Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht
Studien zur Sicherheit in Deutschland
Was ist Sicherheit?
Sicherheit ist ein elementares Grundbedürfnis des Menschen, das dessen Denk- und Gefühlswelt wie auch Schutzvorkehrungen umfasst. Im Laufe der Zeit verändern sich die individuellen und gesellschaftlichen Vorstellungen von Sicherheit und auch die Anforderungen an sie. Mit dem Begriff „Sicherheit“ sind ganz unterschiedliche Bedeutungen verbunden, die in sämtliche Lebensbereiche hineinreichen. In einer negativen Ausrichtung bezieht er sich auf das Fehlen persönlicher und gesellschaftlicher Bedrohungen; Sicherheit hat aber auch positive Komponenten wie Lebensqualität, Freiheit von Angst, Geborgenheit und Vertrauen in andere Personen oder gesellschaftliche Institutionen.
Sicherheitsverständnis und Fragestellungen im Projektverbund
In dem interdisziplinären Forschungsprojekt „Barometer Sicherheit in Deutschland (BaSiD)“ unter Leitung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht wird das vielschichtige und komplexe Thema Sicherheit seit Sommer 2010 untersucht. An dem Verbund sind folgende Partner beteiligt, die die gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen Kriminologie, Ethik, Medien- und Kommunikationswissenschaft, (Sozial-)Psychologie, Soziologie und Rechtswissenschaft repräsentieren: Bundeskriminalamt (Kriminalistisch-Kriminologische Forschung und Beratung), Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung Karlsruhe, Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Eberhard Karls Universität, Katastrophenforschungsstelle der Freien Universität Berlin, Kommunikations- und Medienwissenschaft der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert das Konsortialprojekt finanziell.
Forschungen zu Lagebildern, Bedingungen, Wahrnehmungen und Erwartungen rund um Sicherheit führen zu einer aktuellen Bestandsaufnahme objektivierter (der Begriff soll aussagen, dass tatsächliche Sicherheiten sozialen Konstruktionsprozessen unterliegen) und subjektiver Sicherheiten in Deutschland. In diesem Rahmen haben Sicherheitslagebilder (zum Beispiel „Verfassungsschutzbericht“, „polizeiliche Kriminalstatistik“) eine Diagnosefunktion und bewerten die Diskrepanz zwischen der sozialen Realität und dem gesellschaftlichen Idealzustand. Dieser Idealzustand wird durch den Topos „zivile Sicherheit“ beschrieben und dient somit als Referenzpunkt, um die soziale Realität als sicher oder unsicher zu bewerten.
Aus Statistiken wurden Daten zu den Phänomenen Kriminalität, Terrorismus, Naturkatastrophen und technische Großunglücke ausgewertet. In qualitativen und quantitativen Befragungen wurden ergänzend und vertiefend Daten zu Sicherheitsbefindlichkeiten in der Bevölkerung und zur Viktimisierung durch Kriminalität erhoben. Während die vier genannten Phänomene einen wesentlichen Ausschnitt objektivierter Sicherheiten wiedergeben, beziehen die Daten zur subjektiven Sicherheit zusätzlich unter anderem den Gesundheitszustand, die wirtschaftliche Situation und die soziale Sicherheit ein. Angesichts der Weite des Sicherheitsbegriffs ist einerseits eine Schwerpunktsetzung auf aktuelle gesellschaftliche Themen notwendig, andererseits ist das Ergebnis als Prototyp zu verstehen, um Sicherheiten zu erfassen und zu messen.
Zwei große Fragen leiten die Untersuchung: Wie sicher ist Deutschland? Und: Wie sicher fühlen sich die Menschen in Deutschland? Die Unterscheidung in objektivierte und subjektive Sicherheit bedeutet, dass tatsächlich sicher sein und sich sicher fühlen nicht immer übereinstimmen und auseinanderfallen können (Abb. 2). Ein Beispiel ist die Hitzewelle im Jahr 2003, an deren Folgen über 9.000 Menschen starben. Auch wenn eine Hitzewelle faktisch eine Bedrohung für Gesundheit und Leben des Menschen darstellt, ist die Wahrnehmung eine andere. Die Gefahr des Hitzetods wird unterschätzt und der überheiße Sommer bleibt als positive Ausnahme in Erinnerung. Angesichts des Bedrohungspotenzials einer Hitzewelle ist die gefühlte Sicherheit trügerisch.
Die Unterscheidung in persönliche und gesellschaftliche Sicherheit ist ein weiteres zentrales Kriterium. Während gesellschaftliche Sicherheit hauptsächlich medial thematisiert wird und ihre Wahrnehmung davon abhängt, welchen Schwerpunkt man setzt, zeichnet sich persönliche Sicherheit durch eigene Erfahrungen und Einschätzungen aus, ist also eine individuelle Angelegenheit. Sicherheit wird also medial und kommunikativ erzeugt (konstruktivistische Perspektive).
Sicherheitslage und Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung
Die kriminologische Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht untersucht in zwei empirischen Studien (repräsentative telefonische Bevölkerungsbefragungen) das Sicherheitsempfinden in der deutschen Bevölkerung sowie dessen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit. Aufbauend auf kriminologischen, soziologischen und psychologischen Theorieansätzen wird die Wahrnehmung und der Umgang mit Unsicherheit sowie die Wechselwirkung zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Ebene erforscht. Im Zentrum steht die Frage, wie Gefühle von Furcht und Unsicherheit das alltägliche Handeln und die Lebensqualität der Menschen in Deutschland beeinflussen. Dabei werden sowohl positive wie negative Aspekte des Sicherheits- und Unsicherheitsempfindens beleuchtet. Es wird nicht nur gefragt, welche Gefahren und Risiken wahrgenommen und welche ausgeblendet werden, sondern auch umgekehrt, wie Gefühle von Sicherheit und Vertrauen erzeugt werden.
