Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Astronomie
Kosmische „Computertomographie” zeigt die dreidimensionale Struktur unseres Universums
Auf den größten uns zugänglichen Größenskalen ist die Materie im Universum als gigantisches Netzwerk von Filamentstrukturen mit hunderten von Millionen von Lichtjahren Ausdehnung arrangiert: das „kosmische Netz”. Hauptkomponente der Filamente ist die Dunkle Materie, die keinerlei Licht aussendet; außerdem finden sich entlang des Netzes große Mengen von urtümlichem Wasserstoffgas, das direkt aus der Urknallphase unseres Kosmos stammt. Auch Galaxien, etwa unsere Milchstraße, finden sich bevorzugt auf den Filamenten des kosmischen Netzes – als vergleichsweise winzige Tupfer auf den Netzsträngen oder dort, wo die Filamente zusammenlaufen.
Jetzt ist es einem Astronomenteam unter der Leitung von Khee-Gan Lee gelungen, eine dreidimensionale Karte einer großen Teilregion des kosmischen Netzes zu erstellen, die knapp 11 Milliarden Lichtjahre von uns entfernt ist – aufgrund der großen Entfernung sehen wir diese Region zu einer Zeit, als das Universum nur ein Viertel so alt war wie heute (Abb. 1). Ähnlich wie bei medizinischer Computertomographie, bei der das Innere des menschlichen Körpers aus einer Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen rekonstruiert wird, erstellten Lee und seine Kollegen ihre dreidimensionale Karte aus dem Licht entfernter Hintergrundgalaxien, welches den Wasserstoff des kosmischen Netzes von hinten durchleuchtet.
Eine derartige Durchleuchtung, die das gesammelte Sternenlicht ferner Galaxien nutzt, hatte in der Astronomie als Zukunftsmusik gegolten – bis Lee ausrechnete, dass es doch bereits mit heutigen Teleskopen gelingen konnte. Lee erzählt: »Ich war überrascht, als sich zeigte, dass bereits heutige Teleskope hinreichend viel Licht ferner Galaxien sammeln können sollten, um diese Art von Absorptionskarte zu erstellen – wenn auch mit geringerer Auflösung als zukünftige Teleskope der nächsten Generation. Das Ergebnis wäre ein ganz neuer Blick auf das kosmische Netz, das noch nie in so großer Entfernung kartiert worden war.«
Lee und seine Kollegen bekamen Beobachtungszeit auf einem der größten Teleskope der Welt: dem Keck-I-Teleskop am W. M. Keck-Observatorium, einem zehn-Meter-Spiegelteleskop auf Mauna Kea, Hawaii. Dort stießen sie leider auf durchaus irdische Probleme. Joseph Hennawi (Max-Planck-Institut für Astronomie, MPIA), der an den Beobachtungen beteiligt war, sagt: »Wir waren sehr enttäuscht – das Wetter war schrecklich und wir konnten nur wenige Stunden lang gute Daten sammeln. Aber bereits beim ersten Blick auf die Daten, die uns das Teleskop geliefert hatte, war mir klar, dass unser Experiment funktionieren würde.«
Auch wenn die Astronomen nur vier Stunden lang beobachten konnten – was sie dabei an Daten aufnahmen, war etwas ganz Neues: Ihre Absorptionsmessungen an 24 schwachen Hintergrundgalaxien deckten einen kleinen Fleck Himmel so vollständig ab, dass sie sich zu einer dreidimensionalen Karte des kosmischen Netzes zwischen Hintergrundgalaxien und Beobachtern kombinieren ließen. Eine Schlüsselrolle kam dabei dem zur Analyse verwendeten Algorithmus zu. Hätten die Astronomen bei dieser großen Datenmenge einfach so „losgerechnet”, wäre die Rechenzeit enorm gewesen. Glücklicherweise gelang es zweien der Teammitglieder, Casey Stark und Martin White (UC Berkeley und Lawrence Berkeley National Lab), einen verbesserten Algorithmus zu entwickeln, mit dem sich die Karte binnen Minuten erstellen ließ. Stark sagt: »Wir merkten, dass wir den Algorithmus verbessern konnten, indem wir ihn auf die besonderen Bedingungen unseres speziellen Problems zuschnitten – dann verbrauchte er deutlich weniger an Speicher, und eine Rechnung, die wir vorher auf einem Supercomputer hätten laufen lassen müssen, lief auf einmal auch auf einem Laptop.«
Die Karte, die dabei herauskam, zeigt einen dreidimensionalen Ausschnitt unseres Universums in einer Entfernung von 11 Milliarden Lichtjahren – das erste Mal, dass das kosmische Netz in so großer Entfernung kartiert werden konnte. Da große Entfernungen gleichzeitig bedeuten, dass die Astronomen weit in unsere kosmische Vergangenheit sehen, zeigt die Karte das ferne Universum so, wie es vor 11 Milliarden Jahren aussah – bei einem Viertel seines jetzigen Alters, in einer Art „wilder Jugendzeit” inklusive Wachstumsschub der Galaxien, die damals besonders viele neue Sterne bildeten.
