In 80 Tagen um die Welt - wie sich Epidemien ausbreiten
Computermodell zur Vorhersage weltweiter Epidemien entwickelt
Die weltweite Ausbreitung der Lungenerkrankung SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) hat gezeigt, über welch tödliches Potenzial moderne Infektionskrankheiten in einer global vernetzten, interdependenten Welt verfügen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung in Göttingen und der Universität Göttingen haben jetzt ein mathematisches Modell vorgestellt, mit dem man die weltweite Verbreitung von Infektionskrankheiten nicht nur beschreiben, sondern auch mithilfe von Computersimulationen voraussagen kann. Das Modell kombiniert die lokale Dynamik der Infektion von Individuen mit dem Transport in einem Netzwerk, das den weltweiten zivilen Luftverkehr nachbildet. Damit gelang bei der Simulation von SARS eine überraschend gute Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Verlauf der Epidemie. Künftig sollte das neue Modell es ermöglichen, sowohl die Ausbreitung neu ausgebrochener Infektionskrankheiten als auch die davon besonders bedrohten Regionen vorher zu sagen. Die Simulationen zeigen, dass nur eine schnelle und konzentrierte Reaktion die Chance bietet, die globale Ausbreitung moderner Epidemien einzudämmen (PNAS, 19. Oktober 2004).
Die globale Ausbreitung von SARS im Frühjahr 2003 hat gezeigt, wie stark unsere vernetzte Welt durch die Ausbreitung neuartiger infektiöser Krankheiten bedroht ist. Im Fall der Vogelgrippe könnte eine genetische Vermischung mit menschlichen Grippeviren sogar plötzlich zum Entstehen eines gänzlich neuartigen "Supervirus" führen. Nach Einschätzung von Experten wäre eine weltweite Epidemie mit erheblichen Konsequenzen die Folge: Allein in den USA müsste man vorsichtigen Schätzungen zufolge mit rund 200.000 Toten und Kosten zwischen 60 und 160 Milliarden US-Dollar rechnen.
Eine große Rolle bei der heutigen Ausbreitung von Epidemien spielt die globale Vernetzung. Aufgrund der hohen Mobilität in modernen Gesellschaften, insbesondere durch den internationalen Flugverkehr, können sich hoch virulente Krankheitserreger rasend schnell über alle besiedelten Gebiete der Erde ausbreiten. Wie und auf welchen Wegen das geschieht, haben Wissenschaftler des Göttinger Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung und des Instituts für Nichtlineare Dynamik der Universität Göttingen jetzt berechnet. Mit einem neuartigen Modell, das die Infektionsdynamik mit dem Transport in einem Netzwerk kombiniert, in dem 95 Prozent des weltweiten Flugverkehrs erfasst sind, konnten sie zeigen, dass sich die geographische Ausbreitung von Epidemien durch die Analyse der Passagierströme im internationalen Flugverkehr vorhersagen lässt. Computersimulationen am Beispiel von SARS lieferten nicht nur eine genaue Vorhersage der Ausbreitung, sondern ermöglichen auch Vorhersagen, welchen Erfolg potenzielle Impf- und Kontrollstrategien haben würden.
In der Geschichte der Menschheit haben sich immer wieder ansteckende Krankheiten lawinenartig über weite geographische Gebiete ausgebreitet und Opfer in großer Zahl gefordert. Prominente Beispiele sind die Pest-Epidemie aus dem 14. Jahrhundert, der etwa ein Viertel der damaligen Bevölkerung in Europa zum Opfer fiel, oder die "Spanische Grippe" von 1918, die mehr Opfer gefordert hat als die beiden Weltkriege zusammen.
Mathematische Standardmodelle beschreiben die Entwicklung von Epidemien bisher durch Diffusionsprozesse ganz ähnlich zu Molekülen, die in einer Flüssigkeit diffundieren und mit anderen Molekülen chemische Reaktionen ausführen können. Diese Standardmodelle sagen voraus, dass sich Epidemien in Form von Wellenfronten mit konstanter Geschwindigkeit geographisch ausbreiten. In der Tat konnte diese Art der Ausbreitung bei der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts nachvollzogen werden, die sich innerhalb von drei Jahren vom Süden Europas (Sizilien) über Zentraleuropa nach Norden (Norwegen) ausdehnte. Diese diffusionsartige Ausbreitung basiert jedoch auf der Tatsache, dass Menschen in früheren Jahrhunderten nur vergleichsweise kurze Distanzen pro Tag zurücklegen konnten. Hingegen reisen die Menschen in der heutigen globalisierten Welt viel weiter, viel häufiger und vor allem - viel schneller. Das Beispiel von SARS hat gezeigt, dass das veränderte Reiseverhalten einen erheblichen Einfluss auf die Ausbreitung von Krankheiten hat. Von der Provinz Guandong (China) aus hat sich der SARS-Erreger in Windeseile über Hongkong in alle Teile der Welt ausgebreitet.
