Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Genetische Anpassung an den Selengehalt von Nahrung in der jüngsten Menschheitsgeschichte

Autoren
White, Louise; Castellano, Sergi
Abteilungen
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie, Leipzig
Zusammenfassung
Der Mikronährstoff Selen ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Nahrung. Als die Menschen vor etwa 60.000 Jahren aus Afrika auswanderten, siedelten sie sich in Regionen mit sehr unterschiedlichen Selenniveaus an. Forscher der Abteilung für Evolutionäre Genetik am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie haben Belege dafür gefunden, dass menschliche Populationen, die in Räumen mit unzureichenden Mengen an Selen in der Nahrung leben, Anzeichen von Anpassung in Genen aufweisen, die Selen benötigen oder regulieren.

Genetische Anpassung des Menschen an die Verfügbarkeit von Nährstoffen

Seit ihrer Auswanderung aus Afrika vor etwa 60.000 Jahren [1] haben Menschen eine Vielzahl unterschiedlicher Räume besiedelt. Um sich in diesen verschiedenartigen Umgebungen gut zu entwickeln, haben die einzelnen Menschengruppen nicht nur den kulturellen und technologischen Fortschritt genutzt, sondern sich auch oft auf genetischer Ebene angepasst. So mussten sie sich auf regionale Unterschiede in der Nahrungszusammensetzung einstellen. Zum Beispiel sind die meisten Säugetiere nach der Stillzeit nicht in der Lage, den Milchzucker Laktose zu verdauen. Bei menschlichen Populationen in Europa und Afrika, die zur Milcherzeugung Rinder halten, hat sich eine Anpassung im Laktase-Gen vollzogen. Sie ermöglicht auch den Erwachsenen, Laktose zu verdauen und dadurch weiterhin einen Ernährungsvorteil durch die Milch zu genießen [2].

Der Mikronährstoff Selen ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kost. Sein Gehalt in der Nahrung wird hauptsächlich durch die Konzentration von Selen im Boden, auf dem die Nahrungsmittel angebaut werden, bestimmt. Die Menge des im Boden enthaltenen Selens variiert weltweit sehr stark. Der Mensch hat sich also seit der Migration aus Afrika überall auf der Welt in Gegenden mit äußerst unterschiedlichen Mengen von Selen in der Nahrung niedergelassen.

Warum Menschen Selen brauchen

Menschen benötigen Selen in ihrer Nahrung, um die 25 menschlichen Eiweiße aufzubauen, die Selen in Form der 21. Aminosäure Selenocystein (Sec) enthalten. Diese Sec enthaltenden Proteine werden Selenoproteine genannt und sind an lebensnotwendigen Prozessen beteiligt, etwa um die Zellen vor oxidativen Schäden zu bewahren. Sec ist ein Analogon der häufiger auftretenden Aminosäure Cystein (Cys), wobei das Schwefelatom in der funktionellen Gruppe von Cys in Sec durch Selen ersetzt ist. Man nimmt an, dass Sec eine einzigartige chemische Aufgabe hat, die Cys nicht im gleichen Maß erfüllen kann. Neben den Selenoproteinen haben Menschen auch noch sechs Gene, die von Selenoproteinen abgeleitet sind, aber Cys anstelle von Sec enthalten (das sind die Cys enthaltenden Paraloga). Diese Gene spielen jeweils eine ähnliche Rolle für die Selenoproteine, benötigen aber keine Zufuhr von Selen, um zu funktionieren.

Sec hat die Besonderheit, dass sein zugehöriges Codon (das ist ein Triplett aufeinanderfolgender Nukleobasen im Erbgut, in dem jeweils der Aufbau einer bestimmten Aminosäure verschlüsselt ist) UGA üblicherweise ein Stopcodon ist. Damit das UGA-Codon als Sec gelesen werden kann, wird eine Reihe spezialisierter funktioneller Proteinmaschinerien benötigt: Die Umsetzung dieses Gens in Selenoprotein im Körper erfordert das Wirken von mindestens 19 weiteren Proteinen, die zusammen als regulatorische Proteine bezeichnet werden. Diese Proteine regulieren das Selen im Körper, synthetisieren das Sec und kontrollieren den Einbau von Sec in die Aminosäurenkette.

Man schätzt, dass die Nahrung etwa einer Milliarde Menschen einen Selenmangel aufweist [3], wobei sich dies auf bestimmte Regionen der Erde begrenzt. So hat etwa China sowohl einige der höchsten als auch einige der niedrigsten Selenniveaus der Welt. In Regionen mit starkem Selenmangel traten vor den in jüngerer Zeit eingeführten Selen-Ergänzungsprogrammen eine Erkrankung des Herzmuskels (Keshan-Krankheit) mit einer hohen Todesrate bei Kindern und eine zu Behinderung führende Erkrankung der Knochen und Knorpel (Kaschin-Beck-Krankheit) endemisch auf [4]. Ein leichterer Selenmangel kann eine Fehlfunktion des Immunsystems, verminderte Fruchtbarkeit, kognitive Schwäche und erhöhtes Sterblichkeitsrisiko verursachen [5]. Weil die ausreichende Aufnahme von Selen so wichtig für die menschliche Gesundheit und Fruchtbarkeit ist und die Menge des Selens in der Nahrung weltweit stark schwankt, stellten Forscher der Abteilung für Evolutionäre Genetik die Hypothese auf, dass Unterschiede in der Aufnahme von Selen mit der Nahrung über viele Generationen hinweg die Evolution von selenassoziierten Genen beim Menschen beeinflusst haben.