Die Karte zeigt Strukturen, die sich über Millionen von Lichtjahren hinwegziehen und macht den Astronomen Lust auf mehr – genauer: auf umfangreichere Kartierungen, die dann nicht nur die Struktur des kosmischen Netzes zeigen, sondern auch seine Funktionsweise verstehen lassen: die Wege, auf denen urtümliches Wasserstoffgas entlang der Stränge des kosmischen Netzes in die Galaxien gelangt, wo es als Rohmaterial für das Galaxienwachstum dient, insbesondere für die Entstehung von Sternen und Planeten (Abb.1 und Abb. 2).
Fragen und Antworten
• Was ist neu/wichtig an diesen Ergebnissen?
Dies ist das erste Mal, dass das kosmische Netz bei so großen Abständen um die 11 Milliarden Lichtjahren kartiert wurde – ein Einblick in einen interessanten kosmischen Zeitabschnitt, nämlich die „stürmische Jugend” unseres Universums mit einer Phase starken Galaxienwachstums. Außerdem ist es das erste Mal, dass diese Art von Durchleuchtung („Lyman-Alpha-Wald”) mit normalen Galaxien als Hintergrundbeleuchtung gelang. Zuvor war sie nur mit hellen Quasaren gelungen – die aber so selten sind, dass sich aus derartigen Messungen keine echte 3D-Karte rekonstruieren lässt.
Die hier beschriebenen Messungen sind gleichzeitig Vorstudie für eine deutlich umfangreichere Durchmusterung. Die langgestreckte Struktur der hier gezeigten Karte ist allein dem schlechten Wetter während der zugeteilten Beobachtungszeit zu verdanken – die Astronomen hatten schlicht nicht genügend Zeit, ein größeres Gebiet zu vermessen. Aber die Mess- und Rekonstruktionstechnik hat sich bereits bei dieser eingeschränkten Messung als sehr leistungsfähig erwiesen und sie könnte mit entsprechenden Daten auch die räumliche Struktur von Volumina rekonstruieren, deren Seiten hunderte von Millionen Lichtjahre lang sind. Das ist das Ziel der CLAMATO-Durchmusterung (das Akronym steht für COSMOS Lyman-Alpha Mapping And Tomography Observations), die eine tomographische Karte für ein Quadratgrad (=50%) des Zielgebiets des Cosmic Evolution Survey (COSMOS) erstellen soll, einer der meistbeobachteten Himmelsregionen überhaupt.
Aus dieser größeren Karte – dem nächsten Schritt der Forschung – wollen die Astronomen dann nicht nur Informationen über die Struktur des kosmischen Netzes in der „wilden Jugendzeit” unseres Universums gewinnen, sondern auch über die Wirkungsweise des Netzwerks: Während der betreffenden Entwicklungsphase erfuhren die Galaxien einen regelrechten Wachstumsschub und das kosmische Netz spielt die Schlüsselrolle wenn es darum geht, den Galaxien Wasserstoffgas als Rohmaterial für die Entstehung neuer Sterne zuzuleiten – und so deren Wachstum überhaupt zu ermöglichen. In vorangegangenen Studien war es bereits gelungen, Teile des kosmischen Netzes in unmittelbarer Nähe eines Quasars zu rekonstuieren und zu zeigen, wie urtümliches Wasserstoffgas in eine Galaxie einströmte (siehe MPIA-Pressemitteilung 2014-01). Eine größere Karte würde es den Forschern erlauben, derartige Materieströme dreidimensional über größere Distanzen zu verfolgen und so die globale Logistik der Sternentstehung nachzuvollziehen.
