Neue Strategien gegen Krebs und Diabetes
Interview mit Professor Axel Ullrich vom Max-Planck-Institut für Biochemie
Von Diabetes zu Krebs und wieder zurück – Axel Ullrich vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Hier spricht er über Erfolge, Enttäuschungen und neue Herausforderungen im Kampf gegen die beiden Volkskrankheiten.
Interview und Text: Klaus Wilhelm
Axel Ullrich wirkt zuweilen nachdenklich an diesem Nachmittag im März in seiner Wohnung in der Münchner Innenstadt. Eine Operation an der Achillessehne legt den Direktor der Abteilung Molekularbiologie am Max-Planck-Institut für Biochemie lahm. „Sechs Wochen Reha“, sagt er und bewegt sich mühsam auf seinen Krücken - für den so kreativen wie dynamischen Wissenschaftler eine harte Fessel. Alle Termine im Labor in Martinsried vor den Toren Münchens wurden bis auf weiteres abgesagt.
Das drückt zuweilen auf die Stimmung. Doch beim Stichwort Diabetes hellt sich der Gesichtsausdruck von Axel Ullrich augenblicklich auf. Noch vor seiner Karriere als Krebsforscher hat Ullrich einen Meilenstein in der Behandlung von Diabetes gesetzt. Zusammen mit Kollegen der University of California entwickelte der Wissenschaftler 1977 ein Verfahren, mit dem sie eine Kopie des menschlichen Insulin-Gens auf Bakterien übertragen konnten.
Auf Befehl von Insulin wird Zucker aus dem menschlichen Blut entfernt – ein Prozess, der bei Diabetikern wenig oder gar nicht mehr funktioniert und zu teilweise schweren Problemen wie Nierenschäden, Erblindung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen führt. Ullrichs Leistung ermöglichte erstmals die industrielle Herstellung menschlichen Insulins und erleichtert seitdem das Leben von Millionen von Diabetikern, da sie nicht mehr auf weniger verträgliches tierisches Insulin angewiesen sind. Und jetzt:
Ullrich (lachend): Es ist unglaublich, da schließt sich ein Kreis, weil ich nach mehr als 30 Jahren in die Diabetes-Forschung zurückkehre. Altbekannt und trotzdem absolutes Neuland für mich – das ist spannend. Zwei Doktoranden habe ich darauf angesetzt. Das hat mir immer am meisten Spaß gemacht: Forschung mit jungen motivierten, intelligenten Leuten zu machen, die Enthusiasmus mitbringen.
Worum geht es genau?
Ullrich: Eine völlig verrückte Geschichte. Wenn Patienten mit Nierenkrebs, die gleichzeitig Diabetiker sind, mit dem von mir entwickelten Krebs-Medikament Sutent behandelt werden, brauchen sie plötzlich kein Insulin mehr. Sutent wirkt also anti-diabetisch. Das ist perfekt für mich und hat mich sofort begeistert.
Warum?
Ullrich: Weil wir auf dieser Basis vielleicht ein neues Medikament gegen Diabetes schaffen können. Dann kam noch der Zufall zu Hilfe. Ich hatte Kontakt mit dem Forschungsleiter der Pharma-Firma GlaxoSmithKline. Dem habe ich das kurz erzählt, und der hat nur gesagt: „Toll! Da steigen wir ein!“ So kam eines zum anderen. Jetzt haben wir von GlaxoSmithKline sechs Millionen Euro bekommen, um dieses Projekt hoffentlich erfolgreich weiterzuführen. Das ganze zeigt die zentrale Bedeutung der Kinasen für alle möglichen Lebensvorgänge und physiologischen Prozesse.
Kinasen sind eine Klasse von Proteinen, die so genannte Phosphatgruppen auf andere Moleküle übertragen und diese damit aktivieren. Zu den rund 500 verschiedenen Kinasen in menschlichen Zellen zählen auch die von Axel Ullrich intensiv erforschten Rezeptor-Tyrosinkinasen, die durch die Membran einer Zelle von außen nach innen reichen und von denen jede Zelle einige hundert verschiedene besitzt. Sie funktionieren wie ein Schalter, der umgelegt wird, nachdem Wachstumsfaktoren an dem Rezeptormolekül angedockt haben. In der Zelle wird dann über eine komplexe Signalkaskade der Stoffwechsel und die Aktivität von Genen beeinflusst.
