Deutschlands zweite Wende?
von Steven Vertovec; in: MaxPlanckForschung 3/15
Etwa 1,5 Millionen ist die derzeit genannte Zahl von Flüchtlingen, auf die sich Deutschland in diesem Jahr einstellen muss. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat erkannt, dass eine solch beispiellose Zuwanderung Deutschland grundlegend verändern wird. Und Vizekanzler Sigmar Gabriel mutmaßt, es sei gut möglich, dass in nächster Zukunft mehr als 500 000 Menschen jährlich nach Deutschland kommen werden. Während Gabriel sich zuversichtlich zeigt, dass Deutschland die Aufnahme einer solchen Menge an Zuwanderern erfolgreich bewältigen kann, räumt er aber auch ein, dass dies die größte Herausforderung seit der Wende darstellen wird.
Sind die gesellschaftlichen Veränderungen, mit denen sich Deutschland derzeit konfrontiert sieht, gleichbedeutend mit einer „zweiten Wende“? Eine kürzlich in der New York Times veröffentlichte Karikatur legt diesen Eindruck nahe: Sie zeigt den „neuen Mauerfall“ mit Angela Merkel und jubelnden Deutschen, die Flüchtlinge durch eine niedergerissene Mauer zwischen dem globalen Norden und Süden hindurch willkommen heißen. Sofern der derzeitige Zustrom von Menschen eine soziale Transformation von vergleichbaren Ausmaßen wie die deutsche Wiedervereinigung darstellt – was könnte sie an Folgen nach sich ziehen?
Man sollte vorsichtig sein, den Vergleich zwischen der heutigen sogenannten Flüchtlingskrise und der Wende überzustrapazieren, da er – ebenso wie die Karikatur – metaphorisch gemeint ist. Es genügt festzustellen, dass jedes tiefgreifende Ereignis dieser Art zwangsläufig weitreichende politische, ökonomische und soziale Restrukturierungen nach sich zieht oder ziehen wird. Auch 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist der Prozess noch nicht abgeschlossen.
Ost- und Westdeutschland weisen immer noch erhebliche Unterschiede auf, sowohl in sozioökonomischer Hinsicht als auch in Bezug auf öffentliche Einstellungen. Es wird auch in diesem Fall Jahrzehnte dauern, bis sich die Veränderungen infolge der neuen großen Einwanderungswelle voll entfalten, und sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach in verschiedenen Bereichen der deutschen Gesellschaft zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen.
Neue Migration zieht weitere Migration nach sich
Gabriels Mutmaßung, dass in absehbarer Zukunft 500 000 oder mehr Neuankömmlinge pro Jahr in die Bundesrepublik kommen könnten, ist wahrscheinlich eine zutreffende Prognose. Deutschland kann in der Tat davon ausgehen, dass eine wachsende Zahl von Menschen zuwandern wird. Weil neue Migration weitere Migration nach sich zieht, wie wir aus der Migrationsforschung wissen. Mit dem Überqueren von Grenzen weiten sich transnationale soziale Netzwerke aus. Sie befördern – unterstützt durch Smartphones – den Informationsfluss zu den zurückgebliebenen Familienmitgliedern und Freunden hinsichtlich Reisemöglichkeiten, Arbeits- und Wohnungssuche und vielem mehr.
Die Triebkräfte heutiger Migration werden sich auch nicht einfach in Luft auflösen. Migration hat selten nur eine einzige Ursache und ist in den wenigsten Fällen entweder nur erzwungen oder nur freiwillig. Die Ursachen von Migration sind vielfältig. Meist wirken mehrere Faktoren zusammen oder verstärken sich gegenseitig.
Die Migrationsgründe können unterschiedlicher Natur sein: politisch (Bürgerkrieg, Terror, politische Unterdrückung oder Verfolgung), sozial (Familien-strategien zur Verbesserung der Lebensumstände), ökonomisch (Aussicht auf ein tragfähiges Lohneinkommen und Zugang zu Gütern und Dienstleistungen), demografisch (Bevölkerungsgröße oder -dichte, vor allem mit Blick auf den lokalen Arbeitsmarkt) oder umweltbedingt (verschiedene Formen der Bodenzerstörung und Folgen des Klimawandels, die das Leben und die Lebensgrundlagen beeinträchtigen).
