenschaften. Jenseits der Frage nach regulatorischen Reformen hat die Finanzkrise für die sozialwissenschaftliche Forschung eine weitere Diskussion eröffnet, die sich in einer einfachen Frage zusammenfassen lässt: Wie lassen sich Erwartungen in der Wirtschaft verstehen?
Investoren hatten sich Anfang der 2000er-Jahre für den Kauf von Hypothekenanleihen in der Erwartung einer risikoarmen Verzinsung ihres Kapitals entschieden. Grundlage dieser Erwartungen waren das Rating der Finanzinstrumente und optimistische Einschätzungen der Entwicklung des US-amerikanischen Immobilienmarktes. Im Jahr 2008 dann veränderten sich die Erwartungen schlagartig vor dem Hintergrund sinkender Immobilienpreise in den USA. Keiner der Akteure glaubte noch an die Sicherheit der Derivate, alle wollten gleichzeitig verkaufen.
Die Zukunft ist nicht kalkulierbar
In beiden Situationen – beim Kauf und beim Verkauf – beruhten die Entscheidungen der Investoren auf ihren Annahmen über eine zukünftige Entwicklung. Klar ist: Solche Erwartungen sind von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidungen von Wirtschaftsakteuren und damit für die Wirtschaftsentwicklung, sowohl für Wachstum als auch für Krisen. Doch worauf beruhen sie, und wie verändern sie sich?
Die zentrale Antwort der Wirtschaftswissenschaften lautet: Erwartungen basieren auf der Analyse aller vorhandenen Informationen, einschließlich der Voraussagen bezüglich der Entwicklung der wichtigen Indikatoren der Wirtschaftsentwicklung, und sie sind im Aggregat zutreffend. Auch wenn es individuelle Fehler gibt, die Wirtschaft konvergiert bei dem korrekten Modell der Zukunft. Der Marktpreis ist somit immer der effiziente Preis. Wenn dem so ist: Wie kamen die Investoren zu den Überzeugungen, auf deren Grundlage sie die verbrieften Hypothekenanleihen kauften, deren Wert später ins Bodenlose sank? Es scheint, dass die vermeintlich sichere Investition auf einer Fiktion beruhte, die durch rhetorische Mittel und institutionelle Signale glaubhaft gemacht wurde.
Soziologen und Verhaltensökonomen zweifeln die Rationalitätsannahmen der ökonomischen Theorie seit Langem an. Akteure beziehen längst nicht alle verfügbaren Informationen in ihre Überlegungen ein, sie sind in ihren Entscheidungen durch den sozialen, kulturellen und institutionellen Kontext beeinflusst und sie machen Entscheidungsfehler, die sich auf starre Denkschemata zurückführen lassen. In einer dynamischen Ökonomie sind zukünftige Entwicklungen zudem prinzipiell nicht vorauszuberechnen. Erwartungen lassen sich somit nicht einfach als rational verstehen, Entscheidungen nicht als ausschließlich auf determinierten Kalkulationen beruhend.
Dies gilt umso mehr für die turbulenten Umwelten moderner kapitalistischer Ökonomien, in denen zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen in hohem Maße offen und damit ungewiss sind. Unsere Gegenwart liefert überzeugende Beispiele hierfür: Wer hätte noch vor wenigen Jahren mit einer solch herausragenden Bedeutung von Smartphones für die Entwicklung der gesamten Ökonomie gerechnet? Wer weiß, ob es in drei Jahren den Euro als gemeinschaftliche Währung noch geben wird? Wer kann sagen, wie sich der Aktienmarkt in zwölf Monaten entwickelt? Antworten auf diese Fragen lassen sich nicht eindeutig aus ökonomischen Modellen herleiten. Doch trotz der Offenheit und Unkalkulierbarkeit der Zukunft müssen Wirtschaftsakteure Entscheidungen treffen. Und diese Entscheidungen hängen von den Zukunftsprojektionen ab, mit denen die Wahl einer Alternative gerechtfertigt wird.
