Forschungsbericht 2018 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Von der Seide zur chirurgischen Seidennaht: Auf dem Weg zu einer Geschichte der biologischen Stofflichkeit

Autoren
Onaga, Lisa
Abteilungen
Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Zusammenfassung
Die Arbeitsgruppe "Proteine und Fasern" am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte befasst sich eingehend damit, wie sich Techniken und Verfahren der Verwendung tierischer Stoffe an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben. Die Geschichte der chirurgischen Seidennaht in Japan verweist auf einen neuen Ansatz in der Geschichte der Tiere. Durch die Beschäftigung mit proteinhaltigen Fasern als Stoff des Lebens, der einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen wird, nimmt eine Geschichte der biologischen Stofflichkeit Gestalt an.

Seidenproteine werden heute in einer ganzen Reihe von Kosmetikartikeln verwendet. Shampoos und Hautcremes mit Seidenproteinen werden als natürlich oder besonders mit dem menschlichen Körper kompatibel angepriesen. In der Arbeitsgruppe „Proteine und Fasern“ am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte erforsche ich eine frühe Verwendung dieses Materials zur Veränderung des menschlichen Körpers: die Seidennaht. Zwar steht der Mensch schon lange in unterschiedlichen Beziehungen zu dem Insekt, das die Seide produziert – etwa durch die Aufzucht von Seidenraupen, durch das Tragen von Seidenkleidern oder durch den Verzehr gekochter oder gedünsteter Puppen. Die Seidennaht ist jedoch eine Schnittstelle zwischen Mensch und Insekt direkt auf der Haut. Seide in diesem Sinne, also nicht als Textil betrachtet, sondern als etwas, das den menschlichen Körper physisch durchdringt, eröffnet neue Forschungsfragen über das, was ich biological materiality (biologische Stofflichkeit) nenne.

Wenn wir Seide zunächst als Protein betrachten, entstehen neue analytische Möglichkeiten. Wir können nun fragen, wie Menschen mit Seide experimentiert oder sie verwendet haben, um den Körper zu verändern oder zu erhalten. Obwohl die Seidennaht mindestens auf das Jahr 150 n. Chr. zurückgeht, als der griechische Arzt Galen von Pergamon ihre Verwendung dokumentierte, ist sie noch heute gebräuchlich. Für chirurgische Seidennähte werden rohe und entschleimte Seidenfäden eingesetzt, die auf einen gewünschten Durchmesser geflochten und gewachst und oft auch mit Silikon behandelt wurden (Abb. 1). Diese Seidenfäden werden häufig für Verschlüsse und Ligaturen sowie bei Mikro-, Haut-, Kaiserschnitt- und Augenoperationen eingesetzt. Seide wird zunehmend an Menschen verwendet – als Nähmaterial oder als Ersatz für Knochen, Gefäße und Haut. Dies wirft weitere soziohistorische Fragen über Seide und Chirurgie auf. Seit wann oder wie wurde Seide in der Chirurgie in Japan eingesetzt? Japans Medizingeschichte nimmt im ostasiatischen Raum einen besonderen Platz ein, weil dort konfuzianische Regeln der sogenannten kindlichen Pietät umgangen werden mussten, die gebieten, den menschlichen Körper intakt zu halten. Ich suche nach Antworten, indem ich den frühesten veröffentlichten Bericht über eine chirurgische Methode in Japan analysiere, bei der Seidennähte verwendet wurden, um den Körper zu ästhetischen Zwecken zu transformieren: das Doppelaugenlider-Verfahren (Blepharoplastik).

In Japan und anderswo wurden bei Verletzungen und Krankheiten schon früh chirurgische Methoden eingesetzt. Europäische Operationsmethoden gelangten ab Mitte der Edo-Periode (um 1700) nach Japan: über niederländische Chirurgen, die die Insel Dejima (einen Handelsposten) bereisten, und durch übersetzte Anleitungen und Bücher. In Japan erschien die früheste bekannte Aufzeichnung über Seide, die bei einem chirurgischen Eingriff verwendet wurde, in einem bebilderten Kompendium von Hanaoka Seishū von 1804. Seidennähte verbanden das europäische und japanische medizinische Wissen über Operationen wie etwa die Kataraktchirurgie. Die Verfolgung des buchstäblichen roten Fadens in dieser Geschichte hat sich als Herausforderung erwiesen, zum Teil auch deshalb, weil den chirurgischen Werkzeugen in den Aufzeichnungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als den Fäden selbst.