Dieses Zusammenwirken von Ursachen macht es immer schwieriger, Lösungen für die Migrationsproblematik zu finden. Und das gilt gegenwärtig für fast jedes Land, aus dem die Neuankömmlinge der Flüchtlingskrise nach Deutschland kommen. In jedem dieser Länder ist die Konstellation der zusammenwirkenden Migrationsursachen eine gänzlich andere, und keine dieser Ursachen wird sich kurzfristig beheben lassen. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass gerade jene Migrationsgründe, die durch sich verschlechternde Umweltbedingungen ausgelöst werden, noch zunehmen und einen wesentlichen Einfluss auf alle anderen Ursachen haben werden.
Nun ist Zuwanderung aus dem Ausland sicher kein neues Phänomen in Deutschland. Es gab bereits mehrere ausgeprägte Zuwanderungswellen. Von den 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre waren es die „Gastarbeiter“ aus Italien, Jugoslawien und der Türkei. Der Familiennachzug in den 1980er- und 1990er-Jahren brachte ein weiteres Anwachsen dieser Bevölkerungsgruppen mit sich. Seit den 1990er-Jahren, als es zu einer massiven Zuwanderung aus dem vom Krieg erschütterten Jugoslawien kam, erfährt Deutschland wechselnde Zuwanderung aus aller Welt. Diese Entwicklung hat eine erhebliche Diversifizierung der Einwandererbevölkerung bewirkt.
Die Zahl der Herkunftsländer, aus denen Zuwanderer nach Deutschland kommen, wurde immer größer. Mittlerweile leben Menschen aus rund 200 verschiedenen Ländern in Deutschland, dessen soziale Diversität damit etwa auf dem Niveau der USA liegt. Und so hat sich während der vergangenen 20 Jahre in Deutschland – wie auch in anderen Teilen der Welt – eine neue Schicht diversifizierter Migration über eine frühere gelegt.
Im Großen und Ganzen sind Neueinwanderung und Diversifizierung über die verschiedenen sozialen Milieus hinweg in Deutschland positiv aufgenommen worden. Dies zeigt sich etwa an dem vom Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration erstellten Integrationsbarometer. Die ihm zugrunde liegenden Meinungsumfragen weisen auf eine im Allgemeinen pragmatische und positive Einstellung zu Fragen von Migration und Integration hin – unter den Deutschen und auch unter den Migranten. Auch die am Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften durchgeführten multidisziplinären Forschungsarbeiten in 16 deutschen Städten belegen eine überraschend hohe Kontakthäufigkeit zwischen Deutschen und Menschen ausländischer Herkunft.
So gaben nur 16 Prozent der im Rahmen des Forschungsprojekts Diversity and Contact (DivCon) interviewten Bundesbürger an, sich „nie“ mit Menschen mit Migrationshintergrund zu unterhalten; knapp die Hälfte tut dies dagegen täglich oder mindestens wöchentlich. Interaktionen zwischen Deutschen und Einwanderern gehören demnach inzwischen für viele – gerade in den westdeutschen Städten – zum Alltag. 75 Prozent der Interviewten (Menschen mit und ohne Migrationshintergrund)bewerten diese Interaktionen positiv. Das Zusammenleben zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund funktioniert also offensichtlich recht gut. Und wird tendenziell von beiden Seiten geschätzt.
Mit der aktuellen Zuwanderung legt sich nun in Deutschland eine ganz neue Schicht von Diversität über eine bereits diversifizierte Bevölkerung. Die Neuankömmlinge heute sind größtenteils Syrer, Afghanen, Pakistaner, Eritreer, Somalier, Nigerianer und Iraker, zusammen mit einer nach wie vor hohen Zahl von Menschen aus Serbien, Kosovo und Albanien.
Sie kommen zu einem Zeitpunkt nach Deutschland, der durch anhaltende Zuwanderung aus anderen Ländern – insbesondere aus Spanien und Portugal, Italien, Griechenland, Polen und Bulgarien – gekennzeichnet ist. Dennoch ist es nicht die ethnische oder nationale Differenzierung, welche die deutsche Gesellschaft vor die größten Herausforderungen stellen wird. Die größte Herausforderung wird vielmehr mit hoher Wahrscheinlichkeit im rechtlichen Status der Neuankömmlinge liegen.