Außerdem sollten große tomographische Karten den Astronomen erlauben, Gründe für eine fundamentale kosmische Ungleichheit zu finden: Eine der auffälligsten Eigenschaften des heutigen Universums ist der Unterschied zwischen den materiereichen Galaxienhaufen und den fast völlig materiefreien Leerräumen zwischen diesen Haufen. Die mit der neuen Technik angefertigten 3D-Karten aus der Jugendzeit des Alls sollten es den Astronomen erlauben, Proto-Haufen und Proto-Leerräume zu identifizieren und aus dieser historischen Darstellung zu rekonstruieren, wie die Galaxienhaufen und Leerräume aus den winzigen Materiefluktuationen kurz nach dem Urknall entstanden sind.
• Wie funktioniert „Lyman-Alpha-Tomographie”?
Das kosmische Netz ist nur schwer aufzuspüren: Dunkle Materie ist unsichtbar und das Wasserstoffgas entlang des Netzes weist eine so geringe Dichte auf, dass es nur sehr wenig Licht aussendet. Für Jahrzehnte waren Astronomen daher auf indirekte Nachweise mithilfe von Quasaren angewiesen; das sind die Kernregionen aktiver Galaxien, die durch den Einfall von Materie auf das zentrale Schwarze Loch der Galaxie zu den hellsten Objekten im Universum werden. Auf seinem Weg zur Erde durchfliegt das Quasarlicht das dünne Wasserstoffgas des kosmischen Netzes und einiges an Licht wird absorbiert. Die Absorption findet bei ganz bestimmten, für Wasserstoff charakteristischen Frequenzen statt. Zerlegen die „irdischen” Astronomen das Quasarlicht in ein Spektrum – eine detaillierte Version eines Regenbogens – dann erzeugt das absorbierte Licht darin ein typisches Muster an sehr dünnen, dunklen Regionen, die Absorptionslinien heißen. Muster und Form der Absorptionslinien erlauben es, die Verteilung des absorbierenden Gases zu erschließen (Abb. 3 und Abb. 4).
Da unser Universum expandiert hängt die Lage der Absorptionslinien einer spezifischen Wolke von der Entfernung jener Wolke von der Erde ab (kosmologische Rotverschiebung): Die Lichtwellen des Quasarlichtes werden durch die kosmische Expansion auf ihrem Weg zur Erde gestreckt; umso mehr, je länger das Licht zu uns unterwegs ist. Die Absorptionslinien der verschiedenen Wasserstoffwolken, die das Licht auf seiner Reise passiert, befinden sich bei Messungen von der Erde aus daher in jeweils unterschiedlichen Regionen des Spektrums – je entfernter die absorbierende Wolke, umso mehr haben sich die Linien durch die kosmische Expansion verschoben. Das Spektrum des Quasarlichts enthält daher ein Muster an Absorptionslinien, an denen sich ablesen lässt, wieviele Wolken es auf seiner Reise durchlaufen hat und wieweit diese Wolken von der Erde entfernt sind. Der prominenteste Teil dieses Absorptionsmusters entsteht durch die Lyman-Alpha-Absorptionslinie des Wasserstoffgases. Das resultierende Muster an Lyman-Alpha-Linien, jede davon aus einer anderen Wolke, heißt auch „Lyman-Alpha-Wald”.
Allerdings sind helle Quasare sehr selten und dementsprechend nur an einigen wenigen Stellen am Himmel zu sehen. Es gibt daher nur sehr wenige Sichtlinien hin zu Quasaren, entlang derer sich die Wasserstoffwolken des kosmischen Netzes nachweisen lassen. Diese liegen zuweit auseinander, als dass man die Messungen zu einer dreidimensionalen Karte kombinieren könnte.
Deswegen hatten Astronomen schon länger in Betracht gezogen, anstatt der Quasare das Sternenlicht ferner Galaxien als Hintergrundlichtquelle zu verwenden (das Licht der verschiedenen Sterne wird dabei nicht unterschieden, sondern es geht um die Summe: das gesamte durch Sterne erzeugte Licht einer ganzen Galaxie). Galaxien sind fast 100 Mal häufiger als Quasare. Als Hintergrundbeleuchtung stehen sie damit dicht genug am Himmel, sodass sich aus den Absorptionsdaten detailgetreue dreidimensionale Karten erstellen lassen, ähnlich der dreidimensionalen Rekonstruktionen, wie sie bei computertomographischen Methoden in der Medizin vorgenommen werden. Das Problem bestand jedoch darin, dass das Sternenlicht der Galaxien typischerweise rund 15 Mal weniger hell ist, als das Licht der Quasare. Daher war allgemein akzeptiert, dass derartige Messungen auf die nächste Generation von Riesenteleskopen würden warten müssen: das European Extremely Large Telescope (E-ELT) etwa mit seinen fast 40 Metern Spiegeldurchmesser. Die hier vorgestellten Ergebnisse zeigen, dass diese Art von Kartierung im Gegenteil bereits mit den existierenden Teleskopen und Instrumenten durchführbar ist.