So wie Seidennähte eine unsichtbare Narbe hinterlassen sollen, beginnt die Seide in den historischen Aufzeichnungen zu verblassen und wird durchsichtig. Der Kasten, der in Jitsuyō gankagaku (Praktische Augenheilkunde) von Kōmoto und Seo abgebildet ist (Abb. 2), erscheint in einem Abschnitt über die Vorbereitung von Schwämmen und Seidennähten mit dem Untertitel „Schwämme und Fädden“ – ein Hinweis auf die deutsche Ausbildung des Erstautors, des Augenarztes Kōmoto Jūjirō (1859–1938). Die Illustration widmet zwar der Gestaltung und der Form des Behälters, der zur Aufbewahrung von Seidenfäden verwendet wird, eine seltene Aufmerksamkeit; das Nähmaterial selbst wird jedoch nicht dargestellt und bleibt so unsichtbar wie die von der Seide hinterlassenen Narben.

Im Jahr 1889 kehrte Kōmoto von seinem Studium in Berlin wieder nach Japan zurück und wurde erster Inhaber des Lehrstuhls für Augenheilkunde an der Kaiserlichen Universität von Tokio. Der zerlegte Behälter wurde wohl als selbsterklärend und alltäglich angesehen. Im Vergleich dazu sind die etwa zur gleichen Zeit in japanischen medizinischen Fachzeitschriften erschienenen Berichte über Trocknungs- und Sterilisationsmethoden zur Herstellung von Seidenfäden äußerst detailliert. Kōmoto wurde gleichsam zum Synonym für die Augenheilkunde und sein im Jahr 1893 veröffentlichtes umfassendes dreiteiliges Lehrbuch Gankagaku (Augenheilkunde) wurde bis zum Ende der Meiji-Periode 1912 in 16 Auflagen herausgegeben. Im Gankagaku beschrieb er eine Operation zur Linderung eines als Entropium bezeichneten Zustands, bei dem das Augenlid nach innen rollt (möglicherweise aufgrund von Konjunktivitis). Er berichtete, die Operation führe zu einem doppelten Augenlid und mache den Patienten seiner Ansicht nach attraktiver.

In einem Beitrag des Chirurgen Mikamo Mitsutaro von 1896 wurde eine neuartige Augenoperationsmethode beschrieben, die einen Wechsel von der Instandsetzung zur Verschönerung und Transformation dokumentiert. Mikamo beschrieb ausführlich ein Verfahren zum Verschmelzen dreier Seidennähte, um die Haut des Oberlides zurückzuziehen. Was nach Ziehen der Fäden vier bis sechs Tage nach der Operation zurückblieb, nannte er „natürlich aussehende“ Doppelaugenlider. Diese bahnbrechende Erwähnung von Seidennähten in Japan markierte eine Verschiebung von der Verwendung von Nähten zur Instandsetzung hin zur Verwendung von Nähten zur Transformation des menschlichen Körpers. Mikamos Verwendung von Seidennähten in der Chirurgie führte im Japan der 1920er und 1930er Jahre zu einer wachsenden Beliebtheit von künstlichen Doppelaugenlidern, insbesondere bei Schauspielerinnen und Schauspielern. Diese Praxis kam erneut auf, als die Pop-Idole der 1980er Jahre ihre Schönheit zu optimieren begannen. Viele medizinische Verfahren führen zu solchen großen Veränderungen, die – selbst wenn es etwas weit hergeholt erscheinen mag – analog zur Verwandlung des Insekts im sicheren Seidenraupen-Kokon als menschliche Metamorphosen bezeichnet werden können.

Eine Seidennaht ist mehr als einfach nur Seide. Seidenfäden behalten ihre Zugfestigkeit 3 bis 6 Monate lang bei und gelten als nicht absorbierbar. Diese und andere Eigenschaften führen dazu, dass die Seidennaht als relativ sichere, bioinerte Medizintechnik gilt. Die Untersuchung von Seide als ein in den menschlichen Körper eingenähtes Protein legt nahe, dass die Analyse der Seidennaht für das Verständnis der Geschichte der Seide unerlässlich ist. Seide als biologisches Material zu betrachten, bereitet den Boden für weitere Untersuchungen zur Geschichte der Schnittstelle zwischen Biologie und MatWerk (Materialwissenschaft und Werkstofftechnik).

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