Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik
Die Genetik seitenspezifischer Unterschiede im Hirn
Links und rechts
Die Lateralisation von Gehirn und Verhalten, also die funktionale Ungleichheit der Hirnhälften, beginnt bereits im Mutterleib: Schon mit zehn Wochen bewegen die meisten Föten ihren rechten Arm mehr als den linken. Die Verteilung entspricht dabei der bei Erwachsenen: Ungefähr 90 Prozent sind Rechtshänder, und man vermutet in den Bewegungen des rechten Arms beim Fötus den frühkindlichen Vorläufer der Händigkeit [1]. Man findet Lateralisation in den Teilen der Hirnrinde, die mit dem Sprachvermögen in Verbindung gebracht werden, ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel. Bei den meisten Erwachsenen dominiert die linke Hemisphäre beim Sprachvermögen.
Dass schon bei Föten Unterschiede zwischen den linken und rechten Hirnhälften auftreten, weist darauf hin, dass bereits die genetischen Programme der Hirnentwicklung eine Lateralisierung beinhalten. Darüber hinaus weisen die Asymmetrien der erwachsenen Hirnfunktionen, zum Beispiel in der Sprachverarbeitung, auf Seitenunterschiede bei der Aktivität von Genen und Proteinen hin, die die informationsverarbeitenden Eigenschaften neuronaler Schaltkreise verändern. Unterschiede in der Größe und Anzahl einiger Nervenzell-Typen in den für Sprachverarbeitung und Gehör zuständigen Hirnregionen verweisen ebenfalls auf eine genetische Ursache.
Die genetischen Mechanismen, die diese Spezialisierung der beiden Hirnhälften verursachen, sind bislang unbekannt. Dabei ist diese Frage von grundlegendem Interesse für die menschliche Neurobiologie, nicht zuletzt weil sprachnahe Störungen wie Dyslexie oder Sprachbehinderungen, aber auch Schizophrenie oder Autismus, mit der Lateralisierung der Hirnrinde in Verbindung gebracht werden.
Diversität
Der Grad der Hirnlateralisation unterscheidet sich sehr stark zwischen Individuen. Man nimmt außerdem an, dass die Lateralisation verschiedener Hirnregionen und -Funktionen unabhängig voneinander erfolgt. Eine Möglichkeit, Lateralisationsgene zu finden: Man misst die Händigkeit in einer großen Gruppe Teilnehmer und vergleicht diese dann mit der genetischen Variation innerhalb dieser Gruppe. Das funktioniert, weil viele Gene in einer Population in mehreren Varianten vorkommen, und einige Varianten subtile Effekte auf z. B. die Hirnentwicklung ausüben. In ähnlicher Weise beeinflusst das Geschlecht die Asymmetrie des Hirns. Beispielsweise ist das planum temporale, ein Teil der Hirnrinde, der das Wernicke’sche (Sprach-) Areal überlappt, links größer als rechts. Dieser Unterschied ist jedoch bei Männern geringfügig stärker ausgeprägt als bei Frauen (Abb. 2).
Forscher des MPI in Nijmegen haben, in Zusammenarbeit mit Kollegen des Donders Instituts in Nijmegen und der Universität Greifswald, das vollständige Genom von mehr als 3000 Freiwilligen untersucht. Die Hirnstrukturen dieser Freiwilligen wurden mit Magnetresonanztomografie (MRT) untersucht und miteinander verglichen [2]. Dabei kam ans Licht, dass Gene, die bei der Steroidhormon-Funktion eine Rolle spielen, den Lateralisationsgrad des planum temporale sowohl bei Männern als auch bei Frauen beeinflussen. Änderungen in der Lateralisation des planum temporale wurden in der Vergangenheit häufiger mit Dyslexie und Sprachstörungen in Verbindung gebracht. Die gefundenen Steroid-Gene werden in der Zukunft auch im Hinblick auf ihren Einfluss auf Lese- und Sprachfähigkeiten hin untersucht werden. In einer weiteren Studie [3] wurde ein für das Sprachverständnis wichtiger Teil der Hirnrinde, die Heschl’sche Querwindung, auf den Einfluss genetischer Varianten hin untersucht.
Nicht nur die Hirnrinde ist lateralisiert: Auch die tiefer im Hirn liegenden “subkortikalen” Strukturen weisen seitenspezifische Unterschiede in Größe, Form und Funktion auf. So auch die sogenannten nuclei caudati, bei denen Abweichungen in der Lateralisation bei Kindern mit Hyperaktivität in Verbindung gebracht werden. Die Lateralisation der subkortikalen Strukturen ist subtiler als die der Hirnrinde. Deswegen untersuchten die Forscher des MPI in Nijmegen erst, wie verlässlich die Lateralisation in MRT-Datensätzen automatisiert aufgespürt werden kann. Die so gewonnenen Daten wurden dann wieder mit der genetischen Variation verglichen, ebenfalls bei mehr als 3000 Teilnehmern [4]. Einzelne genetische Varianten haben allenfalls einen kleinen Effekt auf die Hirnanatomie, weswegen derartige Studien sehr von großen Datensätzen profitieren. Forscher des MPI in Nijmegen leiten die Arbeitsgruppe für Hirnlateralisation in einem internationalen Forschungskonsortium namens ENIGMA, das in Zukunft auf die Daten von mehr als 10000 Teilnehmern in vielen Ländern zurückgreifen kann.