Kriminalitätsbezogene Unsicherheitsgefühle im Zentrum
Gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt führte das MPI für ausländisches und internationales Strafrecht eine bundesweite repräsentative Dunkelfeldbefragung durch (Dunkelfeld: Differenz zwischen den tatsächlich begangenen und den bekannt gewordenen Straftaten). Über 35.000 Personen wurden zu ihren persönlichen Erfahrungen mit Kriminalität und kriminalitätsbezogenen Einstellungen und Unsicherheitsgefühlen befragt. Die Daten ermöglichen nicht nur, den Zusammenhang zwischen Opfererlebnissen und Kriminalitätsfurcht, sondern auch andere Einflüsse auf das Sicherheitsgefühl zu untersuchen (zum Beispiel Wohnumgebung, Medienkonsum, sozialpsychologische Faktoren). Die Veröffentlichung erster Ergebnisse ist im Sommer 2013 zu erwarten.
Das Wechselspiel verschiedener Sorgen
In einer weiteren repräsentativen Umfrage mit 2.525 Personen wird das subjektive Sicherheitsempfinden in einem größeren Zusammenhang untersucht. Hier wird etwa gefragt, welchen Stellenwert der Kriminalitätsfurcht im Vergleich zu anderen mit Unsicherheitsgefühlen behafteten Bereichen zukommt (Rangliste von Unsicherheiten) und inwiefern sie mit andersartigen Sorgen verknüpft ist (These von der Generalisierung von Ängsten).
Ausgehend davon, dass die subjektive Sicherheit als Freiheit von Sorge interpretiert werden kann, wurden die Teilnehmer im Herbst 2012 in Bezug auf diverse sicherheitsrelevante Bereiche gefragt, wie stark sie sich Sorgen auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene machen.
Erste Auswertungen zeigen, dass Altersversorgung und Gesundheit besonders wichtige Bereiche für das persönliche Sicherheitsgefühl sind (Abb. 3). So geben 41 Prozent der Befragten an, sich stark zu sorgen, im Alter ein Pflegefall zu sein. 37 Prozent sorgen sich um die finanzielle Altersversorgung und 28 Prozent um eine mögliche schwere Erkrankung. Die Sorge, ein Opfer von Kriminalität zu werden, spielt lediglich für 14 Prozent eine Rolle. Wie die Kriminalitätsfurcht gehört auch die Furcht, von Naturkatastrophen oder Terrorismus betroffen zu werden, nur für einen eher kleinen Teil der Bevölkerung zu den sicherheitsrelevanten Themen.
Für den gesellschaftlichen Bereich dominiert die Sorge um eine zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich: Diese Ungleichheit wird von 73 Prozent der Befragten mit starker Besorgnis betrachtet (Abb. 4). Des Weiteren sieht etwa die Hälfte der Befragten schadstoffbelastete Lebensmittel und die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland als gesellschaftlich beunruhigende Themen an.
Bedeutung von Sicherheitsberichten und der Studien zur Sicherheit
Viele Länder haben in den letzten Jahren ihre Berichtssysteme zur Diagnose der Sicherheitslage von Einzelstatistiken hin zu kommentierten Metaanalysen der traditionellen Informationssysteme umgestellt. Ihr Verdienst besteht darin, sicherheitsrelevante Statistiken zu bündeln, aus ihnen belastbare Aussagen zu destillieren und diese auf eine verständliche Art und Weise der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Neben den statistischen Informationen beziehen diese Berichte teilweise auch die subjektive Wahrnehmung von Unsicherheit und Kriminalität in der Bevölkerung in die Analyse ein und ergänzen dadurch das statistisch-objektivierte Bild von Kriminalität um eine wichtige Komponente. Nach dem heutigen Stand bilden sie die Grenze dessen, was man aus der Gesamtschau und sachgerechten Interpretation der Daten an Erkenntnisgewinn herausziehen kann.
Hier setzt das Verbundprojekt an, dessen Studien über die herkömmliche Diagnose von Unsicherheiten in mehrfacher Hinsicht hinausgehen:
- Sie vereinen erstmals Befunde aus vier unterschiedlichen Teilbereichen der Sicherheitsforschung: Terrorismus, Kriminalität, technische Großunglücke und Naturkatastrophen.
- Sie ergänzen die polizeiliche Hellfeldstatistik durch Daten aus der größten deutschen Dunkelfeldstudie, die nunmehr auch Aussagen zu relativ seltenen Ereignissen erlaubt (Hellfeld: Ausschnitt des gesamten offiziell bekannten Kriminalitätsgeschehens eines Landes).
- Sie bewerten die mentalen Auswirkungen von Kriminalität und Unsicherheit.
- Sie berücksichtigen soziale Mechanismen zur Herstellung von Sicherheit, die nicht der staatlichen oder der privatwirtschaftlichen Steuerungslogik unterliegen, die aber zukünftiges Sicherheitsdenken maßgeblich beeinflussen könnten, wie Konzepte der Sozialen Wirksamkeit (collective efficacy).
- Sie stellen Unsicherheit nicht als einen objektiven Zustand unserer Gesellschaft dar, sondern zeigen drei unterschiedliche Bilder von Sicherheit: die statistisch-objektivierte Sicherheit, die subjektiv-erlebte Sicherheit und die medial-diskursive Sicherheit.
Daraus ergeben sich Analysemöglichkeiten, die das, was bisher in der kriminologischen Forschung erreichbar war, weit übertreffen.