Handeln als ob
Erwartungen unter Bedingungen von Ungewissheit lassen sich als fiktional bezeichnen. Fiktional meint hier nicht, dass die Vorstellungen per se falsch wären; sie lassen sich nur nicht empirisch verifizieren, zumindest solange die Zukunft noch nicht zur Gegenwart geworden ist. Die gegenwärtigen Vorstellungen von Akteuren hinsichtlich zukünftiger Zustände der Welt sind in dem Sinn fiktional, dass sie eine neue, eigene Realität schaffen. Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit beruhen auf Imaginationen und Projektionen, von deren Richtigkeit die Akteure überzeugt sind. Solche fiktionalen Erwartungen sind von enormer Bedeutung, denn sie geben Orientierung in Entscheidungsprozessen – und zwar trotz der Unmöglichkeit, zukünftige Entwicklungen tatsächlich vorauszusehen. Akteure handeln, als ob sich die Zukunft in der angenommenen Weise entfalten würde. Erwartungen sind somit Platzhalter im Entscheidungsprozess, mit deren Hilfe sich über die im Augenblick der Entscheidung herrschende Unkenntnis der tatsächlichen Entwicklung hinwegsehen lässt.
Der Begriff der fiktionalen Erwartung schließt an die Analyse von fiktionalen Texten in den Literaturwissenschaften an. Denn fiktionale Texte sind – wenngleich mit erheblichen Unterschieden – ebenfalls dadurch charakterisiert, dass die Autorin oder der Autor eine erdachte Wirklichkeit beschreibt. In Form von Geschichten, als Stories, werden fiktionale Erwartungen auch in der Wirtschaft kommuniziert und entfalten dort ihre Wirkung.
Ein Beispiel: Im November 2011 strahlte der amerikanische Fernsehsender CNBC ein Interview mit dem einflussreichen Rohstoffinvestor Jim Rogers zur Frage der weiteren Goldpreisentwicklung aus. Rogers prognostizierte, dass der Goldpreis, der damals bei etwa 1.700 Dollar pro Unze stand, langfristig und nach auch möglichen Kursverlusten auf 2.000 Dollar steigen, dann aber im Verlauf des noch Jahre anhaltenden Bullenmarktes 2.400 Dollar erreichen würde. Allerdings gab er keine konkrete Zeitspanne für diese erwartete Entwicklung an. Die britische Großbank HSBC erwartete zu dem Zeitpunkt für 2012 einen Anstieg des Goldpreises auf durchschnittlich 2.025 US-Dollar. Gold sollte also ein lukratives Investment sein. Solche Aussagen wiederholen sich täglich in der Finanzpresse, sie sind Teil unseres Alltags. Immer sind solche Prognosen mit Geschichten verbunden, die die erwartete Zukunft als glaubwürdige Entwicklung erscheinen lassen. Beim Goldpreis ist dies häufig die Geschichte vom Gold als Krisenwährung.
Es lohnt sich, solche Voraussagen genauer zu betrachten. Es werden Behauptungen über einen zukünftigen Zustand der Welt aufgestellt, von dessen Eintreffen die Akteure überzeugt sind. Die Aussage eines steigenden oder sinkenden Goldpreises ist ex ante jedoch empirisch nicht validierbar. Vielmehr handelt es sich um die Vorspiegelung eines möglichen Ereignisses, die dazu motivieren soll, so zu handeln als ob der Goldpreis sich in die vorhergesagte Richtung verändern würde. In diesem Sinn sind die Aussagen fiktional.
Abbildung 1 zeigt, dass die Voraussagen eines steigenden Goldpreises im Jahr 2012 schließlich nicht eintraten. Statt zu steigen, fiel der Goldpreis seit der Prognose. Doch geht es nicht darum, rechthaberisch auf nur post festum erkennbare Fehleinschätzungen hinzuweisen, sondern systematisch die Rolle solcher imaginierten Zukünfte für wirtschaftliche Entscheidungsprozesse und die Wirtschaftsentwicklung insgesamt zu erfassen. Durch fiktionale Erwartungen werden Begründungen für Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit geschaffen. Solche Begründungen sind notwendig, damit Entscheidungen nicht beliebig erscheinen, um Entscheidungen zu koordinieren und um Innovationen voranzutreiben. Fiktionale Erwartungen motivieren wirtschaftliches Handeln, dessen Richtigkeit sich erst später herausstellt, und tragen dadurch zur Dynamik der Wirtschaft bei.
Erwartungen als Motor der Zukunft
Entscheidungen sind demnach nicht durch ökonomische Kalkulation determiniert, sondern sie beruhen auf kontingenten, also auf immer auch anders möglichen Erwartungen. Die Erzählung über eine bestimmte erwartete zukünftige wirtschaftliche Entwicklung könnte immer auch eine andere sein. Daraus ergeben sich zwei für die sozialwissenschaftliche Forschung wichtige Konsequenzen.
