Forschungsbericht 2004 - Max-Planck-Institut für Physik

Die Erforschung der sichtbaren Materie mit HERA

Investigation of visible matter with HERA

Autoren
Caldwell, Allen; Grindhammer, Günther
Abteilungen

Experimentelle Hochenergiephysik (Prof. Caldwell) (Prof. Dr. Allen Caldwell)
MPI für Physik, München

Zusammenfassung
HERA, der weltweit erste Elektron-Proton-Collider, gewährt aufgrund seines bisher ungekannten Auflösungsvermögens neue Einblicke in das Herz der Materie. So konnte in den Streuprozessen erstmals nachgewiesen werden, dass es bei höheren Energien zu einem raschen Anstieg der Zahl virtueller Quarks, Antiquarks und Gluonen kommt. Das HERA-Programm ist kürzlich in eine neue Phase eingetreten, die ein starkes Anwachsen der Datenmengen und weitere faszinierende Ergebnisse verspricht.
Summary
HERA, the world's first electron proton collider, has allowed scientists to look into the heart of matter with unprecedented resolution. Fascinating results have been obtained, such as the observation of a rapid increase in the number of virtual quarks, antiquarks, and gluons visible in scattering processes as the energy is increased. The HERA program has recently begun a new phase which promises a large increase in data and further exciting results.

Mit HERA werden zum ersten Mal Elektronen mit Protonen, die in zwei Ringen in entgegengesetzter Richtung zirkulieren, zur Kollision gebracht (Abb. 1). Bisher hatte man beschleunigte Elektronen auf ein stationäres Ziel, z.B. Protonen (Wasserstoff), geschossen. Warum nun diese wesentlich kompliziertere Vorgehensweise bei HERA?

Zur Untersuchung immer kleinerer Strukturen braucht man immer höhere Energien. Das Auflösungsvermögen hängt vom Impulsübertrag Q2 vom Elektron auf das Proton ab. Dessen größtmöglicher Wert ist proportional zu √EeEp, wobei Ee (Ep) die Energie des einlaufenden Elektrons (Protons) ist. Bewegt sich nur das Elektron, und das Proton ruht, dann ist die Energie des Protons gleich der Ruhemasse desselben (mit 1 GeV als eine Einheit der Energie entspricht dies, bei Anwendung der von Einstein aufgestellten Relation E=mc2, ungefähr der Ruhemasse eines Protons). Das Auflösungsvermögen verbessert sich daher nur proportional zu √Ee, im Fall frontal kollidierender Teilchen hingegen mit √EeEp. Bei HERA kollidieren Elektronen mit Energie Ee = 27,5 GeV (1 GeV = 1 ∙ 109 eV) mit Protonen mit Energie Ep= 920 GeV. Wollte man das maximale Auflösungsvermögen von HERA mit Beschuss von Elektronen auf stationäre Protonen erreichen, müsste man die Elektronen auf eine Energie von 54000 GeV beschleunigen – ein völlig unmögliches Unterfangen.

Abbildung 2 zeigt den enormen Fortschritt, der in der Verbesserung der Auflösung bisher erzielt wurde, von 6 ∙ 10-15 m, etwa dem 6fachen des Protonradius, beim Experiment von Rutherford im Jahr 1911, bis zu 1 ∙ 10-18 m, etwa 0,1% des Protonradius, mit HERA-Daten.

Asymptotische Freiheit

Von den vier Kräften bzw. Wechselwirkungen, die wir kennen, a) der schwächsten, der Gravitation, b) der so genannten schwachen Kraft, beispielsweise für die für uns lebenswichtige Energieproduktion in der Sonne verantwortlich, c) der uns am besten bekannten elektromagnetischen Wechselwirkung zwischen elektrisch geladenen Teilchen, verantwortlich für den Aufbau der Atome und Moleküle, ist d) die starke Kraft die weitaus stärkste. Für Abstände von einem Protonradius von ≈ 10-15m ergeben Messungen eine Kraft von ca. 105Newton, was etwa zehn Tonnen entspricht. Die Gluonen sind die Teilchen, die die starke Kraft vermitteln, die Photonen vermitteln die elektromagnetische und die geladenen W- und das neutrale Z0-Teilchen die schwache Kraft.