L. Hufnagel, D. Brockmann und T. Geisel vom Max-Planck-Institut für Strömungsforschung und vom Institut für Nichtlineare Dynamik der Universität Göttingen haben jetzt erstmals ein dynamisches Modell entwickelt, das quantitative Erkenntnisse und Vorhersagen der globalen Ausbreitung von Epidemien erlaubt. In ihrem Modell bewegen sich infizierte Individuen zwischen den verschiedenen Knotenpunkten des globalen Flugnetzes und infizieren auf diese Weise andere Individuen - ähnlich wie bei einer chemischen Reaktion. Die Wissenschaftler haben in ihrem Modell mehr als 2 Millionen Flüge pro Woche zwischen den 500 größten Flughäfen der Welt berücksichtigt, was etwa 95 Prozent des gesamten zivilen Luftverkehrs entspricht. Die Ausbreitungs- und Ansteckungsdynamik wird durch einen Satz so genannter stochastischer Differenzialgleichungen beschrieben. Parameter des Modells sind krankheitsspezifische Größen, etwa die Zahl von Sekundärinfektionen, die ein infiziertes Individuum durchschnittlich auslöst, oder Heilungs- bzw. Mortalitätsraten.
Auf diese Weise konnten die Göttinger Forscher nachweisen, dass große Knoten im Luftverkehrsnetz, wie London, New York und Frankfurt, für eine rapide weltweite Ausbreitung einer Epidemie verantwortlich sind, und das weitestgehend unabhängig vom Ort des ersten Auftretens eines Krankheitserregers. Dabei ist die Kapazität des Flughafens an einem Knotenpunkt viel weniger entscheidend als der Grad seiner Vernetzung. "Wir konnten zeigen, dass der Versuch, eine Epidemie durch Isolation der zentralen Knoten einzudämmen, sehr vielversprechend ist, während ein Blockieren der stärksten Verbindungslinien praktisch kaum einen Effekt hat", so die Forscher.
"Das überraschend hohe Maß an Übereinstimmung zwischen den Vorhersagen des Modells und der von der WHO registrierten faktischen Ausbreitung von SARS legen nahe, dass man mithilfe dieses neuen Modells die fatalen Folgen zukünftiger Epidemien einschränken könnte." So kann die Effizienz verschiedener Strategien schon vor der Durchführung von Impf- und Kontrollmaßnahmen in der Computersimulation getestet und verglichen werden. Gerade weil sich Epidemien heute so rasant über den gesamten Globus ausbreiten können, ist die schnelle Verfügbarkeit solcher Vorhersagen von entscheidender Bedeutung. Sie könnte letztlich zu einer Reduktion der Kosten, vor allem aber der Zahl der Opfer beitragen.
Warum befassen sich gerade Physiker mit Untersuchungen zur Ausbreitung von Epidemien? Professor Geisel, Direktor am Max-Planck-Institut für Strömungsforschung erklärt: "Als theoretische Physiker sind wir gewohnt, mehr oder weniger komplexe Vorgänge in mathematische Modelle zu fassen, das gehört zu unseren Stärken. Im Falle der Epidemien sind unsere Modelle formal ähnlich zu Modellen, die man auch in der statistischen Physik formulieren würde. Meinem Mitarbeiter Lars Hufnagel, der übrigens inzwischen am Institut des diesjährigen Nobelpreisträgers für Physik David Gross in Santa Barbara arbeitet, war aufgefallen, dass die Standardmodelle für die Ausbreitung von Epidemien ungeeignet waren, um die sprunghafte globale Verbreitung von SARS zu simulieren. Es ist uns dann gelungen, ein realistischeres Modell aufzustellen und zu untersuchen, ein Beispiel für die Fruchtbarkeit interdisziplinärer Anstrengungen."