Die Suche nach Anpassung in selenbezogenen Genen

Auf der Suche nach Anpassung an Selenniveaus untersuchten die Forscher die genetische Variation in Selenoproteingenen, Cys enthaltenden Paraloga und selenregulatorischen Genen bei 855 Menschen aus 50 Populationen weltweit (Abb. 1). Diese Breite an Populationen liefert ein weites Spektrum von Hintergründen hinsichtlich des Selengehalts der Nahrung. Die Forscherinnen und Forscher haben die erhobenen Daten in der Datenbank SelenoDB (www.selenodb.org) hinterlegt [6], um sie der Gemeinschaft der Selenbiologen zur Verfügung zu stellen.

Zuerst untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, ob Adaptation in selenbezogenen Genen in bestimmten Teilen der Welt konzentriert ist [7]. Wenn sich eine Population in zwei Populationen aufspaltet, die unterschiedliche Räume besiedeln, so werden genetische Varianten, die für die Anpassung an Umweltbedingungen nicht wichtig sind, wahrscheinlich in beiden Populationen ähnlich oft erhalten bleiben. Andersherum werden genetische Varianten, die unter bestimmten Umweltbedingungen von Vorteil sind, wahrscheinlich in der Population vermehrt vorkommen, die unter diesen Bedingungen lebt, nicht aber in der anderen Population (die in einer anderen Umgebung lebt). Das sollte zu signifikanten Unterschieden in der Häufigkeit, mit der diese Genvarianten in den beiden Populationen auftreten, führen. Diese Unterschiede zwischen zwei Populationen hinsichtlich der Häufigkeit des Auftretens genetischer Varianten können daher ein Zeichen dafür sein, dass lokalisierte Anpassung an Umweltbedingungen in einer bestimmten Menge von Genen aufgetreten ist. Also untersuchten die Forscher, ob sich in bestimmten Teilen der Welt ungewöhnlich große Unterschiede in der Häufigkeit von Genvarianten gegenüber den anderen Populationen beobachten lassen. Da sich Gene mit ähnlichen biologischen Aufgaben wohl gemeinsam anpassen, teilten sie die Gene in drei Gruppen ein: Selenoproteingene, Cys enthaltende Paraloga und regulatorische Gene.

Anpassung an Selenmangel

Die Forscher fanden heraus, dass es in Zentralsüdasien und Ostasien sowohl bei den Selenoproteinen als auch den regulatorischen Genen Anhaltspunkte für lokale Adaptation gibt und darüber hinaus einen weiteren Anhaltspunkt bei den Selenoproteinen in Amerika (Region in Rot in Abb. 2A). Die meisten Populationen Ostasiens kommen aus China, wo sich große Regionen mit Selenmangel finden. Geringer Bodenselengehalt ist auch in Pakistan festzustellen, von dort stammen die meisten der zentralsüdasiatischen Proben. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese Anzeichen positiver Selektion eine Anpassung an das jeweilige Selenniveau in der Umgebung reflektieren. Das Anzeichen für positive Selektion in Amerika wird vorsichtiger interpretiert, da in diesem Teil der Welt bisher bei Menschen kein Selenmangel nachgewiesen wurde.

Für die Cys enthaltenden Paraloga gibt es hingegen in keiner Region der Welt einen Hinweis auf Adaptation. Diese Gene haben ähnliche Funktionen wie die Selenoproteine und man könnte daher vermuten, dass sie bei der Kompensation der Selenoproteinfunktion eine Rolle spielen, wenn Selen knapp ist. Man weiß jedoch, dass sich Sec und Cys in ihren katalytischen Eigenschaften unterscheiden und funktionell nicht austauschbar sind. Dies könnte daher die Fähigkeit der Cys enthaltenden Gene einschränken, die Funktion der Selenoproteine aufzuwiegen. Und tatsächlich spiegelt das Fehlen signifikanter Anzeichen für Adaptation in diesen Genen wahrscheinlich ihre Unabhängigkeit von Selen wider und deutet darauf hin, dass Cystein enthaltende Gene bei niedrigem Selenvorkommen keine kompensierende Rolle spielen.

Als nächstes betrachteten die Forscherinnen und Forscher die Anzeichen für Adaptation in Asien näher. Die meisten untersuchten Populationen sind aus China, einem Teil der Welt mit Selenmangel in weiten Regionen, wo schwere Mangelkrankheiten wie die Keshan-Krankheit endemisch waren. Sie teilten die Populationen in China in zwei Gruppen ein, je nachdem, ob sie in Selenmangelregionen oder Gegenden mit ausreichend Selen leben. Dies ergab, dass die Hinweise für Adaptation auf die Regionen Chinas mit Selenmangel beschränkt sind (Abb. 2B, Abb. 3). Das untermauert die Vermutung, dass es Selenmangel ist, der die Anpassung in diesen Genen antreibt.

Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Mikronährstoff Selen während der jüngeren menschlichen Evolution wichtig war: Bei der Verbreitung der Menschen über die ganze Welt kann eine Adaptation in den Genen, die Selen enthalten oder seine Verwendung regulieren, den Menschen geholfen haben, selenarme Regionen zu bevölkern. Daraus ergibt sich, dass menschliche Populationen heute infolge ihrer Geschichte möglicherweise unterschiedlich hohe Risiken tragen, an selenbezogenen Krankheiten zu leiden.

Literaturhinweise

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