Forschungsbericht 2011 - Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen

Neurobiologie des marinen Zooplanktons

The neurobiology of marine zooplankton

Autoren
Jékely, Gáspár
Abteilungen
Neurobiologie des marinen Zooplankton
Zusammenfassung
Die Ozeane der Erde wimmeln von mikroskopisch kleinen Tieren – Myriaden winziger schwimmender Kreaturen, die durch das Wasser wirbeln und in ihrer Gesamtheit als Zooplankton bezeichnet werden. Diese Organismen nehmen ihre Umwelt wahr und reagieren auf sie: Sie registrieren, woher das Licht kommt, wie kalt das Wasser ist, oder in welcher Tiefe sie sich befinden – all dies mit Nervensystemen, die erstaunlich einfach gebaut sind. Die Arbeitsgruppe erforscht, wie diese Nervensysteme verschaltet sind und wie sie arbeiten. Als Modell dient der marine Ringelwurm Platynereis.
Summary
The world’s oceans are teeming with microscopic animal life, with myriads of tiny critters, collectively called zooplankton, swimming and swirling in the water. These organisms sense and react to their environment, are able to sense where the light is coming from, how cold the water is, or how deep they are. They achieve this with nervous systems of surprising simplicity. The research group is trying to understand, using the marine annelid Platynereis as a model, how these nervous systems are wired up and function.

Das Leben planktischer Larven

Zooplankton kommt in vielerlei ungewöhnlichen Formen vor und bildet ein ganzes Universum für sich: Birnenförmige, behaarte Zellgruppen kommen ebenso vor wie spiralige Bälle mit winzigen Augen oder kleine Zyklopen mit langen Antennen. Krebstiere wie Ruderfußkrebse (Copepoden) zählen wohl zu den bekanntesten Vertretern und kommen im Meer auch am häufigsten vor. Zum Plankton zählen jedoch auch die schwimmenden Larven vieler Wirbelloser, die als ausgewachsene Tiere auf dem Meeresboden leben. Solch ein larvales Verbreitungsstadium ist in einigen Tiergruppen recht häufig, etwa bei Schnecken, Muscheln, Seesternen und verschiedenen Meereswürmern [1]. Die winzigen Larven haben eine besondere Art, sich zu bewegen: Während größere Tiere – wie etwa Fische oder Kühe – sich mithilfe von Muskeln vorwärtsbewegen, benutzen viele der planktischen Larven hierfür sogenannte Zilien. Wenn diese dünnen, haarähnlichen Fortsätze schlagen, verdrängen sie Wasser und versetzen die Larve so in Bewegung. Schlagen die Zilien schnell und kontinuierlich, dann schwimmen die Larven nach oben; hören sie auf zu schlagen, sinken die Larven ab [2].

Die Larven sind in der Lage, verschiedene Umweltbedingungen wie Temperatur, Licht oder Salzgehalt wahrzunehmen. Auf Veränderungen dieser Parameter reagieren sie, indem sie ihre Schwimmaktivität und ihre Schwimmtiefe anpassen. Wassertemperatur, Lichtintensität und Phytoplankton-Dichte ändern sich mit der Wassertiefe. Daher hat die Schwimmtiefe Einfluss auf die Geschwindigkeit der Larvenentwicklung, das Ausmaß von UV-Schäden sowie den Fress- und Siedlungserfolg. Um sich in einer günstigen Wassertiefe aufzuhalten, müssen planktische Schwimmer daher Umweltsignale wahrnehmen und ihren Zilienschlag entsprechend regulieren. Die neuronalen Grundlagen dieser Regulation sind jedoch noch immer nur wenig verstanden.

