Leben ohne Ballast
Zellen haben in der Evolution viel unnützen Ballast angesammelt. Viele Abläufe sind möglicherweise komplizierter, als sie es eigentlich sein müssten. Petra Schwille vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried will deshalb wissen, was eine Zelle an Minimalausstattung zum Leben benötigt. Konzentration auf das Wesentliche ist für die Biophysikerin auch der Weg, um die Balance zwischen Beruf und Familie zu finden.
Text: Catarina Pietschmann
Ihr kleines Eckbüro ist vollgestopft mit Büchern und Journalen. Auf dem Schreibtisch nichts Persönliches. Nichts, was den Blick auf die Forschung verstellen könnte. Nur im Vorraum zwei großformatige Fotos: das Elbsandsteingebirge, malerisch im Herbstnebel – Erinnerung an Dresden, an Wanderungen. Als leidenschaftliche Kletterin vermisst sie diese besonders. Ihr neuer Arbeitsplatz liegt zwar in Sichtweite der Alpen, Zeit für ausgedehnte Klettertouren hatte sie bisher aber noch nicht. Denn Petra Schwille forscht erst seit dem Sommer 2012 am Max-Planck-Institut für Biochemie auf dem Campus Martinsried am südlichen Stadtrand von München.
Wer die kleine zierliche Frau nicht kennt, könnte sie leicht mit einer ihrer Mitarbeiterinnen verwechseln: Jeans, T-Shirt, gestreifte Bluse. Einziger Schmuck: ihr offenes, freundliches Lächeln. Petra Schwille spricht schnell und konzentriert, als hätte sie keine Zeit zu verlieren. Dabei hat sie schon viel erreicht. Sie hat bei einem Nobelpreisträger ihre Doktorarbeit geschrieben, wurde mit 34 Jahren Professorin, bekam anschließend drei Töchter und diverse hochrangige Forschungspreise, darunter 2010 den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Nun ist sie Direktorin der Abteilung „Zelluläre und molekulare Biophysik“ am Martinsrieder Max-Planck-Institut.
Ein Baukasten für maßgeschneiderte Zellen
Petra Schwille verfolgt ein großes Projekt: Sie will künstliche Zellen entwickeln. Genau genommen einen Baukasten, aus dem sich Zellen für jeden beliebigen Zweck maßschneidern lassen. Wenn das gelingt, wäre es ein Meilenstein für die Zellbiologie, die Biotechnologie und vielleicht auch die Medizin. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Wie hatte sie eigentlich diese Idee – als Physikerin? Und wie kam sie zur Physik?
Ihr ursprünglicher Berufswunsch war es jedenfalls nicht, eher eine Trotzreaktion. Geboren in Sindelfingen, wuchs Petra Schwille nahe Stuttgart und später in der Nähe von Heilbronn auf. Als Kind von Tieren fasziniert, interessierte sie das Schulfach Biologie später wenig. „Naturwissenschaftliche Zusammenhänge habe ich akzeptiert und gelernt, aber nicht hinterfragt.“
Als Leistungskurse wählte sie Physik und Mathe. „Superbequeme Fächer“, da hatte sie gute Noten. Chemikerin zu werden kam gar nicht infrage. „Das war verbaut, weil mein Vater Chemiker in der Industrie war.“ Blieb nur Physik – das einzige Fach, das ihr Vater richtig schwer fand. Eine Vatertochter? „Absolut“, sagt sie. „Es ging im Grunde darum, ihm zu zeigen: Ich kann das!“
Doch kaum eingeschrieben an der Uni Stuttgart, lag ihr die Physik bereits quer im Magen. Sie war Spitzennoten gewohnt, aber hier nicht so gut wie gehofft. „Da gab es Leute, die schoben im Kopf die Integrale nur so hin und her.“ Sie nicht. Eine große theoretische Physikerin – weniger kam nicht infrage – würde wohl nicht aus ihr werden.
Von der Studienberatung in Göttingen erfuhr sie, dass es dort ein Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie gab. „Und dass hier ein Herr Eigen forscht.“ Manfred Eigen, der erste deutsche Nobelpreisträger nach dem Zweiten Weltkrieg. Die ganze Kindheit über hatte der Vater ihr von diesem Mann vorgeschwärmt. Sie wechselte nach Göttingen.
