Marathon der Nanosprinter

Max-Planck-Wissenschaftler zeigen, dass nur wenige molekulare Motoren ausreichen, um Nanofrachten über große Entfernungen zu transportieren

14. November 2005

Biomolekulare Motoren, die sich entlang von Filamenten des Zytoskeletts bewegen, fungieren als Frachttransporter in Zellen und biomimetischen Systemen. Schon ein einziges Motormolekül reicht aus, um Vesikelbläschen oder Latexkügelchen über einige Mikrometer zu transportieren. Ist der Weg länger, müssen mehrere Motormoleküle zusammenwirken. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam haben jetzt gezeigt, dass bereits sieben bis acht Motormoleküle ausreichen, um Nanofrachten über einige Zentimeter oder sogar Meter zu transportieren. Außerdem zeigen die Forscher, dass eine auf die Zugmotoren einwirkende Lastkraft die Frachtgeschwindigkeit deutlich reduziert. Die Beziehung zwischen Kraft und Frachtgeschwindigkeit ist dabei stark nichtlinear. (PNAS, Advanced Online Publication, November 14-18, 2005).

Molekulare Motoren sind die "Nano-Traktoren" für alle Frachten, die in den Zellen eines Organismus transportiert werden. Sie bewegen sich schrittweise entlang der Filamente des Zytoskeletts, indem sie die Energie, die durch die Hydrolyse von ATP entsteht, als eine Art Treibstoff für die Fortbewegung nutzen. Dabei bewegen sich die Motorproteine Kinesin bzw. Dynein entlang von Mikrotubuli, Myosine dagegen entlang von Aktinfilamenten. Die Schrittlänge der Motoren beträgt hier etwa 10 Nanometer. Während die Motoren an den Filamenten entlang marschieren, bewegen sie Frachtpartikel, die viel größer sind als sie selbst. Neben ihrer vitalen Bedeutung für die Funktionsweise von Zellen lassen diese molekularen Motoren viele Anwendungsmöglichkeiten erwarten. Als biomimetische Transportsysteme nehmen sie künftig sicherlich eine Schlüsselrolle in der aufkommenden Bio-Nanotechnologie ein.

Der aktive, durch molekulare Motoren angetriebene Transport ist besonders wichtig für Nervenzellen oder Neuronen. Diese Zellen besitzen lang ausgestreckte Kompartimente, so genannte Axone, die den Zellkörper mit Synapsen verbinden, die wiederum Nervensignale von einem Neuron zum anderen übermitteln. Die Länge der Axone kann mehrere Zentimeter und manchmal sogar Meter erreichen, wie jene Axone, die unsere Finger- oder Fußspitzen mit dem Rückenmark verbinden. Innerhalb dieser Axone wirken die Mikrotubuli als Schienen, auf denen dann die molekularen Motoren ihr Frachtgut - wie mit Neurotransmittern gefüllte Vesikel - transportieren.

Während des letzten Jahrzehnts ist das Wissen über molekulare Motoren stark gestiegen. Dies ist hauptsächlich der Entwicklung leistungsfähiger Einzelmolekülexperimente und biomimetischer Modellsysteme zu verdanken, die das systematische Studium molekularer Motoren außerhalb von Zellen ermöglichen. Ein Beispiel dafür ist das so genannte "bead assay"-Kügelchenexperiment, bei dem Filamente unbeweglich auf einer Oberfläche angeordnet sind und molekulare Motoren Latexkügelchen entlang dieser Filamente bewegen. Die Bewegung dieser Kugeln kann unter dem Mikroskop beobachtet werden.