Rezeptor-Tyrosinkinasen und ihre nachgeschalteten Signalbahnen sorgen beispielsweise dafür, dass sich während der Entwicklung von Organismen die verschiedenen Gewebe wie Blutgefäße, Nerven- oder Bindegewebe ausbilden. Bei Krebserkrankungen ist die Funktion dieser Moleküle häufig gestört oder sie werden vom Tumor übermäßig aktiviert, um das bösartige Wachstum zu beschleunigen und zu steuern.
Ullrich: Sutent mit seinem Wirkstoff Sunitinib hat eine breite Wirkung auf die Aktivität von Kinasen und hemmt mehr als 200 dieser Signalüberträger. Das Medikament ist für die Therapie von Nierentumoren und einer seltenen Form des Magenkrebses zugelassen. Darunter sind offenbar auch Kinasen, die mit der Regulation der Insulin-Produktion zu tun haben.
Kannte man denn die Bedeutung der Kinasen bei Diabetes?
Ullrich: Nein, überhaupt nicht, obwohl die Forschung an sich sehr viel weiß über die Signalwege und die verschiedenen Schritte zur Insulin-Produktion. Als ersten Erfolg unseres neuen Projektes haben wir drei Kinasen gefunden, die am Insulin-Stoffwechsel beteiligt sind. Jetzt fangen wir an, so genannte kleine chemische Moleküle zu entwickeln, die diese drei Kinasen so ähnlich wie Sutent hemmen - aber mit deutlich weniger Nebenwirkungen.
Das ist die eigentliche Herausforderung...
Ullrich: Genau, das ist Besondere. Bei einer chronischen Erkrankung wie Diabetes kann man allenfalls leichte Nebenwirkungen in Kauf nehmen. Deshalb können wir Zuckerkranken nicht Sutent geben, denn leider ist die Einnahme des Medikaments häufig mit ernsthaften negativen Begleiterscheinungen verbunden wie Müdigkeit, Durchfall, arteriellem Bluthochdruck oder Mundschleimhautentzündungen. Bei einer so akut tödlichen Erkrankung wie Krebs ist das eher tolerierbar.
Herausforderungen wie diese faszinieren den passionierten 67-jährigen Grundlagenforscher und Medikamenten-Entwickler noch im Spätherbst seiner Karriere. Kein Wunder also, dass er sich Anfang der 80erJahre, nach dem famosen Insulin-Erfolg, dem Thema Krebs zugewendet hat – der in den Augen vieler Menschen heimtückischsten Erkrankung und einer der größten Herausforderungen in der medizinischen Forschung. Als er damals seinen ganz eigenen wissenschaftlichen Kampf gegen den Krebs aufgenommen hat - beflügelt von den aufflammenden Möglichkeiten der molekularen Biologie - war er davon überzeugt, dass Krebs noch im Laufe seines Lebens heilbar sein würde.
Ullrich: Jaja, das habe ich gedacht und auch öffentlich so gesagt. Heute würde ich das nicht mehr so unterschreiben, auch wenn wir das anstreben sollten. Das muss man auch, dafür ist Krebs einfach zu schrecklich. Aber ob man das jemals erreichen wird, eine wirklich komplette Heilung auch von fortgeschrittenem Krebs mit Metastasen, da bin ich mir nicht mehr so sicher.
Was macht den mit einem „naiven Optimismus“ ausgestatteten Krebsforscher Ullrich, wie Sie sich mal bezeichnet haben, heute so skeptisch?
Ullrich: Wir haben komplett unterschätzt, dass Krebszellen genetisch instabil sind. Die verändern sich laufend, sie passen sich an die Umwelt im Körper an. Das hat fast etwas Philosophisches. Die Naturgesetze, die die Entwicklung von Leben auf diesem Planeten ermöglicht haben, sind die gleichen, die im Krebs wirksam sind und das befallene Individuum töten. Das sind die Gesetze der Evolution. Je günstiger die Veränderungen für die Krebszelle sind, desto stärker setzt sie sich durch und überlebt.
