Modellorganismus Fruchtfliege
Zwei Jahre lange begutachtet Thomas Hunt Morgan nun schon in seinem „Fliegenlabor“ an der Columbia Universität Fliegen. Tag für Tag versorgt der Genetiker tausende der nur drei Millimeter großen Insekten mit einem Brei aus überreifen Bananen, setzt sie in frische Behausungen und studiert ihr Äußeres mit einer Lupe. Sein Ziel: die eine Fliege, die anders aussieht.
Als er wie jeden Morgen eines Vormittags im Jahr 1910 einen der unzähligen Glaskolben kontrolliert, in denen er seine Fliegen hält, kann er sein Glück kaum fassen: Unter all den Fliegen mit roten Augen ist zum ersten Mal eine mit weißen Augen!
Dieser Sonderling soll ihm nun verraten, wie eine Eigenschaft wie die Augenfarbe von den Eltern an die Nachkommen weitergegeben wird. Morgan verpaart dazu das weißäugige Tier mit einer Partnerin mit roten Augen und züchtet aus den Nachkommen eine Fliegenlinie, die nur noch weiße Augen besitzt. Nachdem er Millionen von Fliegen aus seinen Kreuzungsexperimenten begutachtet hat, kommt er schließlich zu dem Schluss, dass die Erbanlagen in einer Reihe hintereinander auf den Chromosomen angeordnet sein müssen – eine Erkenntnis, für die er 20 Jahre später mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet werden wird.
Morgans Experimente sind nicht nur fundamental für unser Wissen über die Vererbung, sie haben auch ein Tier für die Wissenschaft salonfähig gemacht, mit dem zuvor nur wenige Spezialisten gearbeitet hatten: die Frucht-, Tau- oder Essigfliege mit dem wissenschaftlichen Namen Drosophila melanogaster. Dabei gelten Untersuchungen des winzigen Insekts rechtlich gesehen nicht einmal als Tierversuch.
Nobelpreise für Fliegenforscher
Jeder, der frisches Obst in seiner Küche hat, kennt die kleinen Fliegen. Von kleinsten Duftspuren magisch angezogen, tauchen sie innerhalb kürzester Zeit überall dort auf, wo Trauben, Bananen und andere Früchte reifen oder verrotten.
Für jeden Normalsterblichen eher lästig, haben sie doch der Menschheit in ihrer über hundertjährigen Wissenschaftskarriere unschätzbare Dienste erwiesen. So hat Hermann Joseph Muller in den 1920er Jahren beobachtet, dass Fruchtfliegen äußerlich völlig normal aussehen, selbst wenn sie starker radioaktiver Strahlung ausgesetzt sind. Ihre Nachkommen dagegen zeigen klare Anzeichen von Veränderungen im Erbgut – eine ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Entdeckung. Dank der Fliegen wissen wir heute, dass Radioaktivität Genmutationen und Chromosomenbrüche hervorrufen kann.
Ein weiterer Meilenstein in der wissenschaftlichen Karriere Drosophilas war die Verleihung des Nobelpreises 1995 an drei Entwicklungsbiologen, darunter Christiane Nüsslein-Volhard vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie. Die Forscher hatten Schlüsselgene für die Entwicklung des Fliegenembryos entdeckt, von denen viele auch die Embryonalentwicklung beim Menschen steuern. Angesichts all dieser Ehrungen für Fruchtfliegenforscher würde so mancher am liebsten Drosophila selbst mit dem höchsten Wissenschaftspreis auszeichnen.
Heute leben weltweit Abermillionen von Fruchtfliegen in wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen. Auch in den Tierhaltungen der Max-Planck-Gesellschaft ist die Fruchtfliege eines der am häufigsten gehaltenen Tiere. An dem Insekt erforschen die Max-Planck-Wissenschaftler ganz unterschiedliche Fragestellungen: von der genetischen Steuerung elementarer Lebensabläufe über die Verarbeitung von Gerüchen und Sehreizen im Gehirn bis zu Alterungsvorgängen. Die Forscher profitieren dabei einerseits davon, dass die Fliegen problemlos zu halten und schnell zu vermehren sind. Sie können mit den relativ einfach aufgebauten Insekten aber gleichzeitig auch auf manche Experimente mit höher organisierten Organismen wie zum Beispiel Wirbeltiere verzichten.