Hierbei stellte sich heraus, dass molekulare Motoren - im Unterschied zu Eisenbahnen oder Autos - die Tendenz haben, von der Schiene oder Straße abzukommen und anschließend Zufallsbewegungen in der sie umgebenden wässrigen Lösung auszuführen. Dieses Phänomen ergibt sich aus ihrer winzigen Größe im Nanometerbereich, die sie anfällig macht für thermische Störungen. Daher kann sich ein einziger molekularer Motor nur für eine relativ kurze Zeit - etwa eine Sekunde - auf dem Filament halten. Während dieser Zeit legt dieser Motor eine Entfernung von ungefähr einem Mikrometer zurück, was nur einen winzigen Teil (ca. 1/10.000) der langen Transportdistanz von Frachtpartikeln in Axonen ausmacht. Anders ausgedrückt schafft der einzelne Motor nur einen Kurzstreckensprint, während das gesamte Frachtgut einen Marathon zurücklegen muss.

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam haben jetzt eine einfache Lösung für dieses Rätsel gefunden. Wird die Fracht von mehreren Motoren gleichzeitig gezogen (s. Abb.), so bleibt jeder Motor, der sich vom Filament ablöst, in dessen unmittelbarer Nähe, solange Fracht und Filament noch mit mindestens einem Motor verbunden sind. In dieser Situation ist der freie Motor in der Lage, erneut an das Filament zu binden und dann den Transport des Frachtguts fortzusetzen. Im Gegensatz zu menschlichen Sprintern gibt es also bei molekularen Motoren auch nach vielen aufeinanderfolgenden Läufen keine Ermüdungserscheinungen.

Der entdeckte Mechanismus wurde von einem neuen theoretischen Modell abgeleitet, das zwischen den verschiedenen gebundenen Zuständen der Frachtpartikel unterscheidet und die Übergänge zwischen diesen Zuständen beschreibt. Unter Benutzung dieses Modells waren die Max-Planck-Wissenschaftler in der Lage, verschiedene Transporteigenschaften, wie die durchschnittliche Geschwindigkeit oder die Lauflänge der Frachtpartikel, als Funktion der maximalen Zahl der Zugmotoren zu berechnen. Für Kinesin-Motoren zeigen diese Berechnungen, dass bereits sieben bis acht Motoren für den Transport über eine Entfernung von mehreren Zentimetern ausreichen. Ein Frachtpartikel, das von zehn Motoren gleichzeitig gezogen wird, kann sogar eine durchschnittliche Strecke von ungefähr einem Meter zurücklegen.

Bewegen sich die molekularen Motoren entgegen einer externen Lastkraft, wird diese Kraft unter den Zugmotoren aufgeteilt. In der Folge sinkt die Geschwindigkeit des Frachtguts. Darüber hinaus steigt mit der Kraft, die auf jeden Zugmotor einwirkt, die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Motor vom Filament ablöst. Je mehr Motoren sich wiederum ablösen, desto größeren Kräften sind die verbleibenden Zugmotoren ausgesetzt, so dass die Wahrscheinlichkeit einer Ablösung immer weiter steigt. Das führt zu einer dominoartigen Abfolge von Ablöseprozessen und zu einer stark nichtlinearen Abhängigkeit der Frachtgeschwindigkeit von der externen Lastkraft. Ähnliche Dominoeffekte erwarten die Forscher bei noch komplexeren Situationen, wenn das Frachtgut von verschiedenartigen molekularen Motoren bewegt wird.

Alle von der neuen Theorie vorausgesagten Transporteigenschaften lassen sich in Experimenten überprüfen, die auf bereits vorhandene Untersuchungstechniken für einzelne Motoren zurückgreifen. So stehen erste experimentelle Befunde aus dem Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Übereinstimmung mit den theoretischen Voraussagen. Darüber hinaus wird die quantitative Theorie es künftig ermöglichen, biomimetische Transportsysteme für lab-on-a-chip-Anwendungen zu kreieren: So könnten molekulare Motoren ganz bestimmte Molekülen gezielt zu spezifischen Reaktionsorten auf dem Chip transportieren. Je nachdem, wie die Filamente in solchen Systemen angeordnet sind, kann man über die Variation der Laufstrecke von molekularen Transportern gezielt steuern, wie Reagenzien zu ganz bestimmten Zielorten gebracht oder alternativ verteilt werden.

Zur Redakteursansicht