Im Kern hat sich das in der Forscherwelt weitgehend akzeptierte Modell der molekularen Krebsentstehung seit 30 Jahren allenfalls in Details verändert. Demnach entstehen Tumoren aus einer gesunden Zelle, in der Gene, die das Wachstum und die Vermehrung von Zellen kontrollieren, schrittweise mutieren und entweder ausgeschaltet oder überaktiviert werden. Zum einen Tumor-Suppressorgene, zum anderen spezielle Krebsgene (Onkogene), erst wenige, dann immer mehr. Dabei schalten die Tumorzellen auch den natürlichen Selbstmordprozess von Zellen aus, die Apoptose. Gleichzeitig werden sie unempfindlich gegen die Angriffe des Immunsystems, das das Individuum schützen will.
Ullrich war einer der ersten, der ein Onkogen beschrieben hat, noch bevor das Konzept der Onkogene überhaupt existierte: Die Rezeptor-Tyrosinkinase namens HER2. Das Credo in jenen Tagen: Die Tumorzellen hängen von wenigen aus dem Ruder geratenen Genen ab. Als die Forschergemeinde nach Jahren der Skepsis die neue Theorie endlich akzeptierte, schien das Undenkbare greifbar nahe: Man müsse nur gemäß der alten Idee der „magic bullets“ von Paul Ehrlich mit passgenauen Antikörpern oder kleinen Molekülen die ermittelten molekularen Angriffspunkte hemmen - und das tödliche Problem könnte gelöst sein.
In eine solche zielgerichtete Therapie setzten die Wissenschaftler ihre Hoffnungen. Mit HER2 legte Axel Ullrich das Fundament für die Blockade von Onkogenen. Doch einerseits dauerte es 15 Jahre, bis endlich ein Antikörper gegen HER2 gegen eine besondere Form von Brustkrebs mit Produktnamen Herceptin auf dem Markt war. Andererseits sind heute etliche ähnliche Medikamente in der Therapie der Patienten angekommen, aber – von Ausnahmen abgesehen – mit bescheidenem Erfolg.
Zwei dieser zielgerichteten Krebsmedikamente, Herceptin und Sutent, sind Axel Ullrich zu verdanken. Heute nimmt er kein Blatt vor den Mund.
Ullrich: Die zielgerichteten Ansätze werden allenfalls Teilerfolge im Krieg gegen Krebs bringen. Bis jetzt verlängern sie das Leben der Patienten mit den weit verbreiteten soliden Tumoren wie Brust- oder Lungenkrebs meist nur um wenige Monate. Das ist schon enttäuschend.
Das sieht die Pharmaindustrie aber ganz anders.
Ullrich: Ich weiß. Die, aber auch viele Wissenschaftler sprechen immer noch von der so genannten Abhängigkeit der Krebszelle von bestimmten Onkogenen. Dieses Bild nutzt nur Pharmavertretern, die das den Ärzten auf die Nase binden. Doch das ist natürlich totaler Unsinn. Das eine dominierende Onkogen gibt es bei Krebs nicht. Wenn wir ein Onkogen bekämpfen, hat der Tumor schon wieder ein anderes aktiviert und dadurch wieder einen Vorteil.
Krebs entsteht zwar aus einer einzigen Zelle, doch während der Weiterentwicklung dieser Zelllinie kommt es immer wieder zu neuen Mutationen. So entstehen immer diversere, immer komplexere Familien von Zellen. Zum Schluss hat man eine sehr heterogene Population, in der sich vielleicht ein sehr dominantes Onkogen in einer Linie behauptet hat, aber in den anderen Linien sind es vielleicht andere Onkogene. Und wenn man ein Onkogen in einer Zelllinie blockiert hat, kommt eben eine andere und springt dem Tumor bei. Wir haben 250 Krebszelllinien mit Fokus auf Tyrosinkinasen untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass die Entstehung und das Fortschreiten von Krebs irrsinnig komplex ist – komplizierter als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
Das klingt sehr ernüchternd.
