Feodor Lynen: Der große Experimentator

5. April 2011

Leben ist chemische Bewegung – diese Sichtweise bestimmte die Forschung des Münchner Biochemikers Feodor Lynen, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte. Mit der Strukturaufklärung der „aktivierten Essigsäure“ schuf er die Voraussetzung, um die vielen Auf- und Abbauprozesse in der Zelle zu verstehen und Krankheiten wie Diabetes oder Arteriosklerose zu erforschen. Für seine Arbeiten über den Cholesterin- und Fettsäurestoffwechsel wurde der Direktor des Max-Planck-Instituts für Zellchemie 1964 mit dem Nobelpreis geehrt.

Der Artikel, der 1951 in der Zeitschrift Angewandte Chemie erschien, war kurz und präzise, nicht länger als eine Seite. Das darin beschriebene Molekül hingegen war so komplex, dass sich Wissenschaftler jahrelang den Kopf darüber zerbrochen hatten, wie es wohl aussehen könnte. Dem Verfasser, Feodor Lynen, war schließlich der große Wurf gelungen: Er hatte die vorhandenen Puzzlesteinchen richtig kombiniert und so die Struktur des Acetyl-Coenzym A, der „aktivierten Essigsäure“ aufgeklärt – einer Verbindung, die im Stoffwechsel der Zelle eine Schlüsselrolle spielt.

Feodor Felix Konrad Lynen kam am 6. April 1911 als siebtes Kind eines Maschinenbauprofessors in München-Schwabing zur Welt. Schon früh zeigte „Fitzi“ ein reges Interesse an der Chemie, wie Experimente auf dem Dachboden der elterlichen Villa belegen. Nach „Löchern in der schönen Sonntagshose und einer Explosion mit leichteren Verletzungen im Gesicht und an den Händen“ legte er seine Versuche vorerst auf Eis, bis er 1930 begann, an der Münchener Universität Chemie zu studieren.

In den frühen 1930er-Jahren war München eine Hochburg der organischen Chemie, hier hatten Berühmtheiten wie Justus von Liebig, Adolf von Baeyer und Richard Willstätter geforscht und gelehrt. Das Themenspektrum war breit, man befasste sich nicht nur mit der Struktur von Naturstoffen, sondern auch mit den chemischen Umwandlungen in lebenden Zellen. Im Labor seines späteren Schwiegervaters Heinrich Wieland, Nobelpreisträger von 1927, promovierte Lynen „Über die Giftstoffe des Knollenblätterpilzes“, bevor er sich einem bekömmlicheren Studienobjekt zuwandte − der Bierhefe (Saccharomyces cerevisiae), zu beziehen aus der Löwenbrauerei München.

Heinrich Wieland untersuchte mithilfe von radioaktiv markierten Präparaten die Stoffwechselprozesse in der Hefe. Dieser leicht zu handhabende Modellorganismus eignet sich bestens für die Aufklärung biochemischer Fragen. Besonders interessierte Wieland das Schicksal der Essigsäure, eines sehr einfachen organischen Moleküls, bestehend aus nur zwei Kohlenstoffatomen: einer Methylgruppe (CH3) und einer Carboxylgruppe (CO2H).

Wie damals bereits bekannt, nimmt Essigsäure im Stoffwechsel eine zentrale Stellung ein: Sie entsteht bei der Verbrennung von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen und dient gleichzeitig als Baustein für verschiedene Biomoleküle wie Vitamine, Cholesterin und Hormone. Wie die chemischen Reaktionen vonstatten gingen, war jedoch unklar, denn Essigsäure ist von Natur aus eine reaktionsträge Substanz, die − und das war der springende Punkt − zuallererst aktiviert werden muss, bevor sie sich auf Umwandlungen jeglicher Art einlässt.

Die „aktivierte Essigsäure“ fesselte auch Lynens Aufmerksamkeit, boten doch nach seiner Ansicht „die Vorgänge des Lebens für den Chemiker die faszinierendsten Probleme“. So wandte er sein Interesse zunächst der Umwandlung der Essigsäure in Zitronensäure zu – der Reaktion, die im Mittelpunkt des aeroben Kohlehydrat-Abbaus steht.

Heinrich Wieland hatte hierzu eine interessante Beobachtung gemacht: Über mehrere Stunden hatte er Hefezellen zusammen mit Sauerstoff geschüttelt, wodurch sämtliche verwertbare (oxidierbare) Stoffe aufgebraucht wurden. Setzte man derart „verarmter“ Hefe nun Essigsäure zu, so konnte sie diese erst nach Ablauf mehrerer Stunden oxidieren und so zur Energiegewinnung nutzbar machen.

Doch was genau passierte während dieser Zeit in den Reaktionsgefäßen? Feodor Lynen vermutete zunächst, dass die Essigsäure ihren Energieschub durch Phosphorylierung – das Anhängen einer Phosphatgruppe – erhielt. Seine Versuche mit Essigsäure und anorganischem Phosphat verliefen jedoch jedes Mal enttäuschend: Im Reaktionsansatz fand sich keinerlei Zitronensäure.

