Ein Periodensystem für Naturstoffe

Dortmunder Max-Planck-Wissenschaftler entwickeln erste strukturelle Klassifizierung von Naturstoffen / Entdeckung einer neuen Strukturklasse von Wirkstoffen

24. November 2005

Naturstoffe sind seit jeher wichtige Ausgangspunkte für die Entwicklung neuer molekularer Werkzeuge bzw. Wirkstoffe in der Chemie und Pharmazie. Hierbei werden aufbauend auf dem strukturellen Leitmotiv eines Naturstoffs so genannte Verbindungsbibliotheken aufgebaut. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für molekulare Physiologie in Dortmund haben jetzt erstmals übergreifende strukturelle Zusammenhänge zwischen Naturstoffen beschrieben, nachdem sie zusammen mit Wissenschaftlern der Firma Novartis in Basel ca. 200.000 Naturstoffe analysiert und eine neue strukturbasierte Klassifizierung für Naturstoffe, die SCONP (Structural Classification Of Natural Products), entwickelt haben. Mit Hilfe dieses Ordnungsprinzips ist es den Forschern gelungen, eine neuartige Strukturklasse von Hemmstoffen für die 11b-Hydroxysteroid-Dehydrogenase Typ 1 (11bHSD1) zu entwickeln. Eine Hemmung dieses Enzyms gilt als viel versprechender Ansatz für die Behandlung der Fettsucht (Adipositas), des metabolischen Syndroms, der Typ-2-Diabetes sowie der kognitiven Dysfunktion (PNAS, Early Edition, 21. November 2005).

Die Wissenschaftler um Professor Herbert Waldmann interessieren sich für biologisch relevante Startpunkte, um arzneistoffähnliche Moleküle aufzuspüren, die krankheitsrelevante Proteine in ihrer Funktion beeinflussen können. Naturstoffe sind aufgrund ihrer biologischen Erprobung als Ausgangspunkt für die Wirkstoffsuche besonders gut geeignet, denn sie werden in einem Organismus zu einem ganz bestimmten biologischen Zweck produziert. So dienen Naturstoffe der chemischen Abwehr oder der Signalübertragung.

Naturstoffe werden durch bestimmte Enzyme synthetisiert und wurden im Lauf der Evolution für ihre jeweilige Funktion optimiert, die meist über eine Interaktion mit verschiedenen Proteinen vermittelt wird. Die chemischen Strukturen von Naturstoffen sind daher von vorn herein "privilegierte" Motive, die den von der Natur genutzten Teil des "chemischen Raums" für kleine organische Moleküle abstecken. Die Gesamtheit aller denkbaren chemischen Strukturen kann man sich als unendlichen Strukturraum vorstellen, ganz ähnlich wie das Weltall, wobei im Strukturraum einzelne chemische Moleküle die "Sterne" und Gruppen von Molekülen die "Galaxien" darstellen.

Die Gerüststrukturen von Naturstoffen haben die Dortmunder Forscher zusammen mit ihren Kooperationspartnern von der Firma Novartis nun untersucht und hierarchisch nach Gerüstgröße und damit ihrer Komplexität in einem Baumdiagramm klassifiziert (s. Abb. 1). Dazu erstellten die Wissenschaftler strukturbasierte Genealogien der Naturstoffgrundgerüste und brachten diese zueinander in Korrelation . Auf diese Weise wurde jedes Naturstoff-Grundgerüst auf ein Ein-Ringgerüst als Grundeinheit zurückgeführt.

Entstanden ist eine Art "phylogenetischer Baum", in dem die chemischen Grundgerüste nach ihrer strukturellen Verwandtschaft und der Anzahl der Ringe im Gerüst geordnet sind. Jeder Knoten in diesem Baumdiagramm steht für eine bestimmte Grundgerüststruktur, von der aus weitere Verzweigungen zu abgeleiteten, komplexeren Gerüststrukturen führen können. Diese Grundgerüst-basierte strukturelle Klassifizierung von Naturstoffen wurde an jedem Knoten mit dem biologischen Quellorganismus und dem biologischen Effekt, soweit bekannt, annotiert. Damit haben die Forscher zum ersten Mal ein strukturbasiertes Ordnungsprinzip für Naturstoffe (‚Structural Classification Of Natural Products’, SCONP) entwickelt, das als Navigator durch den Strukturraum aller Naturstoffe dienen kann.

Das haben die Forscher selbst unter Beweis gestellt: Unter Anwendung von SCONP in Verbindung mit PSSC als zweitem Kriterium, einem Konzept, mit dem man Proteine aufgrund von strukturellen Ähnlichkeiten gruppieren kann, konnten sie aus dem komplexen Naturstoff und unselektiv auf das Enzym 11bHSD- wirkenden Hemmstoff Glycyrrhetinsäure (1, s. Abb. 2) strukturell vereinfachte, aber wirksame und hochselektive Inhibitoren für dieses Enzym entwickeln.

Dazu wurde das Grundgerüst der Glycyrrhetinsäure 1 zunächst strukturell in den SCONP-Baum eingeordnet. Anschließend führte ein wurzelwärts, also in Richtung einfacherer Grundgerüste gerichtetes "Schwinghangeln" im SCONP-Baum zu einer Gruppe von Zwei-, Drei-, und Vierring-Grundgerüsten, die in Naturstoffen am häufigsten vertreten sind. Diese Erkenntnis ergab sich aus der statistischen Analyse der Häufigkeiten der jeweiligen Naturstoffgrundgerüste. Aus dieser Untermenge der Naturstoffgrundgerüste wählten die Forscher unter Einbeziehung von PSSC als zweitem, unabhängigem Kriterium das Octahydronaphthalin-Grundgerüst aus, das auch im Dysidiolid (2, s. Abb. 2) zu finden ist.

Anschließend wurde eine Kollektion von 162 Verbindungen mit Octahydronaphthalin-Grundgerüst biochemisch darauf untersucht, ob das Enzym 11bHSD1 gehemmt wird. Insgesamt ließen sich auf diese Weise in der Verbindungsbibliothek 30 unterschiedliche Hemmstoffe identifizieren. Vier Inhibitoren hemmten das Enzym im nanomolaren Bereich. Bei der aktivsten und selektivsten Substanz (3, s. Abb. 2) konnte zudem die zelluläre Aktivität dieser neuen Hemmstoff-Strukturklasse nachgewiesen werden.

Als nächstes planen die Forscher, das Klassifizierungskonzept noch zu verfeinern und weitere Nachweise zu liefern, wie man dieses Konzept für die gezielte Entwicklung von neuen molekularen Werkzeugen bzw. Wirkstoffen einsetzen kann.

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