Der Plan: eine Doktorarbeit in Wissenschaftstheorie
Dort traf sie bald einen Studenten der evangelischen Theologie, der in ihrem Leben ebenfalls eine wichtige Rolle spielen sollte. „Mit Religion hatte ich nicht viel am Hut. Aber über Philosophie konnten wir uns gut unterhalten.“ Sie wurden ein Paar, und Petra Schwille saß nun auch im Hörsaal der Philosophischen Fakultät, im Hauptseminar „Kritik der reinen Vernunft“. Während sie in den Physikvorlesungen schnell die Lust verlor, blieb sie bei Immanuel Kant von Anfang bis Ende dran, folgte gebannt, war gefordert zu hinterfragen. „Das hat mich richtig interessiert.“
Ihre Diplomarbeit schrieb sie am Institut für Medizinische Physik. Und nachmittags ging sie über die Straße zu den Philosophen, um Vorlesungen zu hören. Sie plante sogar, in Philosophie zu promovieren – über Wissenschaftstheorie. Es scheiterte letztlich nur an einer fehlenden Stelle.
Aber da war ja noch der Held ihres Vaters, Manfred Eigen, nun bereits kurz vor der Emeritierung. Sie hätte gerne bei ihm über Evolutionstheorie geforscht. Doch Eigen schlug etwas anderes vor: die Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie, abgekürzt FCS. Eine hochempfindliche optische Messmethode zur Untersuchung der Dynamik von Molekülen. Dabei wird an die Moleküle ein Fluoreszenzfarbstoff gekoppelt und anschließend stark verdünnt. Mit einem feinen Laserstrahl werden nun die Farbstoffe zum Leuchten angeregt. Lichtempfindliche Messgeräte können so die Bewegung der winzigen Farbpunkte erfassen.
Die Methode war in Manfred Eigens Labor entwickelt worden. Petra Schwille erweiterte sie und untersuchte fortan die Reaktionen zwischen zwei Molekülsorten mit zwei unterschiedlichen Farben. 1997, ein Jahr nach ihrer Promotion und ausgestattet mit einem Forschungsstipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung, wechselte Petra Schwille in die USA zur Cornell University. Zu Watt W. Webb in jenes Labor, in dem die Urform der FCS erfunden worden war.
Vom Traum, ein eigenes Team zu gründen
Auch die Zwei-Photonen-Anregung wurde hier entwickelt: Schießt man zwei Photonen geringer Energie kurz nacheinander auf ein Molekül, wird es genauso angeregt wie durch ein einziges Photon mit der doppelten Energie. Damit lassen sich verschiedene Probleme bei der Beobachtung von Zellen umgehen. Diese Methode kombinierte Petra Schwille dann mit der FCS.
Zurückgelockt nach Deutschland hat sie die „Bio-Future“-Ausschreibung des Bundesforschungsministeriums. Die Initiative eröffnete ihr die Möglichkeit, in Deutschland eine eigene Forschergruppe zu gründen. „Das war mein Traum.“ Und so kehrte Petra Schwille 1999 als Nachwuchsgruppenleiterin an das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie nach Göttingen zurück. „Ich durfte die Räume Manfred Eigens mitsamt den Geräten übernehmen.“
Es lief gut in Göttingen. So gut, dass sie sich um eine Professur an der Universität Dresden bewarb. Die DDR hatte sie zwar nie persönlich kennengelernt, aber kurz nach dem Mauerfall war Petra Schwille zusammen mit ihrer Mutter und Großmutter für eine Woche nach Dresden gereist. Die Stadt hatte sie fasziniert. „Als der Ruf von dort kam, war klar, wie ich mich entscheide.“
Im Jahr 2002 war das, dreizehn Jahre nach der Wende. Die Frauenkirche war gerade im Aufbau, und zwischen aufwendig renovierten Altbauten lagen immer noch Trümmergrundstücke. Immerhin gab es einen neuen Uni-Campus.