Was passiert nun, wenn bei HERA ein Elektron mit voller Wucht auf ein Proton trifft? Das vom Elektron abgestrahlte Photon (Z0- oder geladene W-Teilchen im Falle einer schwachen Wechselwirkung zwischen dem Elektron und dem Proton) kann dabei einem der Quarks im Proton bis auf 1/1000 des Protonradius nahe kommen. Paradoxerweise verhält sich dann das Quark so, als ob es fast frei wäre, als sei es nicht im Proton gebunden. Daher erwartet man, dass das Quark aus dem Proton herausgeschleudert wird. Ein Nachweis freier Quarks ist aber bisher auch bei den höchsten Energien nie gelungen. Diese experimentelle Tatsache hat man zum Prinzip des „confinement“ (Einschluss) der Quarks erhoben. Die starke Wechselwirkung verhält sich anscheinend so, dass bei kleinen Abständen die Gluonkräfte auf das betroffene Quark klein sind, jedoch bei größeren Abständen, wie sie z.B. durch den Stoß entstehen, gewaltig anwachsen. Es ist so viel Energie in den Gluonfeldern, dass Quark-Antiquark-Paare entstehen, die sich dann in gebundene Zustände, Hadronen, verwandeln. Sie bilden einen Teilchenschauer („Jet“), der die Richtung des ursprünglichen Quarks hat, und der von den Detektoren H1(s. MPG-Jahrbuch 1999, S 627 ff.) und ZEUS nachgewiesen werden kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Quark oder Gluon ein weiteres Gluon abstrahlt, ist bei kleinen Abständen proportional zur Kopplungsstärke αs. Sie hängt von den untersuchten Abständen bzw. Energien ab. In Abbildung 3 sind die zusammengefassten Resultate von H1 und ZEUS als Funktion der (transversalen) Energie der gemessenen Jets dargestellt. Der gemessene Verlauf stimmt gut mit dem von der Theorie erwarteten überein.

Das überraschende Verhalten, dass nämlich die starke Kopplung mit kleiner werdenden Abständen (zunehmenden Energien) immer kleiner wird und die Quarks im Proton sich fast wie freie Teilchen bewegen, hat man mit asymptotischer Freiheit bezeichnet. Sie steht im Gegensatz zum Verhalten der Kopplungsstärke der elektromagnetischen Kraft. Für die Entdeckung dieses - bis dahin nicht erwarteten - Verhaltens in den siebziger Jahren erhielten die Theoretiker David Gross, David Politzer und Frank Wilczek im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Physik.

Im Herzen der Materie

Die Quantenzahlen für das Proton werden von drei Quarks, den so genannten Valenzquarks, bestimmt. Doch in einem Proton steckt viel mehr als diese drei Quarks. Die Valenzquarks sind die Keimzelle der beobachteten Protonenstruktur. Gluonen werden von den Valenzquarks abgestrahlt und können wiederum in Quarks und Antiquarks übergehen, oder sich in zwei Gluonen spalten. Dies löst eine Kettenreaktion virtueller Quarks und Gluonen aus (die mit dem Sammelnamen Partonen bezeichnet werden), die eine Wolke um das ursprüngliche Valenzquark bilden. Man spricht nun von angezogenen (dressed) Valenzquarks. Die virtuellen Elementarteilchen in der Wolke um die Valenzquarks fluktuieren ständig zwischen Existenz und Nicht-Existenz. Die spezielle Relativitätstheorie erklärt uns, dass sich die Zeit für rasch fortbewegende Elementarteilchen verlangsamt, sodass höhere Energiestrahlung die Sichtbarmachung sehr kurzlebiger Fluktuationen ermöglicht. Aus der Sicht eines Elektrons in Ruhe sind die virtuellen Fluktuationen im sich schnell bewegenden Proton verlangsamt. Der Grad der Verlangsamung hängt von der Energie ab, die in der jeweiligen Elektron-Proton-Streuung zur Verfügung steht. Die sehr hohen Energien von HERA ermöglichen daher nicht nur die Sichtbarmachung der räumlichen Struktur von Protonen und Quarks, sondern auch der schnell vergänglichen virtuellen Fluktuationen.