Das Meer nach Tübingen holen - das marine Annelidenmodell Platynereis

Um die Neurobiologie der zilientragenden Larven mit neuesten bildgebenden und molekularbiologischen Methoden untersuchen zu können, mussten die Tübinger Wissenschaftler zunächst eine große Meerwasser-Kultur aufbauen. Der marine Annelid Platynereis dumerilii, der bereits seit mehreren Jahrzehnten in Deutschland gezüchtet wird, erwies sich dabei als idealer Modellorganismus (Abb. 1, [3]). Der Ringelwurm ist leicht mit einer Kost aus Spinat und trockenem Fischfutter zufrieden zu stellen und kann außerdem durch einen künstlichen Mondzyklus dazu gebracht werden, sich im Labor zu vermehren. In ihrem Meereslabor verfügen die Tübinger Forscher derzeit über mehr als 300 Aquarien und können das ganze Jahr über an jedem beliebigen Tag eine Eiablage herbeiführen oder Embryonen und Larven gewinnen (Abb. 2). Wenn ein Weibchen zur Eiablage bereit ist, füllt sich ihre Leibeshöhle mit hunderten von Eiern, die während eines Hochzeitstanzes mit den Männchen freigesetzt werden. Die Elterntiere sterben dabei, hinterlassen aber eine Schar wunderbar durchsichtiger Larven, die sich synchron entwickeln. Diese Larven besitzen Tausende von Zilien, die in einem äquatorialen Band angeordnet sind. Damit schwimmen sie im Labor genauso wie im offenen Meer.

Wie tief sollen wir schwimmen?

Der stete Nachschub von zilientragenden Platynereis Larven aus der Meerwasser-Kultur macht es möglich, ihre Gene, ihr Verhalten und die neuronalen Schaltkreise detailliert zu untersuchen. Bisherige Ergebnisse deuten darauf hin, dass die neuronalen Schaltkreise von Platynereis Larven außergewöhnlich einfach strukturiert sind. Viele sensorische Nervenzellen haben zugleich auch eine motorische Funktion: Sie senden den Bewegungsimpuls direkt über ihre Axone an das Zilienband. Solch einfache Schaltkreise sind von der muskelbasierten Fortbewegung nicht bekannt; dort arbeiten in einem Schaltkreis stets sensorische Neuronen, Interneuronen und motorische Neuronen zusammen.

Eine Aufgabe der simplen sensorisch-motorischen Nervenzellen von Platynereis Larven ist die Regulation der Schwimmtiefe. Sie wird durch die Geschwindigkeit, die Häufigkeit und die Dauer des Zilienschlags bestimmt. Diese Parameter ziliärer Aktivität unterliegen der Kontrolle durch mehrere neuronale Signalstoffe, sogenannte Neuropeptide, die in einer Gendatenbank von Platynereis gefunden wurden [4]. Die Neuropeptide werden in einzelnen sensorischen Nervenzellen produziert und direkt am Zilienband freigesetzt (Abb. 3). Manche dieser Neuropeptide beeinflussen die Schlagfrequenz der Zilien, und manche wirken auch auf die Frequenz von Schlagpausen. Indem man diese Neuropeptide dem Meerwasser zusetzt, kann man die Auf- und Abwärtsbewegung der freischwimmenden Larven kontrollieren und ihre Schwimmtiefe verändern. Dass die Neuropeptide in sensorischen Neuronen exprimiert werden, deutet darauf hin, dass diese einfachen Schaltkreise auf Signale aus der marinen Lebenswelt der Larven reagieren, um ihre Schwimmtiefe zu regulieren [4]. Mithilfe des Platynereis-Modells ist es nun möglich, diese Reaktionen und die dafür verantwortlichen Neuronen mit neuesten genetischen und molekularen Methoden zu untersuchen. Zukünftigen Studien werden zeigen, wie einzelne Nervenzellen unterschiedliche sensorische Informationen, etwa über den Wasserdruck, die Temperatur oder den Salzgehalt verarbeiten.

Einfache Augenflecken registrieren, woher das Licht kommt

Ein wichtiger Umweltfaktor, der über die Verteilung des Planktons entscheidend mitbestimmt, ist das Licht. Wie die Larven anderer mariner Wirbelloser reagieren auch die Larven von Platynereis sehr stark auf Licht und schwimmen auf Lichtquellen zu. Dieses als Phototaxis bezeichnete Verhalten wird durch die einfachsten Augen vermittelt, die jemals beschrieben wurden [5]. Diese Augen oder Augenflecken bestehen aus nur zwei Zellen: einer Photorezeptorzelle und einer Pigmentzelle. Damit ähneln sie den „Proto-Augen“, die bereits Charles Darwin als die ersten Augen in der Evolution der Tierwelt postuliert hat (Abb. 4).