Ullrich: Ja, gefährlich. Wissen Sie: Ich empfinde kein Glück, wenn ich auf mein Forscherleben zurückblicke. Ich kriege so viele Preise, und es ist schön, dass meine Arbeit anerkannt wird. Doch mir ist gleichzeitig bewusst, dass ich das Problem nicht tatsächlich gelöst habe, den Feind noch nicht besiegt habe. Da bin ich ganz ehrlich. Wir sind noch lange nicht am Ziel.
Aber wohin soll der Weg führen, wenn es die zielgerichteten Therapien nicht sein können?
Ullrich: Ich glaube daran, dass es trotz dieser extremen genetischen Plastizität allen Krebszellen gemeinsame Mechanismen geben muss, sozusagen eine gemeinsame Achillesferse.
Was könnte das sein?
Ullrich (schulterzuckend): Keine Ahnung. Aber ich suche trotzdem danach. (lächelt)
Also doch wieder der naive Optimismus?
Ullrich: Nicht mehr sehr oft wie früher, aber doch immer wieder. Ich denke, dass es auf unserer Suche andere Gene und Moleküle geben wird, die eben entscheidender sind. Und von denen wir einige vielleicht noch nicht mal kennen. Die stehen irgendwo im Atlas des Human-Genoms.
Doch Ullrich untertreibt etwas. Längst verfolgt er innovative, für viele andere Krebsforscher noch abseitig anmutende Ansätze. Es gibt auch schon einige Namen dafür. Zum Beispiel FGFR4. Ein Name für ein Gen, das die Bauanleitung für einen Rezeptor codiert, an den der Wachstumsfaktor FGF19 bindet. FFGR4 verzückt selbst noch den erfahrenen Forscher aus Martinsried, der das Projekt zur Erforschung dieses Moleküls und alle anderen Forschungsansätze seiner Abteilung in den vergangenen zehn bis 15 Jahren in seiner dritten Firma nach den beiden Vorgängerfirmen Axxima und Sugen gebündelt hatte, dem Biotechnologie-Unternehmen U3 Pharma. 2008 wurde die U3 für 150 Millionen Euro an den japanischen Pharma-Riesen Daiichi Sankkyo verkauft.
Ullrich: Fantastische Story. FGFR4 ist eben kein Onkogen, das im Tumor durch genetische Veränderung entstanden ist. Es ist vielmehr eine Art Onkogen-Assistent, den wir in unserem Genom mit uns herum schleppen.
Alle Menschen?
Ullrich: Nicht alle. Es ist so: Von diesem Gen, das einen Rezeptor codiert, gibt es zwei Formen: eine normale, die man so auch in Tieren findet. Und eine, die sich entwickelt hat, nachdem die Ur-Menschen aus Afrika ausgewandert sind. Beide Genvarianten unterscheiden sich nur durch den Austausch eines DNA-Bausteins. Dies hat aber zur Folge, dass der entsprechende Rezeptor sich in seiner Struktur entscheidend verändert. Afrikaner tragen diese abnormale Variante kaum, aber 80 Prozent aller Asiaten und 50 Prozent der Europäer und aus Europa stammenden US-Amerikaner.
Die abnormale Form verändert unser Leben normalerweise nicht. Nur wenn ein Individuum mit der abnormalen Variante des Rezeptors an Krebs erkrankt, dann wird der Krebs ungefähr fünfmal so schnell voranschreiten wie beim Menschen mit der normalen Variante. Sie verursacht also keinen Krebs, sondern beschleunigt die Erkrankung.
Wie muss man sich das vorstellen?
Ullrich: Was da molekular passiert, wissen wir noch nicht genau. Ich habe mich schon um die Jahrtausendwende für FGFR4 interessiert, aber dann ruhte das Projekt eine Weile, weil die falschen Leute in meinem Labor dran gearbeitet haben. So ist Wissenschaft: Ihr Erfolg hängt immer von schlauen, energetischen Köpfen ab.