Der Aufbau des Protons wird gewöhnlich mithilfe von Strukturfunktionen beschrieben, welche die Verteilung der Anzahl der Quarks und Antiquarks im Proton angeben. Die Gluonen konnten bei HERA bisher nicht direkt gezählt werden, aber Information über die Gluonendichte wurde indirekt aus der Strukturfunktion abgeleitet. Bei niedrigen Energien erscheint das Proton aus drei Quarks bestehend, die jeweils etwa 1/3 des Protons ausmachen. Bei hohen Energien wird eine sehr viel kompliziertere Struktur sichtbar, in der die Valenzquarks selbst anscheinend aus einer großen Anzahl Quarks und Gluonen (Partonen) bestehen. Sie ist schematisch in Abbildung 4 dargestellt.

Die wichtigste Entdeckung von HERA ist die bei hohen Energien sichtbar werdende, dramatische Zunahme der Zahl der Partonen, welche in der Abbildung als sehr steiler Anstieg bei niedrigen Werten von x erscheint. Die kleinen x-Werte entsprechen sehr kurzen Zeitfluktuationen. Die Quanten-Chromodynamik kann erklären, wie sich die sichtbare Struktur in Abhängigkeit von der Auflösung (1/√Q2), mit der das Proton abgetastet wird, verändert. Was den Theoretikern jedoch bis heute nicht gelungen ist, ist eine Beschreibung der Strukturveränderungen als Funktion von x. Es handelt sich hier um einen sehr aktiven Bereich der Elementarteilchenforschung, der durch die HERA-Daten erst erschlossen wurde, und in dem derzeit zahlreiche aufregende Ideen diskutiert werden.

Ein Beispiel für die Strukturfunktion, die man bei HERA gemessen hat, ist in Abbildung 5 zu sehen. Die Strukturfunktion F2, welche letztendlich die Zahl der Quarks und Antiquarks im Proton zählt, ist hier für drei verschiedene Abstände aufgezeichnet (zunehmende Q2-Werte entsprechen kleineren Abständen). Es zeigt sich, dass die Strukturfunktion mit größerem Q2 schneller ansteigt, was bedeutet, dass immer mehr Quarks und Antiquarks sichtbar werden, wenn man die Auflösung, mit der man das Proton untersucht, erhöht. Dieses Verhalten ist von der Theorie der Quanten-Chromodynamik her gut verständlich. Die rasche Veränderung der Strukturfunktion bei unterschiedlichen Abständen deutet auf eine große Gluonendichte hin. Dies muss so sein, da Quarks und Antiquarks nur durch die Spaltung eines Gluons entstehen können. Eine große Gluonendichte ist daher notwendig, um eine große Quark- und Antiquarkdichte zu erzeugen. Die Hintergrundgrafik in Abbildung 5 zeigt eine künstlerische Vorstellung von der komplizierten Struktur des Protons, wie sie die HERA-Daten nahe legen.

Eine andere Interpretation der Daten

Man kann die ep-Wechselwirkungen bei HERA unterschiedlich interpretieren. Der Standard-Ansatz ist, das Elektron als Sonde zu betrachten, welche die Protonenstruktur durch die Streuungsverteilung sichtbar macht. Man kann jedoch genauso gut das Elektron als den Träger der Struktur betrachten. Abbildung 6 zeigt eine schematische Darstellung der Streuung eines Elektrons an einem Proton bei sehr hohen Energien. Die durchgehende Linie links steht für das Elektron, während das Proton durch das Oval rechts dargestellt wird. Ebenfalls dargestellt sind ein Photon (Wellenlinie), Quarks (rote und grün gestrichelte Linie) und Gluonen (zweifarbige Spirallinien). In dieser Abbildung kann man die Streuung folgendermaßen betrachten: Das Elektron strahlt ein Photon ab, welches an einem Quark, das aus dem Proton stammt, streut. Das Quark ist das Endprodukt einer langen Kette virtueller Strahlungen, die überwiegend aus Gluonen besteht.

Man kann jedoch die Streuung auch wie folgt sehen: Das Elektron strahlt ein Photon ab, welches sich in ein Quark und ein Antiquark aufspaltet. Eines der beiden strahlt eine Kette virtueller Gluonen ab, von denen eines mit dem Proton in Wechselwirkung tritt. Zu welchem Teilchen die Strahlungskette gehört, lässt sich nicht auf eindeutige Weise bestimmen. Die Beobachtung, dass sich die Dichte der Partonen bei steigender Energie verändert, hängt von den grundlegenden Eigenschaften der starken Wechselwirkungen in kürzesten Zeitintervallen ab - nicht von der Strahlungsquelle. Der bei HERA beobachtete steile Anstieg der Strukturfunktionen spiegelt somit eine grundlegende und universelle Eigenschaft der Natur wieder - die „Wolke“ virtueller Quarks und Gluonen im Herzen aller Materie. Gegenwärtig gibt es kein theoretisches Verständnis dieser fundamentalen Struktur. Ihre Erforschung könnte letztlich einen revolutionären Paradigmenwechsel in unserer Auffassung von der Natur herbeiführen.