Mit ihren Augenflecken können die Larven keine Objekte erkennen, sie können lediglich die Richtung bestimmen, aus der das Licht kommt. Möglich wird dies durch die besondere Anordnung der beiden Zellen: Die Pigmentzelle bildet einen kleinen Becher, der die Photorezeptorzelle von einer Seite umgibt. Das Pigment absorbiert Licht und wirft einen Schatten auf den Photorezeptor. Daher wird dieser nur dann aktiviert, wenn das Licht aus der nicht beschatteten Richtung einfällt. Weil die Larven sich spiralig fortbewegen und sich ständig um die eigene Achse drehen, erhält bei jeder Drehung einmal das eine, dann wieder das andere Auge einen stärkeren Lichtreiz. Bemerkenswert ist dabei, dass die Photorezeptorzelle über ein Axon direkt mit dem Zilienband der Larve verbunden ist. Ähnlich den tiefen-regulierenden Neuronen ist demnach auch das Auge direkt mit dem für die Fortbewegung zuständigen Zilienband verschaltet. Anders als jedes andere bekannte Auge schickt es also keinerlei Informationen an das Gehirn. Wenn der Photorezeptor belichtet wird, generiert er ein elektrisches Signal, das sich entlang dem Axon ausbreitet und den Schlag der auf dieser Seite der Larve gelegenen Zilien verlangsamt. Über diese direkte sensorisch-motorische Verbindung wird die Wasserströmung auf der belichteten Seite lokal beeinflusst. Dies reicht aus, um die Richtung der spiraligen Schwimmbewegung zu verändern [5, 6].

Einblicke in die frühesten Stadien der Augen- und Gehirnevolution

Wenn wir die Augenflecken und die einfachen Zilien regulierenden Neuronen der Platynereis Larven untersuchen, kommen wir der Frage, wie die allerersten, ursprünglichen Augen und Nervensysteme ausgesehen haben, so nahe wie mit keinem anderen Modell. Die enge Verbindung von Licht- und anderen Sensoren mit Zilien stellt vermutlich einen wichtigen und frühen Schritt in der Evolution von Augen und Nervensystemen im Tierreich dar. Weil die ziliengestützte Fortbewegung evolutionär älter ist als die Fortbewegung mithilfe von Muskeln, ist davon auszugehen, dass ursprüngliche Neuronen eher Zilien als Muskeln angesteuert haben. Bei den Larven vieler mariner Wirbelloser folgt die Phototaxis auch heute noch einer Strategie, die der von Platynereis äquivalent ist – und sie besitzen vermutlich noch weitere einfache sensorisch-motorische Neuronen, mit denen sie die Zilienaktivität regulieren.

Es ist eine aufregende Vorstellung, dass diese marinen Larven sich über hunderte von Millionen von Jahren hinweg einige Elemente der Darwin‘schen Proto-Augen und der frühesten Nervensysteme bewahrt haben [7]. Weitere Studien an Platynereis Larven werden zeigen, wie andere einfache Schaltkreise aufgebaut sind, wie sie funktionieren, wie die Larven auf widersprüchliche Reize reagieren und wie sich der Übergang zum komplexeren Nervensystem der adulten Tiere vollzieht. Darüber hinaus werden sie Aufschluss darüber geben, welche Formen und Funktionen von Augen und Nervensystemen in den frühesten Stadien der Tierevolution verwirklicht gewesen sein könnten.

Young, C. M. (ed.)
Atlas of Marine Invertebrate Larvae
San Francisco: Academic Press (2002)
Chia, F.; Buckland-Nicks, J.; Young, C.
Locomotion of Marine Invertebrate Larvae: a Review
Canadian Journal of Zoology 62, 1205–1222 (1984)
Fischer, A.; Dorresteijn, A.
The polychaete Platynereis dumerilii (Annelida): a laboratory animal with spiralian cleavage, lifelong segment proliferation and a mixed benthic/pelagic life cycle
Bioessays 26, 314–325 (2004)
Conzelmann, M.; Offenburger, S.-L.; Asadulina, A.; Keller, T., Münch; T. A.; Jékely, G.
Neuropeptides regulate swimming depth of Platynereis larvae
Proceedings of the National Academy of Sciences USA 108 (46), 1174-1183 (2011)
Jékely, G.; Colombelli, J.; Hausen, H.; Guy, K.; Stelzer, E. H. K.; Nédélec, F.; Arendt, D.
Mechanism of phototaxis in marine zooplankton
Nature 456, 395–399 (2008)
Jékely, G.
Evolution of phototaxis
Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 364, 2795–2808 (2009)
Jékely, G.
Origin and early evolution of neural circuits for the control of ciliary locomotion
Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 278, 914–922 (2011)
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