• Wo befindet sich die kartierte Region und wie groß ist sie?
Die Beobachtungen galten Teilen des COSMOS-Feldes im Sternbild Sextant (Sextans). Diese Himmelsregion wurde bereits mit einer Vielzahl verschiedener Instrumente bei unterschiedlichen Wellenlängen untersucht und bietet die Möglichkeit tiefer Einblicke ins ferne Universum jenseits unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße. Das Licht der dreidimensionalen Region, die kartiert wurde, benötigt 11 Milliarden Jahre, um bis zur Erde zu gelangen; entsprechend sehen wir diese Region so, wie sie vor 11 Milliarden Jahren war, weniger als 3 Milliarden Jahre nach dem Urknall (Rotverschiebung z = 2,3). Zu jener Zeit hatte die Region eine Größe von rund 2,5 Millionen × 6 Millionen × 100 Millionen Lichtjahren (der letzte Wert entspricht der radialen Abstandsdifferenz; die entferntesten Teile der Region waren damals 100 Millionen Lichtjahre weiter von uns entfernt als die nächsten). Von damals bis heute hat die kosmische Expansion alle Längenskalen des betreffenden Gebiets um einen Faktor 3,3 vergrößert.
• Gab es nicht zuvor bereits Karten des kosmischen Netzes?
Ja, aber nie zuvor bei so großen Distanzen. Frühere Karten des kosmischen Netzes wurden aus der Position individueller Galaxien rekonstruiert – man lokalisiere hinreichend viele Galaxien, und deren Verteilung im Raum zeichnet dann den Verlauf der Filamente des kosmischen Netzes nach. Aber die einzigen entsprechenden Karten, die größere Volumina umfassen, beschränken sich auf das lokale Universum (und schließen nur Galaxien mit Entfernungen von weniger als 3 Milliarden Lichtjahren ein, z < 0,3); deutlich kleinere Ausschnitte gibt es bis in Entfernungen von bis zu 7 Milliarden Lichtjahren (z = 1). Bei noch größeren Abständen wird die scheinbare Helligkeit der Galaxien so gering, dass diese Methode – ein Datenpunkt pro Galaxie – viel zuviel Aufwand erfordert, um dreidimensionale Karten zu erstellen. Die Lyman-Alpha-Absorptionstechnik – eine Sichtlinie pro Galaxie – liefert bei jeder Messung ungleich mehr Daten und ermöglicht es, die Struktur des kosmischen Netzes über Hunderte von Millionen von Lichtjahren vor jeder Hintergrundgalaxie zu rekonstruieren. So lässt sich das Universum selbst bei derart riesigen Distanzen mit vertretbarem Aufwand kartieren.
• Welche Teleskope und Instrumente kamen bei diesen Messungen zum Einsatz?
Die Beobachtungen wurden mit dem Low-Resolution Imaging Spectrograph (LRIS; „bildgebender Spektrograf mit niedriger Auflösung”) am 10-m-Keck-I-Teleskop am Keck-Observatorium auf Mauna Kea, Hawaii durchgeführt. Zu dieser Art von Durchleuchtungsverfahren siehe [1].
Zu dieser Art von Durchleuchtungsverfahren vgl. Khee-Ghan Lee, „Der Schatten des kosmischen Netzes” in „Sterne und Weltraum” 10/2014 [L1].
Hintergrundinformationen
Die hier beschriebenen Ergebnisse sind in [1] veröffentlicht.
Die Mitglieder des Teams sind: Khee-Gan Lee, Joseph F. Hennawi, Anna-Christina Eilers (Max-Planck-Institut für Astronomie); Casey Stark, Martin White (UC Berkeley und Lawrence Berkeley National Laboratory); J. Xavier Prochaska (University of California at Santa Cruz, Lick Observatory); David Schlegel (Lawrence Berkeley National Laboratory); Andreu Arinyo-i-Prats (Universitat de Barcelona).
Die Forschung wurde durch das Waitt Grants Program der National Geographic Society unterstützt.
In Zusammenarbeit mit:
Casey Stark, Martin White (UC Berkeley and Lawrence Berkeley National Laboratry); J. Xavier Prochaska (University of California at Santa Cruz, Lick Observatory); David Schlegel (Lawrence Berkeley National Laboratory); Andreu Arinyo-i-Prats (Universitat de Barcelona).