Ausblick

In den Jahren 2000/2001 wurden am HERA-Beschleuniger und an den Detektoren H1 und ZEUS umfangreiche Erweiterungs- und Verbesserungsarbeiten durchgeführt. Das Experimentalprogramm befindet sich nun in der HERA II-Phase. HERA erhielt im Rahmen dieser Verbesserungsarbeiten zusätzliche supraleitende Magnete, mit denen die Strahlen stärker fokussiert werden können, wodurch die Kollisionsrate zwischen Elektronen und Protonen erhöht wird. Hinzu kamen auch so genannte „Spin-Rotatoren“ - eine Kette von Magneten, die den intrinsischen Drehimpuls (Spin) des Elektrons drehen, sodass er in die Bewegungsrichtung oder entgegengesetzt zu ihr weist - Physiker nennen das „den Elektronenstrahl longitudinal polarisieren“. Die Messeigenschaften der Detektoren wurden erheblich verbessert, zum Beispiel durch den Zusatz von Hochpräzisions-Siliziumstreifendetektoren. Die neuerliche Inbetriebnahme des Beschleunigers und der Detektoren fand in den Jahren 2002 und 2003 statt, und das HERA II-Programm nahm im Jahr 2004 seine eigentliche Arbeit auf. Die Datenmenge soll bis Mitte 2007 um einen Faktor fünf vergrößert werden.

Die größeren Datenmengen und der polarisierte Elektronen- bzw. Positronenstrahl ermöglichen eine Fülle neuer Messungen. Von besonderem Interesse ist die Erforschung der Protonen bei kleinsten Abständen. Die Wahrscheinlichkeit, ein Quark zu treffen, nimmt mit zunehmender Auflösung rasch ab, weshalb es bei der Untersuchung der kleinsten Abstände wichtig ist, genügend Daten zur Verfügung zu haben. Die verbesserte Leistung von HERA II wird daher die Suche nach Substrukturen von noch geringerer Größenordnung ermöglichen. Ebenso wird die Suche nach neuen Wechselwirkungen möglich, die über die bekannten Kräfte hinaus gehen und möglicherweise nur bei geringsten Abständen erkennbar werden. Die Polarisation des Elektronenstrahls entlang seiner Bewegungsrichtung hilft in erster Linie bei der Erforschung der schwachen Wechselwirkung. Im Standardmodell sollten nur Elektronen mit einem Spin, der anti-parallel zu ihrer Bewegungsrichtung liegt, schwache Wechselwirkungen aufweisen, während für Anti-Elektronen (d.h. Positronen) das Gegenteil erwartet wird. Dies kann in HERA mit so genannten „geladenen Strom-Wechselwirkungen“ untersucht werden, wo die Elektron-Proton-Wechselwirkung über ein elektrisch geladenes W-Teilchen stattfindet und das Elektron in ein Neutrino verwandelt wird. Die Wahrscheinlichkeit für diese Art der Wechselwirkung und die Erwartungen im Standardmodell werden in Abbildung 7 als Funktion des Polarisationsgrades des Elektronen- bzw. Positronenstrahls gezeigt. Ein Wert von P=-1 zeigt an, dass alle Elektronen eine anti-parallele Polarisation aufweisen. Die Erwartungen des Standardmodells gehen von diesen Werten aus. Mit den riesigen Datenmengen, die man sich von HERA II erhofft, können diese Erwartungen überprüft werden.

Die Experimente des vergangenen Jahrhunderts haben uns faszinierende neue Einblicke in die Struktur der Materie gewährt. Mithilfe immer höherer Energien wurden immer kleinere Substrukturen entdeckt. Die erste Phase der Datennahme bei HERA eröffnete uns einen Blick ins Herz der Materie mit bisher ungekannter Auflösung und schenkte uns Einsichten in das faszinierende Innenleben der Protonen. Die Daten von HERA II werden sicherlich neue Erkenntnisse aber auch neue Geheimnisse bringen.

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