Forscher entschlüsseln Grundlagen bislang unheilbarer Leukämie bei Kindern

Detaillierte molekulare Untersuchungen erlauben neue Einblicke in die Funktion von Tumorzellen und eröffnen neue Therapiemöglichkeiten

27. Juli 2015

Die Akute Lymphoblastische Leukämie (ALL) ist die häufigste Krebsart bei Kindern. Sie kann in verschiedenen Formen auftreten, die sich durch unterschiedliche Veränderungen im Erbmaterial der Krebszellen voneinander unterscheiden. Einem internationalen Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Berlin, Düsseldorf, Hannover, Heidelberg, Kiel und Zürich ist es jetzt gelungen, die molekularen Eigenschaften einer bislang als unheilbar geltenden Form dieses Blutkrebses zu entschlüsseln und damit Ansätze für neue Therapiemöglichkeiten zu eröffnen. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Nature Genetics berichten die Forscher über ihre Ergebnisse.

Die Akute Lymphoblastische Leukämie (ALL) kann in verschiedenen Formen auftreten, die sich durch unterschiedliche Veränderungen im Erbmaterial der Leukämiezellen und in ihrer Reaktion auf verschiedene Therapien voneinander unterscheiden. Dank intensiver Forschung haben sich die Überlebenschancen für Kinder mit ALL in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verbessert, leider kann ein Teil jedoch immer noch nicht erfolgreich behandelt werden.

Besonders ungünstig ist eine spezielle, sehr agressive Form der Leukämie, die durch eine t(17;19)-chromosomale Translokation gekennzeichnet ist. Dieser Defekt entsteht durch Bruch und fehlerhafte Neuverknüpfung des Erbmaterials des Tumors und führt zur Bildung eines neuen onkogenen Proteins, das jeweils von Teilen der Gene TCF3 und HLF kodiert wird (TCF3-HLF-positive Leukämiezellen). Bislang war nicht klar, warum diese spezifische Form der Leukämie im Gegensatz zu anderen ALL-Formen nicht auf Therapieversuche anspricht. Ziel einer internationalen Gruppe von Klinikern und Grundlagenforschern verschiedener Universitäten und Institute unter Beteiligung des Berliner Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik (Abteilung Analyse des Vertebratengenoms, Hans Lehrach, Gruppe Marie-Laure Yaspo) war es daher, die molekularen Unterschiede zu identifizieren, die für die fehlende Reaktion des t(17;19)-Subtyps auf Behandlungsversuche verantwortlich sein könnten.

Zu diesem Zweck haben die Wissenschaftler nun nicht nur das Genom dieses bislang unheilbaren Subtyps der ALL entschlüsselt und mit komplexen bioinformatorischen Methoden analysiert, sondern auch das Transkriptom, also diejenigen Bereiche des Erbmaterials, die in den Tumorzellen in RNA übersetzt werden. Sie fanden heraus, dass zusätzlich zu den zwei bereits bekannten fehlerhaft zusammengelagerten Genen noch andere DNA-Bereiche charakteristisch verändert sind. Änderungen wurden aber nicht nur auf der Ebene des Erbmaterials (DNA) des Tumors gefunden. Die Entschlüsselung der sogenannten Expressionsprofile der Krebszellen (RNAseq), die vor allem von der Berliner Arbeitsgruppe unter Leitung von Marie-Laure Yaspo durchgeführt worden ist, lieferte wichtige neue Erkenntnisse über die Krankheitsmechanismen und Ansatzpunkte für gezielte Therapien. „Die Expressionsprofile zeigen uns die tatsächlich vorhandene Menge an Boten-RNA (mRNA) in den Zellen. Sie sagen uns also, welche Gene in den Leukämiezellen wirklich aktiv und damit am Krankheitsgeschehen beteiligt sind“, erklärt Yaspo.

In den untersuchten Leukämiezellen konnten die Forscher die Aktivität von fehlerhaft exprimierten Genen sowie spezifisch aktivierte Gennetzwerke nachweisen, welche die Entwicklung bestimmter Abwehrzellen des Blutes, der sogenannten B-Lymphozyten, steuern und das Zellwachstum fördern. Das Zusammenspiel der fehlerhaften Fusion von TCF3 und HLF und der Änderungen der Expression bestimmter Gene führt zu einer bislang nicht beobachteten Rückentwicklung der Leukämiezellen auf eine sehr frühe, stammzellartige Entwicklungsstufe. Das Aussehen, das heißt, die äußere Erscheinung der Zellen ist dabei allerdings nicht verändert. “Diese Erkenntnisse wären nicht möglich ohne die Analyse der Genexpression, also der RNA-Botenmoleküle, die in den Tumorzellen gebildet werden. Diese wichtige Technik erlaubt uns nicht nur ein tieferes Verständnis des genetischen Programms, das das Verhalten der Tumorzellen steuert, sondern kann uns auch Informationen über neue Therapiemöglichkeiten liefern”, so Yaspo.

Für weitergehende Untersuchungen haben Forscher unter der Leitung von Jean-Pierre Bourquin am universitären Kinderspital in Zürich Leukämiezellen von erkrankten Kindern in Mäuse transplantiert; Wissenschaftler bezeichnen dies als ein „humanisiertes Mausmodell“. Dieses ermöglicht es, Leukämien wie die ALL unter sehr ähnlichen Bedingungen wie im Menschen zu erforschen. Die Wissenschaftler des Konsortiums konnten nachweisen, dass die in der Maus wachsenden menschlichen Leukämiezellen nicht nur die massgeblichen genetischen Veränderungen, sondern auch das Expressionsprofil des Tumors behalten. Die Zellen verhalten sich also in der Maus sehr ähnlich wie im Menschen. Sie bilden damit eine wirklichkeitsnahe Möglichkeit, neue Therapien patientenorientiert zu prüfen.

Mithilfe der Mausmodelle hat die Züricher Forschungsgruppe fast hundert neuartige Medikamente getestet, von denen einige eine starke Wirkung auf TCF3-HLF-positive Leukämiezellen gezeigt haben. Ein Beispiel dafür ist das Medikament Venetoclax, das sich spezifisch gegen das für den programmierten Zelltod relevante Protein BCL2 richtet und bereits bei anderen Krebsarten Wirkung gezeigt hat. Im Mausmodell führte Venetoclax zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankung, gefolgt von langanhaltenden Phasen ohne Krankheitszeichen, wenn es zusammen mit einer herkömmlichen Chemotherapie für Leukämien verabreicht wurde.

Die Ergebnisse dieser Studie zeigen das große Potential von koordinierten, interdisziplinären Forschungsansätzen unter Einbezug neuester technologischer Möglichkeiten für die Krebsforschung. An dem Projekt zu gleichen Teilen Forscherteams unter der Leitung von Jean-Pierre Bourquin, Universitätskinderspital Zürich, Martin Stanulla, Medizinische Hochschule Hannover, Arndt Borkhardt, Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, Jan Korbel, Europäisches Molekularbiologisches Laboratorium (EMBL) in Heidelberg, Andre Franke, Christian-Albrechts-Universität Kiel, und Marie-Laure Yaspo, Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin, beteiligt. Gefördert wurde das Verbundprojekt durch das Bundesamt für Strahlenschutz im Rahmen des Umweltforschungsprogramms des Bundesumweltministeriums sowie den Schweizerischen Nationalfonds (SNF).

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