Die größte Herausforderung wird im rechtlichen Status der Neuankömmlinge liegen
Wie in den meisten westlichen Demokratien werden Neuankömmlinge auch in Deutschland je nach Migrationsweg und -form sowie nach ihrem jeweiligen Rechtsstatus eingeteilt und behandelt. So gibt es beispielsweise EU-Binnenmigranten, befristete oder Saisonarbeitskräfte, Hochqualifizierte und durch Firmen Entsandte, Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge, Menschen mit befristetem Aufenthaltstitel oder einer Duldung, Familiennachzügler, Studierende, abgelehnte Asylbewerber, Menschen mit abgelaufenem Visum und Menschen ohne Papiere.
Jeder Status bedeutet auf vielen Gebieten unterschiedliche Möglichkeiten und Einschränkungen. Dazu gehören: Arbeitserlaubnis und Verfahren, Art und Ausrichtung der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, Form des Arbeitsvertrags, Arbeitsbedingungen und Entlohnung; Aufenthaltsdauer und -form, Aussichten auf Familiennachzug, Anspruch auf Sozialleistungen und Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung und öffentlichen Dienstleistungen, rechtliche und politische Vertretung, Aussichten auf dauerhafte Niederlassung oder die Möglichkeit der Einbürgerung.
Der jeweilige Status eines Zuwanderers hat Auswirkungen auf sein Einkommen, seine Gesundheit und seine Wohnverhältnisse, auf die Möglichkeit zur Bildung sozialer Netzwerke, die Integration im Wohnumfeld und die Familiendynamik. Er trägt somit ganz wesentlich zur Entstehung oder Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit bei und weist Menschen Lebenslagen zu, aus denen sie häufig nur sehr schwer wieder herauskommen.
Was könnte also in naher Zukunft geschehen, wenn der Zustrom von Menschen anhält und die „Refugees Welcome“-Euphorie nachgelassen hat? Folgt man vorliegenden sozialwissenschaftlichen Analysen, wären folgende Szenarien naheliegend: Wie bei den vorangegangenen Einwanderungswellen wird die positive, wenn nicht gar herzliche Begegnung der Normalfall sein. Es wird Frustrationen, aber auch Anpassungsprozesse geben.
So ist die Sprache aller Voraussicht nach eine Ursache für Frustration. Allerdings werden immer mehr Deutsche lernen, einen kommunikativen Mittelweg zur Verständigung mit all jenen zu finden, die der deutschen Sprache nur eingeschränkt mächtig sind. Die Neuankömmlinge wiederum werden die alltäglichen, kleinen und gewohnten Regeln des Anstandes, die Wendungen, Gesten und Zeichen der Erkenntlichkeit erlernen, die Deutsche verinnerlicht haben. Wie schon vor dem momentanen Zustrom werden die überall im Land praktizierten unspektakulären Formen des Zusammenlebens weitgehend unbeachtet bleiben.
Obwohl eine allgemein positive Atmosphäre durchaus von Bestand sein könnte, wird es zweifellos auch jede Menge Probleme geben. Gelegentlich wird es zu sozialen Spannungen kommen, ab und zu werden hässliche rassistische Aktionen stattfinden. Die politischen Bewegungen auf der extremen Rechten werden sich aber wahrscheinlich nicht stark vergrößern, zurzeit sind sie nicht besonders weit verbreitet. Viel wird davon abhängen, wie die Neuankömmlinge Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten (die bisherigen Erfahrungen zeigen keinen großen Einfluss auf die Arbeitslosenzahlen, tatsächlich werden sogar einige neue Stellen geschaffen, während die Löhne am unteren Ende der Skala eventuell unter Druck geraten; allerdings gibt es nur wenige vergleichbare Fälle von gleichzeitiger Zuwanderung solchen Umfangs). Die kommunalen Ressourcen werden belastet und Institutionen wie Schulen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen sowie der Wohnungsmarkt vor erhebliche Herausforderungen gestellt.
Durch Stereotypisierung entsteht das Bild des „guten“ und des „schlechten“ Zuwanderers
Dies wird auf allen Ebenen Einfluss auf die politische Diskussion haben. Und während die einen die gelungenen Beispiele für Integration hervorheben, werden sich die anderen auf jede Gelegenheit stürzen, um zu schimpfen nach dem Motto „Das haben wir doch gleich gesagt“. Diese Form des politischen Diskurses wird sich mit Sicherheit noch verschlimmern, sollte Deutschland einen konjunkturellen Einbruch erleben (wie etwa bei einer anhaltenden Verlangsamung des chinesischen Wachstums). Das Schwarze-Peter-Spiel der Schuldzuweisung an Zuwanderer wird bei jeder Gelegenheit in Gang gesetzt, weiter auf die Spitze getrieben und instrumentalisiert werden.