Dann kann man also noch nicht mit der konkreten Entwicklung eines Medikaments gegen das Molekül rechnen?!
Ullrich: Doch, doch. Nach unseren Erkenntnissen ist es vollkommen klar, dass FGFR4 die fatale Wirkung von Onkogenen in verschiedenen Krebsarten beschleunigt. Wir haben das auch an so genannten Onko-Mäusen nachgewiesen, die nur ein aktiviertes Onkogen hatten und deren Erbgut wir mit der abnormalen Genvariante verändert haben. Dadurch schreitet der Krebs schneller voran.
Das Pharma-Unternehmen Daiichi Sankkyo testet gerade in vorklinischen Versuchen einen Antikörper gegen FGFR4. Außerdem entwickeln wir derzeit kleine Moleküle gegen den Rezeptor. Ich bin gespannt, ob diese hemmenden Substanzen in Krankheitsmodellen den Krebs beeinflussen.
Sobald Zellen Unregelmäßigkeiten in ihrem Wachstum und ihrer Vermehrung erkennen, reagieren sie normalerweise mit programmiertem Selbstmord. Doch die Krebszellen legen die Signalwege lahm, die zum Selbstmord führen. Schon länger ist bekannt, dass auch überaktive Kinasen diesen Prozess entscheidend antreiben. Alle Tumorzellen schalten das Apoptose-Programm aus. Die Forscher wollen deshalb die Inaktivierung der Apoptose wieder aufheben.
Zusammen mit ungarischen Kollegen haben die Martinsrieder eine Substanz namens TT232 untersucht, die dem körpereigenen Hormon Somatostatin ähnelt und Anti-Tumor-Eigenschaften hat. Offenbar bindet TT232 an eine Variante der Pyruvat-Kinase - ein Enzym, das entscheidend an der Energiegewinnung aus Zucker beteiligt ist. Doch TT232 kann Apoptose nur auslösen, wenn der Komplex in den Zellkern verfrachtet wird.
Ullrich: TT232 eignet sich aus verschiedenen pharmakologischen Gründen nicht zum Medikament. Deshalb haben wir nach einem kleinen Molekül gesucht, das an die Variante der Pyruvat-Kinase bindet, so dass der Komplex in die Kerne der Krebszellen wandert und dort den programmierten Selbstmord einleitet. Wenn das wirklich zu einer pharmakologisch akzeptablen Form eines Medikaments führen würde, könnte das ein weithin wirksames Präparat werden.
Dennoch scheint es so, als ob Sie die Kinasen nicht mehr loslassen?
Ullrich: Stimmt schon. Bei einem weiteren Apoptose-Projekt durchsuchen wir gerade systematisch tausende von hemmenden Substanzen, die auf breiter Front die Kinasen blockieren, die in Tumorzellen Apoptose verhindern. Unsere Bibliotheken mit chemischen Substanzen enthalten aber nicht nur Kinase-Hemmer, sondern auch andere, willkürlich ausgewählte Substanzen. Und die wirksamsten, die wir bisher identifiziert haben, sind keine Kinase-Hemmer, sondern sie blockieren andere Enzyme. Die kennen wir bereits, möchte ich aber noch nicht verraten.
In anderen Experimenten haben wir gezeigt, dass auch Wachstumsfaktoren bestimmter Immunzellen den Krebszellen helfen, die Apoptose lahmzulegen. Unsere japanischen Kollegen arbeiten jetzt weiter an einem dieser Faktoren. Hier wird also die Mikro-Umgebung des Tumors angegriffen und nicht die Tumorzellen selbst. Alle drei Apoptose-Projekte sind wunderbare Beispiele für ungewöhnlich Ansätze abseits des Mainstreams.
Gleichwohl verfolgt Axel Ulrich noch zwei Projekte der „alten Schule“ der Krebsmedikamenten-Entwicklung. Eines betrifft ein Schwester-Molekül von HER2: HER3. HER3 ist in Brust-, Eierstock, Lungen- und Schwarzem Hautkrebs überaktiv und prognostiziert einen raschen Krankheitsverlauf.
