Wie dachten eigentlich unsere Vorfahren?
Max-Planck-Forschern gelingt mittels psychologischer Forschung die Rekonstruktion urzeitlicher Kognition
Wie verstanden unsere evolutionären Vorfahren ihre Welt? Welche Strategien benutzten sie zum Beispiel, um Nahrung zu suchen? Gedanken sind in Fossilien nicht festgehalten. Deshalb blieben uns Einblicke in die kognitiven Strukturen unserer Urahnen bislang verwehrt. In einer jüngst in Current Biology (September 5, 2006) veröffentlichten Studie bedienen sich Forscher des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie einer alternativen Methode: der vergleichenden psychologischen Forschung. Dabei stellten sie fest, dass einige der in der Evolution angelegten Strategien offenbar schon sehr früh durch die einzigartige kognitive Entwicklung beim Menschen maskiert werden.
Für jede Spezies ist es von Vorteil, wenn sie sich an bestimmte Orte, die Nahrung bereithalten, erinnern und diese wieder finden kann. Um sich an die Lokalisation eines Objektes zu erinnern, gibt es zwei grundsätzliche Strategien: Entweder bedient man sich der Eigenschaften des Objekts (es handelte sich um einen Baum, einen Stein etc.) oder man merkt sich die räumliche Platzierung (links, Mitte, rechts etc.). Alle bisher im Experiment getesteten Tierarten - von Goldfischen über Tauben bis hin zu Ratten und Menschen - scheinen beide Strategien zu nutzen. Wählt man die Aufgabenstellung jedoch so, dass die beiden Strategien im Wettstreit miteinander stehen, dann bevorzugen manche Arten (z.B. Fische, Ratten und Hunde) Strategien, die sich auf den Standort beziehen, und andere (z.B. Kröten, Hühner und Menschenkinder) solche, die sich der Objekteigenschaften bedienen.
Bislang gab es keinerlei Studien, in denen diese Präferenzen systematisch entlang des phylogenetischen Stammbaums untersucht wurden. Daniel Haun und seine Kollegen haben nun erstmals die kognitiven Präferenzen bei einer ganzen Familie, nämlich den Hominiden untersucht. Sie verglichen alle fünf großen Menschenaffenarten - Orang-Utan, Gorilla, Bonobo, Schimpanse und Mensch - in ihren Vorlieben für bestimmte kognitive Strategien, um versteckte Gegenstände wieder zu finden. Wenn alle fünf Arten bestimmte Vorlieben teilen - so die Annahme der Wissenschaftler -, sind diese höchstwahrscheinlich Teil des evolutionären Erbes unseres letzten gemeinsamen Vorfahren, welcher vor etwa 15 Millionen Jahren ausstarb.
Im Wolfgang Koehler Primatenforschungszentrum im Zoo Leipzig versteckten die Forscher begehrte Gegenstände auf zwei verschiedene Arten und Weisen (Abb.2): In der so genannten "place condition" war der Gegenstand zwar am selben Ort zu finden, an dem er vorher versteckt wurde, aber unter einem anderen Objekt (z.B. einem Stein); bei der "feature condition" dagegen blieb dieses Objekt unverändert, aber der Ort wechselte. Tatsächlich bevorzugten alle vier Menschenaffen und 1-jährige Kleinkinder den Ort als Hinweis, um Verstecktes wieder zu finden, selbst wenn es jetzt unter einem völlig anderen Objekt versteckt war. Dieses Ergebnis legt nahe, dass diese Präferenz schon seit 15 Millionen Jahren Bestandteil unserer kognitiven Struktur ist.
Die Wissenschaftler untersuchten dann 3-jährige Kinder und stellten fest, dass diese - im Gegensatz zu den jüngeren Kindern - das Objekt, unter welchem ein Gegenstand versteckt wurde, als verlässlichsten Hinweis ansahen und zwar auch dann, wenn das Versteck ursprünglich an einem ganz anderen Ort war. Die Wissenschaftler haben hinreichend Hinweise, dass 1-jährigen Kindern und Menschenaffen nicht die Fähigkeit für eine Objekt basierte Strategie fehlt, sondern dass sie lediglich den Einsatz einer Standort basierten Strategie bevorzugen. Und offenbar führt die weitere kognitive Entwicklung beim Menschen dann dazu, dass er diese Präferenzen neu wiegt.
"Die einzigartige menschliche kognitive Entwicklung scheint bereits vor dem dritten Lebensjahr einige unsere evolutionär geerbten Strategien zu maskieren", sagt Daniel Haun. "Wir wollen daher in zukünftigen Experimenten herausfinden, welche Teile der kognitiven Entwicklung im Menschen - beispielsweise der Spracherwerb - für diese Restrukturierung kognitiver Präferenzen verantwortlich sind." Dieser neue methodische Ansatz und die daraus gewonnen Ergebnisse ebnen nun den Weg zu einer systematischen Erforschung der kognitiven Strukturen unserer evolutionären Vorfahren und darauf basierend zu einem besseren Verständnis über die Ursprünge menschlichen Denkens.