Das Erbe der Milchbakterien
In den modernen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts genießen Mikroorganismen und Bakterien keinen guten Ruf. Dabei spielen sie eine zentrale Rolle in unserem alltäglichen Leben und unserer Küche, denn ohne Hefen und Bakterien gäbe es eine Vielzahl unserer beliebtesten Lebensmittel wie Brot, Käse oder Bier gar nicht. Insbesondere die Herstellung von Milchprodukten bedient sich einer immensen Bandbreite unterschiedlicher Bakterien, die ihrerseits für die unverwechselbaren Geschmäcker, Texturen und Aromen sorgen.
Obwohl Milchbakterien eine so wichtige Rolle in unserer heutigen Küche und Ernährung spielen, wissen wir bisher kaum etwas über ihre Ursprünge und Geschichte. Dabei eignet sich die Erforschung der Geschichte der Milchbakterien hervorragend dazu, neue Erkenntnisse über die menschliche Kultur- und Entwicklungsgeschichte zu gewinnen: Wann und wo begann der Mensch, Milch in seinen Speiseplan zu integrieren und systematisch Milchprodukte zu erzeugen? Wann und wie entwickelte der moderne Mensch die Fähigkeit, Milch zu verdauen (Laktose-Verträglichkeit), und welche Rolle haben Mikroorganismen und Milchbakterien dabei gespielt? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Regionen der Welt?
Infolge von Industrialisierung und globaler Lebensmittelproduktion erleben wir aktuell das rasante Verschwinden vieler traditioneller Methoden der Erzeugung von Milchprodukten. Damit geht eine Art „mikrobielle Ausrottung“ vieler der althergebrachten Milchbakterien-Stämme einher, die für künftige Forschung und Nutzung unwiederbringlich verloren sein werden.
Das Projekt des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte zum "Erbe der Milchbakterien" möchte dieser Entwicklung entgegenwirken, indem die noch in traditioneller Erzeugung von Milchprodukten eingesetzten Bakterien in drei Weltregionen – Europa, Zentralasien und dem Mittleren Osten – identifiziert und auf ihren Nährwert hin untersucht werden. Anschließend werden diese traditionellen „Erbbakterien“ genetisch weiteruntersucht, kultiviert und in mikrobiellen „Kulturbanken“ aufbewahrt, wo sie für künftige Studien und Verwendungen gespeichert bleiben werden.
Darüber hinaus wird die Rolle von Milchprodukten in der Entwicklungsgeschichte des Menschen in den drei unterschiedlichen Weltregionen untersucht. Damit sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie (Ess-)Kultur und Genetik sich wechselseitig durchdrungen haben und welche Rolle Mikroorganismen bspw. in der genetischen Entwicklung von Laktose-Verträglichkeit gespielt haben. Um diesen Aspekt zu erforschen kommen jüngste Innovationen in der archäologischen Forschung, insbesondere neue Technologien zum Nachweis von Milch- und Proteinspuren in uralten Zahnstein- und Gegenstandsfunden, zum Einsatz. Diese Spuren werden anschließend untersucht um zu verstehen, wie und warum Milch und Milchprodukte so erfolgreich das menschliche Genom in vielen Regionen der Welt verändert haben.
Das Projekt verbindet vier Disziplinen, nämlich Archäologie, Mikrobiologie, Ernährungswissenschaft und kulturelle Anthropologie; es ist von großer Bedeutung für die Beleuchtung der mikrobiellen Diversität heute sowie in der fernen Vergangenheit. Außerdem wird es wichtige Erkenntnisse über die menschliche Entwicklungsgeschichte und die Kulturgeschichte von Milcherzeugnissen in Europa, Asien und dem Mittleren Osten liefern und somit unser Verständnis vom Zusammenspiel von (Ess-)Kultur, Biologie und Gesellschaft verbessern.