Linkshändigkeit
Händigkeit ist ein Abbild der Lateralisation des Nervensystems (Abb. 3). Bei den rund 10 Prozent der Bevölkerung, die links- oder beidhändig sind, kommt es manchmal zu einer Reduktion oder Umkehr anderer Hirnlateralisationen. Die Beziehungen zwischen Linkshändigkeit und Gehirnstruktur sind jedoch weitestgehend ungeklärt. Um die Variabilität der Daten zu reduzieren, werden Linkshänder häufig aus den Kohorten von neurowissenschaftlichen sowie genetisch-neuroanatomischen Studien ausgeschlossen. Neue Studien deuten jedoch an, dass sowohl Nichtauschluss als auch gezieltes Rekrutieren von Linkshändern informativ für weite Themenfelder wie Cerebrale Lateralisation und genetischen Grundlage der Lateralisation während der Entwicklung sein können. Da Linkshändigkeit einen substanziellen Teil der menschlichen Population betrifft und daher ins Spektrum normaler menschlicher Diversität fällt, ist es wichtig, diese Form der Variabilität in unserem Verständnis der Funktion des Gehirns zu berücksichtigen. In einem Artikel in Nature Reviews Neuroscience [5; 6] argumentierten Forscher des MPI für Psycholinguistik dafür, dass Neurowissenschaftler und Neurogenetiker das Erkenntnispotenzial dieser häufig ignorierten Gruppe von Forschungssubjekten anerkennen sollten.
Darüber hinaus wurde eine umfassende Analyse der Unterschiede in der Hirnrinde zwischen 106 links- und 1960 rechtshändigen Personen ausgeführt. Dies war die bisher umfassendste Studie zu diesem Thema. Obwohl die Oberfläche des Sulcus praecentralis, einer Region der Hirnrinde, leicht verändert war, konnten keine signifikanten Unterschiede gefunden werden. Die Identifikation von Signaturen der Linkshändigkeit im Gehirn könnte sowohl für genetische Studien zur Lateralisation nützlich sein, als auch neue Möglichkeiten zum Studium des Verhältnisses zwischen Händigkeit, Hirnlateralisation und Kognition erschließen. Diese Arbeit wird durch die Lateralisations-Arbeitsgruppe des ENIGMA-Konsortiums unter Leitung von Wissenschaftlern des MPI in Nijmegen fortgesetzt.
Außerdem wird nach Familien mit ungewöhnlich vielen Linkshändern gesucht, da diese seltenen Fälle die Identifikation von individuellen Genen ermöglichen, die die Lateralisation des Gehirns während der frühen Embryoentwicklung steuern. Personen aus Familien mit vielen Linkshändern können sich unter der folgenden Webseite registrieren und Fragen über die Händigkeit ihrer Familien beantworten: www.mpi.nl/handedness.
Mehr als DNA
Menschen unterscheiden sich in ihren DNA-Sequenzen, jedoch gibt es darüber hinaus mehr Diversität in unseren Chromosomen. Die DNA und die Proteine, die sie binden, werden chemischen Modifikationen unterzogen, welche viele Aspekte der Genfunktion kontrollieren können. Diese "epigenetischen" Modifikationen können sich durch genetische und umweltbedingte Einflüsse zwischen verschiedenen Zellen, Geweben und Personen unterscheiden. Manche epigenetischen Modifikationen können sich über Generationen vererben oder in Samen- oder Eizellen verändert werden. Eine Form der epigenetischen Variation, genannt DNA-Methylierung, wurde durch Wissenschaftler des MPI in Nijmegen für das Gen LRRTM1 untersucht, welches mit Händigkeit und Schizophrenie assoziiert ist [7]. Epigenetische Effekte in psychiatrischen Erkrankungen wurden bislang nicht umfangreich untersucht, und es ist zurzeit unklar, wie wichtig diese sein könnten. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Reduktion von Methylierung des LRRTM1-Gens, besonders bei der durch den Vater vererbten Kopie, ein Risikofaktor für die Entwicklung von Schizophrenie ist.
Die Zukunft
Die Identifikation von Hirnlateralisations-Genen wird voraussichtlich neue Einsichten in die molekularen Prozesse bringen, die kognitiver Variabilität und psychiatrischen Erkrankungen zu Grunde liegen. Die Entdeckung solcher Gene wird neue Möglichkeiten in vielen Untersuchungsgebieten erschließen, wie zum Beispiel Entwicklungs-Neurowissenschaften oder psychiatrischer Genetik. Als Ergänzung zum Fortschreiten bestehender Studien zu Magentresonanztomografie und Genom-Screening wird ein neues Forschungsprogramm entwickelt, das direkte Messungen der Genaktivität in Post-mortem-Proben umfasst. Diese Methode wird "Transciptomics" genannt und beinhaltet präzise Messungen der Menge von messenger-RNA tausender verschiedener Gene zur selben Zeit. Durch das Vergleichen von Gen-Profilen der linken und rechten Gehirnhälften ist es möglich, einzelne Gene auszumachen, die in den beiden Hälften unterschiedlich aktiv sind. Dieses Projekt wird durch Forschungsgelder in Höhe von 278.000 Euro von der Niederländischen Organisation für Wissenschaftliche Forschung (NWO) unterstützt.
Der Autor dankt Moritz Negwer und Kai Wanke für die Übersetzung ins Deutsche.
Literaturhinweise
Doi: 10.1016/s0028-3932(97)00156-5
Cortex(0). (ePub ahead of print)
Doi: 10.1016/j.cortex.2014.07.015
Genes, Brain and Behavior 13(7), 675-685 (2014)
Doi: 10.1111/gbb.12157
doi: 10.1002/hbm.22401
[Perspectives]. National Review of Neurosciences 15(3), 193-201 (2014)
Doi: 10.1038/nrn3679
doi: 10.3389/fpsyg.2014.00261
Doi: 10.1002/ajmg.b.32258