Der frühere Student der Theologie, seit 2002 ihr Mann, hatte in Göttingen seine Pfarrstelle. Zwei Jahre pendelten sie hin und her, bis er schließlich nach Dresden zog. Petra Schwilles Forschung war gerade angelaufen, da bekam das Paar sein erstes Kind. Dresden bot die perfekte Umgebung dafür, hier gab es ausreichend Kinderkrippen und Tagesmütter. Mit einem hatte die Forscherin allerdings nicht gerechnet. „Dass in der Pubertät das Gehirn komplett umgebaut wird, ist bekannt. Aber dass es in der Schwangerschaft auch so ist, das sagt einem niemand. Durch den Hormonschub wird man auf Muttersein und Zu-Hause-Bleiben programmiert.“ Erst wenn die Kinder aus dem Haus sind, entspannt sich das Gehirn wieder. „Aber vorher ist die Natur einfach gegen uns. Entweder man fügt sich, oder man geht seinen eigenen Weg!“
Petra Schwille entschied sich für Letzteres: Sie suchte eine liebevolle Tagesmutter für ihre Tochter und war nach acht Wochen wieder im Institut. Und trotzdem bekam sie noch zwei weitere Kinder. Sie lacht. „Wenn das Gehirn erst mal umgebaut ist, kann man auch weitermachen.“ Berufliche Nachteile hatte sie in ihrer Position nicht zu erwarten. „Schlaflose Nächte ja. Aber sonst?“
Kinder und Karriere – nicht vielen Wissenschaftlerinnen gelingt das. Der Nachwuchs kommt oft während des Studiums oder der Promotion, und die Hormonfalle schnappt zu. Also verzichtet Mama auf die Karriere. Andere bleiben in der Forschung und setzen auf eine späte Mutterschaft. Aber das klappt nicht immer.
Karriere im Eiltempo - und anschließend die Kinder
Petra Schwille ist sicher eine Ausnahme. Sie hat im Eiltempo ihr berufliches Ziel erreicht und dann die Kinder bekommen. „Anders wäre es auch nicht gegangen. An der Cornell University war ich achtzig Stunden pro Woche im Labor. Das hat Spaß gemacht, und ich hatte damals auch noch nicht das Bedürfnis, Kinder zu bekommen.“ Sie ermutigt junge Frauen, es ihr gleichzutun. Von einer strengen Frauenquote in der Wissenschaft hält sie nicht viel. „Aber wir sollten früh nach talentierten Frauen suchen und eigens Lehrstühle für sie einrichten. Auch wenn das begabten Männern gegenüber nicht fair klingt: Die biologischen Härten müssen abgefedert werden.“
Ohne einen Partner, der seine beruflichen Pläne an die ihren anpasst, hätte es allerdings nicht funktioniert. Petra Schwilles Mann hat einige Opfer gebracht. Er gab sein Kirchenamt in Göttingen auf und begann in Dresden noch einmal neu – als Medizinethiker.
Probleme mit den Plänen seiner Frau, Zellen im Labor nachzubauen, hat er nicht. „Er ist kein Dogmatiker. Pränatale Diagnostik oder Medizin am Lebensende – das sind ethisch brisante Fragen. Ob man Leben als solches schaffen darf oder nicht, sind dagegen akademische Fragen. Da muss man schon sehr religiös sein, um damit Probleme zu haben.“
Petra Schwille hat ja auch nicht die Erschaffung eines künstlichen Menschen im Sinn, sie interessiert einfach, wie Leben überhaupt funktioniert. Und zwar in der allereinfachsten Version. „Die erste künstliche Zelle wird um vieles simpler aufgebaut sein als eine Bakterienzelle.“
Craig Venter hat künstliche Zellen nach eigenem Bekunden bereits 2010 im Labor erzeugt – eine Interpretation, über die sich streiten lässt. Denn letztendlich hat er das Erbgut eines Bakteriums nachgebaut und in eine leere Bakterienhülle übertragen.