Positive oder negative Bilder, Beziehungen und Diskurse werden sich dabei nicht nur allein zwischen den schon lange weltoffenen Großstädten und den Kleinstädten und Dörfern unterscheiden, sondern vor allem zwischen Ost und West. Dies liegt am Zusammentreffen vieler Faktoren. Nicht zuletzt schlicht daran, ob es überhaupt Einwohner ausländischer Herkunft gibt. Vor der Flüchtlingskrise betrug der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund in den westlichen Bundesländern 18 bis 27,5 Prozent, während er in den östlichen Bundesländern bei lediglich 3,4 bis 4,6 Prozent lag. Es ist allgemein bekannt, dass an Orten mit weniger Migranten Zuwanderung oft negativer gesehen wird.
Die öffentliche Stimmung und die Darstellungen werden sich vermutlich überall zu einem ethnisierten Bild des „guten“ und des „schlechten“ Zuwanderers zusammenfügen. Stereotypisierung wird dazu führen, dass bestimmte Herkunftsgruppen positiv bewertet und andere stigmatisiert werden. Dennoch haben die Probleme, die Stigmata und die soziale Schichtung, die mit Zuwanderung einhergehen, weit weniger mit Ethnizität, Nationalität und den mutmaßlich damit verbundenen Kulturen zu tun als mit dem jeweiligen Rechtsstatus, der so sehr darüber entscheidet, wo und wie Menschen leben. Den Medien kommt hier die entscheidende Aufgabe zu, in ihrer Berichterstattung Probleme weniger zu ethnisieren als vielmehr auf ihre strukturellen Ursachen hinzuweisen.
Damit ergibt sich eine soziale Landschaft voller Ungleichheiten, die sich auch geografisch unterschiedlich verteilen werden. Es wird mehr und weniger gelungene Beispiele für Integration geben (ein sowieso viel zu überfrachtetes Wort, das in Bezug auf Bildung, Arbeitsmarkt, soziale Verhältnisse, kulturelle Werte und Spracherwerb sehr unterschiedliche Bedeutungen besitzt). Somit wird es die fortwährende Aufgabe von Politik, Medien und Wissenschaft sein, die Faktoren, Prozesse, Institutionen und Ressourcen, die zu diesem Mehr oder Weniger an Erfolg beitragen, in all ihrer Komplexität – und mit Blick auf verschiedene Orte in Deutschland – zu identifizieren und zu verstehen.
Es ist in Deutschland üblich, die Formulierung „seit der Wende“ zu gebrauchen, wann immer von Entwicklungen nach der Wiedervereinigung die Rede ist. Die sozialen Transformationen, vor denen Deutschland steht, werden von einer solchen Größenordnung sein, dass man zwar nicht von einer „zweiten Wende“ sprechen wird. Aber „seit der Flüchtlingskrise“ wird wohl eine ebenso geläufige Wendung werden.
Der Autor
Steven Vertovec wurde 1957 in Chicago im US-Bundesstaat Illinois geboren. Er studierte Anthropologie und Religions-wissenschaften zunächst an der Universität von Colorado und schloss sein Studium 1982 an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara mit dem Master ab. Für die Promotion in Anthropologie wechselte er an die Universität Oxford nach Großbritannien. Dort wurde er anschließend Professor für Transnationale Anthropologie und Direktor des Zentrums für Migration, Politik und Gesellschaft. Im Jahr 2007 wurde Steven Vertovec zum Wissenschaftlichen Mitglied und Direktor an das neu gegründete Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften in Göttingen berufen. Vertovec war als Experte und Berater zu Fragen der Migration für Ministerien in Großbritannien, die Weltbank, die Europäische Kommission, die G8 und die UNESCO tätig. Er hat seine Kernthesen zur Migration im Konzept Superdiversität zusammengefasst – es ist eine Art Kompendium der zunehmenden gesellschaftlichen Vielfalt in vielen Ländern der Erde.