Ullrich: Ein Medikament gegen HER3 wäre ein großer Erfolg und würde meinen Ansatz bestätigen. Denn wenn Herceptin, also Anti-HER2, ein erfolgreiches Medikament sein kann, dann muss es auch Anti-HER3 sein. HER2 allein ist nämlich nicht krebserregend, sondern nur zusammen mit HER3. Deswegen ist bei Brustkrebs und anderen Krebsarten auch ein Antikörper gegen HER3 erforderlich. Das ist lange Zeit vollkommen ignoriert worden, weil HER3 eine inaktive Kinase ist. Ich habe aber dennoch die Erforschung des Moleküls mit der Firma U3 Pharma begonnen. Und jetzt hat U3 einen Antikörper gegen HER3 in der klinischen Studienphase.
Und das zweite Projekt der „alten Schule“?
Ullrich: ...heißt mit Namen „Axl“ und zielt auf das ab, was Krebs eigentlich so gefährlich und tödlich macht, nämlich die Besiedlung anderer Organe durch Tochtergeschwulste. Diese Metastasierung muss man unbedingt verlangsamen oder blockieren. Aber gerade über die daran beteiligten Signalwege ist noch relativ wenig bekannt.
Axl ist eine Rezeptor-Tyrosinkinase und an den Signalwegen beteiligt, die das Wanderungsverhalten der Metastasen mit kontrollieren. Es ist in den meisten hoch invasiven Brustkrebs-Zelllinien überaktiv, aber nicht in wenig invasiven Brustkrebszellen. Gestern hatten wir eine sehr erfreuliche Projektbesprechung über Axl mit unseren japanischen Kooperationspartnern. Ich kann noch keine Details preisgeben, aber Axl und Axl-Inhibitoren haben eine sehr viel größere Bedeutung für bestimmten Krebsarten als man nach der Forschung mit Krebszelllinien wusste.
Übernehmen jetzt Sie oder die Japaner die weitere vorklinische Entwicklung von Axl-Hemmern?
Ullrich: Wir starten sozusagen von allen Seiten einen Generalangriff auf Axl. Die Japaner entwickeln einen Antikörper und ein kleines Molekül, um das Molekül zu blockieren. Wir selbst forschen zusammen mit einer ungarischen Chemie-Firma und dem 2008 in Dortmund etablierten Max-Planck Drug Development Center ebenfalls an einem kleinen Molekül.
Ich betreibe jetzt erstmals rein akademische Medikamenten-Entwicklung, unabhängig von Venture-Kapital, also privatem Beteiligungskapital, und bin damit hochzufrieden. Sollten wir es bis zum Stadium klinischer Versuche schaffen, müssen wir uns erst für die klinische Studienphase mit einem großen Pharmaunternehmen einigen.
Wie kann eine erfolgreiche Krebstherapie in 20 oder 30 Jahren aussehen?
Ullrich: Tja, die Herausforderung ist wirklich extrem. Aber eine individualisierte Krebstherapie wird mittel- bis langfristig aus der Kombination verschiedener Ansätze bestehen. Medikamente gegen Onkogene, aber auch ganz andere Ziele, von denen ich ja einige beschrieben habe. Apoptose-Auslösung wird wichtig sein, genauso wie die Immuntherapie, da bin ich mir ziemlich sicher. Bei Impfstoffen, die das Immunsystem von Krebs-Patienten anregen, sehen wir gerade Fortschritte. Das Immunsystem ist ja prinzipiell in der Lage, gegen einen Tumor vorzugehen. Und wenn sich Resistenzen gegen die Medikamente der Ersttherapie gebildet haben, wird es Sekundärbehandlungen mit anderen Medikamenten geben müssen.
Wir müssen Wege finden, das Fortschreiten der Krebserkrankung entscheidend zu bremsen, damit der Patient seine normale Lebenserwartung ausschöpfen kann. Krebs muss eine chronische, kontrollierbare Erkrankung werden, die eine normale Lebensqualität erlaubt, ähnlich wie Diabetes oder Aids.