Bis zur Klärung des Problems gingen noch mehrere Jahre ins Land. Der Zündfunke war schließlich eine Entdeckung des Biochemikers Franz Lipmann, der in den USA forschte. Dieser hatte 1947 aus Taubenleberextrakt ein bis dahin unbekanntes Coenzym isoliert. Da es in der Lage war, Acetylgruppen (die Reste von Essigsäure) zu übertragen, nannte er es Coenzym A. Es enthielt Pantothensäure, Adenosin, Phosphat sowie Schwefel und war an Acetylierungsreaktionen direkt beteiligt – ein Hinweis darauf, dass sich die ominöse „aktivierte Essigsäure“ möglicherweise hinter der acetylierten Form dieses Coenzyms verbarg. Die Struktur der Verbindung war jedoch so kompliziert, dass nicht ersichtlich war, wie das Acetyl an das Coenzym gebunden wird.

Den denkwürdigen Moment, als er die Antwort fand, beschrieb Lynen später so: „Mein Schwager, Theodor Wieland, hielt sich während der Ferien in seinem Elternhaus auf, das unserem Haus benachbart ist. Er hatte […] über Pantothensäure gearbeitet, das Vitamin, das Lipmann als Bestandteil des Coenzyms A ausgemacht hatte. Wir diskutierten die ganze Nacht darüber, auf welche Weise Acetat und Pantothensäure miteinander verbunden sein könnten, kamen aber auf keine Lösung. Auf meinem kurzen Weg zurück zu unserem Garten kam es mir in den Sinn, dass der Acetatrest gar nicht an die Pantothensäure, sondern an Schwefel gebunden sein könnte.“

Versuche mit Acetyl-Coenzym A aus Hefekochsaft gaben Lynen recht. Zwei Monate später hatte er seine Vermutung experimentell bestätigt und brachte seine Ergebnisse umgehend zu Papier. Doch die Zeit bis zur Veröffentlichung in der Angewandten Chemie geriet zur Zitterpartie. „Mir erschien jetzt alles so einfach, dass ich kaum glauben konnte, dass in der Zwischenzeit niemand die gleiche Idee gehabt haben könnte“, berichtete Lynen.

Viele Forschergruppen arbeiteten damals am Problem der „aktivierten Essigsäure“. Würde ihm in letzter Minute noch jemand zuvorkommen? Doch was folgte, war die Nachricht, seine „Mitteilung hätte bei den Biochemikern in den USA wie eine Bombe eingeschlagen“. Fritz Lipmann traf die Veröffentlichung „ohne Vorwarnung“.

Die Strukturaufklärung der „aktivierten Essigsäure“ brachte Feodor Lynen internationale Anerkennung ein. Von da an ging es mit seiner Karriere steil bergauf. 1953 wurde er zum ersten ordentlichen Professor für Biochemie an einer deutschen Hochschule ernannt. Im darauffolgenden Jahr übernahm er das innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft eigens für ihn eingerichtete Institut für Zellchemie, das später im Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried bei München aufging. Im Jahr 1964 erhielt Feodor Lynen zusammen mit Konrad Bloch für seine Entdeckungen über „Mechanismus und Regulation des Stoffwechsels von Cholesterin und Fettsäuren“ den Nobelpreis.

„Ich bin glücklich in meinem Beruf, doch ich habe ihn nie zur Besessenheit werden lassen. Ich habe mir immer die Zeit genommen, das Leben zu genießen“, sagte Lynen von sich selbst. So wie von sich selbst verlangte er auch von seinen Mitarbeitern Höchstleistungen, doch versprach die Zusammenarbeit mit ihm durchaus auch eine vergnügliche Zeit fernab der Laborbank. In der Aufsatzsammlung Die aktivierte Essigsäure und ihre Folgen, erschienen anlässlich seines 65. Geburtstags, schreiben ehemalige Mitarbeiter zum Thema „Feodor Lynen und ich“.

Von unermüdlicher Laborarbeit, oft bis spät in die Nacht, ist hier die Rede, und von Lynens gefürchteten Visiten im Labor, um sich über die neuesten Ergebnisse auf dem Laufenden zu halten – oder über das Ausbleiben derselbigen: „Batzer!“, „Na, Sie großer Künstler!“, „Das können Sie gleich wegwerfen!“ – die Kommentare des Chefs „schafften je nach Temperament des Betroffenen ein Bleichgesicht oder einen Indianer“.

Aber auch die gemeinsamen Skitouren und Wanderungen in den Alpen sind in Erinnerung geblieben, die Faschingsfeiern, Starnberger Gartenpartys und die geselligen Runden im Augustiner-Biergarten oder auf dem Oktoberfest (wo Lynen nebenbei auch die eine oder andere Doktorarbeit korrigierte). Genauso wie bei der Arbeit war es auch bei solchen Gelegenheiten verpönt, sich vorzeitig davonzustehlen: „Jetzt bleiben’S doch amoi sitzen. San’s net so langweilig!“

Feodor Lynen hatte nie die Absicht, eine Schule zu gründen, und doch hat er genau das getan. In den 37 Jahren seiner Lehrtätigkeit haben 88 Diplomanden und Doktoranden in seinen Labors gearbeitet, hinzu kamen Postdoktoranden und Gastwissenschaftler. Viele seiner Schüler wurden später als Professoren an Universitäten oder Max-Planck-Institute berufen. Die „Lynen-Schule“ hatte schon bald Ableger in aller Welt.

Im Mittelpunkt von Lynens Arbeit stand das Experiment. Von ausufernden Literaturstudien, reiner Theorie und bloßer Spekulation hielt er nicht viel. „Die Natur ist immer unvorhersehbar, und die einzige Methode, ein biochemisches Problem aufzugreifen ist, Experimente zu machen“, so sein Credo. Aber auch er fand die Lösung nicht immer im Reagenzglas – sondern mitunter auf dem Weg in den Garten.

Text: Elke Maier

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