Zum einen muss man mit einer „Politik der Erwartungen“ rechnen. Das heißt, die im Feld der Wirtschaft geäußerten Erwartungen sind nicht interessenunabhängig geäußerte richtige Einschätzungen, sondern sind selbst Mittel, mit denen sich wirtschaftliche Interessen verfolgen lassen. Voraussetzung ist die Glaubwürdigkeit der Erzählung.
Dies mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, doch ist der Wettbewerb um Erwartungen tatsächlich einer der bedeutendsten und zugleich am wenigsten erforschten Aspekte wirtschaftlicher Konkurrenz. Man denke etwa an das Werben von Start-up-Unternehmen um das Interesse von Risikokapitalgebern. Mit angenommenen Zahlen und einer Geschichte müssen letztere überzeugt werden, dass das noch unfertige Produkt tatsächlich eine Marktchance hat. Hierfür müssen die Jungunternehmer eine erfolgreiche Zukunft glaubwürdig erzählen können. Oder man denke an Konsumenten, deren Kaufbereitschaft für ein neues Smartphone durch die Erzeugung von Erwartungen an das neue Produkt geschaffen wird. Die Marketingindustrie ist mit nichts anderem beschäftigt als mit der Erzeugung und Stabilisierung fiktionaler Erwartungen.
Zum anderen lässt sich die Zukunft zwar nicht voraussehen, doch können Erwartungen und die Handlungen, die sie auslösen, bestimmte Entwicklungen überhaupt erst hervorrufen. In diesem Sinn können Erwartungen performativ sein. Ein Beispiel hierfür sind technologische Innovationen. Niemand kann am Beginn des Innovationsprozesses vorhersehen, ob eine Innovation im technischen Sinn gelingt und dann auch noch am Markt erfolgreich sein wird. Doch, wenn überhaupt, kann die vorgestellte technologische Zukunft nur mithilfe der durch fiktionale Erwartungen motivierten Investitionen je Realität werden. Ohne eine glaubwürdige Fiktion am Anfang käme es nicht zu den notwendigen Investitionen und wir könnten nie herausfinden, ob die vorgestellte Zukunft möglich ist.
Ein verändertes Verständnis ökonomischer Prozesse
Über Finanzmärkte hinaus sind fiktionale Erwartungen relevant für wohl sämtliche Bereiche der Wirtschaft: Kapitalinvestitionen, Investitionen in Humankapital, den Konsum, Innovationsprozesse und das Funktionieren des Geldes. Sie sind ein in der Forschung bislang kaum wahrgenommener Schlüssel zum Verständnis wirtschaftlicher Dynamik. Es sind die Vorstellungswelten der Akteure, die Investitionsströme lenken und das Moment der Kreativität in die Ökonomie einbringen, ebenso wie neue Unsicherheit. Wirtschaftliche Dynamik wird auch durch die menschliche Fähigkeit vorangetrieben, sich eine Welt vorzustellen, die anders ist als die jeweils gegebene. Dies gibt Raum nicht nur für interessante empirische Projekte wirtschaftssoziologischer Forschung, sondern eröffnet auch ein fruchtbares Paradigma in den Sozialwissenschaften, in dem die Erwartungen der Akteure im Mittelpunkt stehen. „The future matters“: Nicht nur die Vergangenheit ist relevant für die Erklärung sozialen Handelns, sondern auch die Vorstellungen von der Zukunft.
Die Hinwendung zu fiktionalen Erwartungen und den Narrativen, mit denen Glaubwürdigkeit für bestimmte Erwartungen zukünftiger Entwicklung geschaffen wird, führt auch zu einer veränderten Analyse ökonomischer Prozesse. Im Mittelpunkt stehen die Bedeutungen, die wirtschaftliche Güter und Prozesse durch ihre Interpretation erlangen. Daran schließt sich die Frage an, wie solche Bedeutungen erzeugt, stabilisiert und verändert werden. Wenn Erwartungen fiktional sind, gibt es kein allein auf Kalkulation beruhendes Handeln in der Wirtschaft und eine Wissenschaft der Ökonomie folgt eher dem Modell der Hermeneutik als dem der Naturwissenschaften.