Petra Schwille schlägt einen anderen Weg ein. Ihr vorläufiges Ziel ist, aus einzelnen Zellbausteinen ein Gebilde zu konstruieren, das aussieht wie eine Zelle und sich kontrolliert teilen kann. In fünf Jahren will sie so weit sein. „Selbstorganisation ist hier das entscheidende ordnende Prinzip. Dann kommen wir vielleicht schon mit wenigen unterschiedlichen Molekülarten aus.“
Ein Beispiel für Selbstorganisation ist die Zellmembran mit ihrer Fähigkeit, ihre Form zu verändern. Diese Doppelschicht aus Fettmolekülen bildet Strukturen wie Seifenblasen, die sich schon durch Schütteln teilen können. Doch es genügt nicht, beliebig zu teilen. Nur wenn sich die Zellhülle exakt halbiert, können zwei lebensfähige Tochterzellen entstehen. Die Wissenschaftlerin sucht deshalb Moleküle, mit denen sie die Zellteilung exakt steuern kann.
Kompliziert, obwohl es auch einfacher geht
„Manche Probleme hat die Natur sehr überzeugend gelöst. Andere wirken auf den ersten Blick sehr umständlich.“ Das Abschnüren von Membranbläschen ist zum Beispiel im Prinzip sehr einfach, die Natur hat sich aber einen komplizierten Weg ausgedacht. „Ich wundere mich schon, wie kompliziert die Zelle das macht. Wahrscheinlich hat das ja seine Gründe. Aber geht es nicht doch einfacher?“ Es ist ein anderer Denkansatz, ein platonischer: Was ist die reinste physikalisch mögliche Form der Zellteilung?
Einige Prinzipien sind bereits bekannt. Das Signal zur Zellteilung gibt eine molekulare Uhr in Form einer chemischen Reaktion. Wenn diese Reaktion eine ausreichende Menge einer Substanz gebildet und entsprechend in der Zelle verteilt hat, geht es los, und die Zellteilung startet. Eine solche zeitgebende Reaktion hat sie bereits ausfindig gemacht. „Nun wollen wir sie an den mechanischen Impuls der Teilung koppeln.“
Über die Jahrmillionen hat die Evolution also viel molekulares Übergepäck angesammelt. Das will Petra Schwille alles loswerden und nur das behalten, was absolut notwendig ist.
Sie geht dabei vor wie ein Ingenieur: Der will auch nicht so genau wissen, wie ein Vogel fliegt. Ingenieure verstehen die Physik des Fluges und bauen einfach etwas, das ebenfalls fliegen kann. „Deshalb bin ich wohl auch keine Biologin geworden. Biologen wollen immer möglichst präzise beschreiben, was sie sehen. Ich will es aber gar nicht so genau wissen. Mich interessiert nur, was unverzichtbar ist und was nicht.“
Manche Biologen sind davon überzeugt, dass alles wichtig ist. Vielleicht hat sich das Leben ja in einer Ursuppe aus unzähligen verschiedenen Molekülen entwickelt und von Anfang an komplexe Strukturen gebildet. „Ich glaube das nicht. Es gibt sicher Moleküle oder Molekülklassen, die wichtiger sind als andere.“
Vom Reagenzglas geht keine Gefahr aus
Befürchtungen, dass sich das Leben aus dem Reagenzglas selbstständig machen und in die Umwelt gelangen könnte, hat die Forscherin nicht. „Zellen sind ja auch deshalb so kompliziert, weil sie sich gegen andere Zellen durchsetzen müssen. Unsere künstliche Zelle wird dagegen keinerlei Abwehrmechanismen haben. Von einem so schutzlosen Organismus wird keine Gefahr ausgehen.“
Petra Schwille will sich auf das Wesentliche konzentrieren. Nicht nur in der Zelle, auch im Leben. Und da kommt eine ganze Menge zusammen: Sie ist Mitglied in Beiräten und Kuratorien acht renommierter wissenschaftlicher Zeitschriften. Zudem ist sie Fachgutachterin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und sitzt im Vorstand diverser Fachgesellschaften. Zusätzlich zu ihrer eigenen Forschung muss sie Gutachten schreiben und Konferenzen besuchen. Gleichzeitig hat sie auch ein Privatleben: Sie verbringt gerne Zeit in der Familie, sie musiziert und geht in den Klettergarten zum Trainieren für die Berge. Beruf und Privatleben – beides lässt sich vereinbaren. Aber nur, wenn man weiß, was wirklich wichtig ist.