50 neue genetische Ursachen für geistige Behinderung entdeckt

Genetische Defekte, bei denen nur ein Gen betroffen ist, führen zu geistigen Behinderungen und verwandten Störungen

21. September 2011

Seit mehr als 15 Jahren konzentriert sich die Genomforschung auf die Suche nach häufigen genetischen Risikofaktoren von Volkskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Schizophrenie und Krebs, weitgehend ohne Erfolg. Eine der Ursachen dafür ist, dass sich hinter diesen Krankheitsbildern viele verschiedene genetische Störungen verbergen können, und nicht selten handelt es sich dabei um Defekte einzelner Gene. Die meisten dieser Gendefekte sind jedoch noch nicht aufgeklärt. Forschern des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik in Berlin und ihren Kollegen aus dem Iran ist es jetzt gelungen, 50 bisher unbekannte genetische Ursachen für geistige Behinderung zu identifizieren. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass mehrere dieser neuen Gendefekte auch für verwandte Störungen wie Autismus, Schizophrenie oder Epilepsie verantwortlich sind.

Bis heute sind annähernd 7000 ‚monogene’ Krankheiten bekannt, und für etwa die Hälfte ist der betreffende Gendefekt bereits identifiziert. Sie finden sich bei etwa 17 Prozent aller Kinder, die in Krankenhäuser eingewiesen werden. Ihr Anteil an den Gesamtkosten der Krankenversorgung liegt noch deutlich höher. Viele monogene Krankheiten sind jedoch noch unbekannt. Sie werden oft nicht diagnostiziert, weil es sich um Fälle ohne erkennbare familiäre Häufung oder um Patienten mit vermeintlich komplexen Volkskrankheiten handelt.

Ein internationales Konsortium unter maßgeblicher Beteiligung des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik hat jetzt 50 bisher unbekannte genetische Ursachen für geistige Behinderung bei Kindern entdeckt. Diese Störung tritt nur auf, wenn die – in der Regel gesunden – Eltern eine Anlage für einen bestimmten Gendefekt tragen und wenn beide eine mutierte Kopie desselben Gens an ihre Kinder vererben. Über solche ‚rezessiven’ Gendefekte ist bisher besonders wenig bekannt, denn für ihre Aufklärung benötigten die Wissenschaftler Familien mit mehreren Betroffenen – also möglichst Großfamilien.

In Deutschland und anderen westlichen Ländern sind solche Familien selten, jedoch nicht in Bevölkerungen des Nahen und Mittleren Ostens. Zudem sind viele Eltern in diesen Ländern verwandt, was die Ursache dafür sein könnte, daß dort geistige Behinderung etwa drei Mal häufiger ist als bei uns. Daher arbeiteten die Max-Planck-Forscher eng mit einem Forschungszentrum im Iran zusammen. Wir alle tragen Gendefekte in uns. Doch für Blutsverwandte ist das Risiko viel größer, dass es sich dabei um dieselben Gendefekte handelt“, sagt Hilger Ropers. Kranke Kinder blutsverwandter Eltern tragen zwei identische Kopien des verantwortlichen Gendefekts, aber auch die umgebenden Chromosomenabschnitte sind völlig gleich. Das erleichterte es den Forschern, das defekte Gen zu finden.

Seit Beginn der Kooperation 2003 wurden mehr als tausend überwiegend iranische Familien mit behinderten Kindern für Untersuchungen herangezogen. Bei 136 dieser Familien konnten die Forscher den Defekt im Genom hinreichend genau lokalisieren und bei 78 mithilfe neuer Sequenziertechniken identifizieren.

Neben Mutationen in 22 schon bekannten Krankheitsgenen fand das deutsch-iranische Forscherteam auffällige Veränderungen in 50 weiteren Genen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen ließen sich diese Gene bekannten regulatorischen Signalwegen zuordnen. Viele Produkte der auffällig veränderten Gene interagieren direkt mit anderen Eiweißen in diesen Netzwerken, die von bereits bekannten Genen für geistige Behinderung kodiert werden. „Das ist ein direkter Hinweis darauf, dass die von uns gefundenen Gene tatsächlich für die Behinderung verantwortlich sind“, so Ropers.

Überraschenderweise ist ein Großteil dieser Gene und Genprodukte nicht ausschließlich im menschlichen Gehirn aktiv, sondern auch in anderen Organen. Die Forscher vermuten, dass dies mit einer besonderen Anfälligkeit des Gehirns für Störungen des zellulären Stoffwechsels und anderer grundlegender zellulärer Funktionen zusammenhängen könnte, die auf die enorme Komplexität des zentralen Nervensystems zurückgeht. Den endgültigen Beweis dafür, dass die gefundenen Genmutationen die Hirnfunktion beeinflussen, sollen laufende Untersuchungen an Tiermodellen liefern.

Diese in der englischen Zeitschrift Nature online publizierten Untersuchungen belegen die enorme genetische Vielfalt geistiger Behinderungen und unterteilen sie in unterschiedliche monogene Defekte, die in den meisten Fällen auf einzelne Familien beschränkt sind. „Unsere Erkenntnisse werden dazu beitragen, die oft jahrelange Suche betroffener Familien nach einer belastbaren Diagnose entscheidend zu verkürzen und ihnen neue Möglichkeiten für die Familienplanung eröffnen“, sagt Hilger Ropers.

Überdies sind diese Untersuchungen ein Modell für die Aufklärung verwandter Störungen wie Autismus, Schizophrenie und Epilepsie, aber auch für viele andere komplexe Krankheiten mit genetischem Hintergrund, bei denen genomweite Assoziationsstudien weitgehend erfolglos geblieben sind. Es gibt Hinweise darauf, dass solche Störungen und geistige Behinderung häufig verwandt sind. So leiden ungefähr 30 Prozent aller Menschen mit geistiger Behinderung auch an Epilepsie, und sogar 70 bis 80 Prozent aller Autisten sind auch geistig behindert. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind daher auch für die Aufklärung dieser  komplexen Krankheiten von großer Bedeutung.

LK / HR

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