Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Eisenforschung GmbH
Einblicke in das komplexe Wechselspiel magnetischer und atomarer Anregungen eröffnen neue Wege im Design innovativer Kühlmaterialien
Understanding the complex interchange of magnetic and lattice excitations opens new routes in the design of innovative cooling materials
Von der Festkörpertheorie zu innovativen Kühlkonzepten
Wichtige Ansatzpunkte zur Verminderung von CO2-Emissionen bilden derzeit nicht nur die Gewinnung erneuerbarer Energie, sondern auch Konzepte zur Enerigieeinsparung. Ein großes Potenzial für derartige Einsparungen bieten substantiell verbesserte Konzepte für Heizungs- und Kühlungssysteme. So wird die Temperatur eines Körpers gesenkt, indem Wärme auf ein anderes Medium, zum Beispiel auf einen Luftstrom oder eine Kühlflüssigkeit, übertragen wird. Neue Materialien, deren innere Struktur stark von der Temperatur abhängt, erlauben es, diesen Übertrag wesentlich effizienter als klassische Kühlmedien zu gestalten. So lässt sich ein magnetokalorisches Material beispielsweise schlagartig abkühlen, indem man ein zuvor existierendes Magnetfeld abschaltet.
Dieser Effekt ist seit Jahrzehnten bekannt. Für eine gezielte Optimierung fehlten jedoch lange Zeit geeignete Methoden, um ihn für noch unbekannte Materialien am Computer bestimmen zu können. In den letzten Jahren wurden am MPI für Eisenforschung in der Abteilung „Computergestütztes Materialdesign“ sogenannte ab-initio-Methoden entwickelt, mit denen sich solche Größen völlig ohne experimentell gemessene Materialparameter und ohne Anpassungen an empirische Modelle berechnen lassen. Durch sie lässt sich bei vorgegebener chemischer Zusammensetzung nicht nur die Stärke des magnetokalorischen Effekts vorhersagen, sondern auch ein tiefgehendes Verständnis der zugrundeliegenden physikalischen Prozesse erreichen, um es für eine gezielte Optimierung der Materialeigenschaften zu verwenden.
Für die oben genannte Fragestellung wurden die von der Abteilung Computergestütztes Materialdesign entwickelten Simulationstechniken insbesondere auf sogenannte Heusler-Legierungen angewandt. Es handelt sich dabei um eine Kristallstruktur, die der körperzentrierten Struktur von Eisen ähnelt, sich aber durch eine spezielle Anordnung der mindestens drei metallischen Legierungskomponenten auszeichnet. „Optimierung“ heißt bei diesem Material, die chemische Zusammensetzung genauso einzustellen, dass sich ein perfektes Zusammenspiel zwischen magnetischen Anregungen und den Schwingungen der Atome um ihre Gitterplätze einstellt [1].

Abb. 1: Schematische Darstellung des magnetokalorischen Effekts. Die an den Atomen lokalisierten magnetischen Momente (goldene Pfeile) werden durch ein magnetisches Feld (violetter Pfeil) ausgerichtet. Dadurch steigt die Temperatur des Systems (Thermometer), was zu einer Wärmeabgabe an die Umgebung führt (rot-oranger Pfeil oben). Umgekehrt führt das Abschalten des magnetischen Feldes zur Absenkung der Temperatur und der Aufnahme von Wärme aus der Umgebung (rot-oranger Pfeil unten). Letzteres ist der erwünschte Kühleffekt.
Für viele Heusler-Legierungen lässt sich diese Kopplung wie folgt beschreiben: Die Ausrichtung der magnetischen Momente wird durch ein externes Magnetfeld derart beeinflusst, dass ein Einschalten des Feldes die Anregungen unterdrückt (siehe Abb. 1 links) und ein Ausschalten sie begünstigt (siehe Abb. 1 rechts). Da die Gesamtenergie erhalten bleibt, wirkt sich jede Änderung im magnetischen System auf die kinetische Energie und damit auf die Schwingungen der Gitteratome aus. So vermindert eine Reduktion der magnetischen Ordnung die Stärke dieser Gitterschwingungen und umgekehrt. Letztere wiederum bestimmt aber die Temperatur des Materials. Ein auf diese Weise aufgeheiztes Material kann Wärme an die Umgebung abgeben (siehe Abb. 1 oben), wohingegen ein magnetokalorisch abgekühltes Material Wärme von der Umgebung aufnehmen kann (siehe Abb. 1 unten).
Kopplung von Gitterschwingungen und magnetischen Anregungen
Am MPI für Eisenforschung wurden kürzlich Methoden entwickelt und angewandt, die diese Kopplung in realen Materialien über den gesamten Temperaturbereich erstmals vollständig ab initio beschreiben können (siehe Abb. 2 und [2-5]). Dabei wird die Frequenz, mit der die Atome schwingen, durch die Kopplung an die magnetischen Anregungen selbst wesentlich von diesen beeinflusst.
![Abb. 2: Illustration eines schwingenden Atoms in verschiedenen Stadien magnetischer Ordnung. Bei tiefer Temperatur sind alle magnetischen Momente gleich ausgerichtet (links). Die magnetische Ordnung nimmt mit zunehmender Temperatur ab, bis alle Spins ungeordnet sind (rechts). Die Stärke der atomaren Schwingung eines Atoms wird entscheidend von der magnetischen Orientierung der umgebenden Nachbarn beeinflusst. [3]](/11624263/original-1508158021.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjExNjI0MjYzfQ%3D%3D--d93776da5280efb8461a340b9cd3d113e54dd234)
Abb. 2: Illustration eines schwingenden Atoms in verschiedenen Stadien magnetischer Ordnung. Bei tiefer Temperatur sind alle magnetischen Momente gleich ausgerichtet (links). Die magnetische Ordnung nimmt mit zunehmender Temperatur ab, bis alle Spins ungeordnet sind (rechts). Die Stärke der atomaren Schwingung eines Atoms wird entscheidend von der magnetischen Orientierung der umgebenden Nachbarn beeinflusst. [3]
In magnetischen Materialien gibt es eine kritische Temperatur, unterhalb derer sich die atomaren magnetischen Momente in eine bevorzugte Richtung ausrichten. Diese Ausrichtung wird als magnetische Ordnung bezeichnet. In den Heusler-Legierungen liegt die kritische Temperatur oft nahe der Raumtemperatur - in reinem Eisen hingegen beträgt sie 771°C. Unterhalb dieser Temperatur ist Eisen ferromagnetisch (siehe Abb. 2 links). Oberhalb davon ist Eisen paramagnetisch, die weiterhin existierenden atomaren Spins haben also keine bestimmte Vorzugsrichtung mehr (siehe Abb. 2 rechts). Für die Simulation ergeben sich hierdurch zwei Herausforderungen: die Beschreibung von Schwingungen in einem magnetisch ungeordneten Medium und die Erfassung des Temperaturverlaufs zwischen dem magnetisch geordneten und dem völlig ungeordneten Zustand.
Um diesen zu begegnen, wurden mehrere analytische Zugänge auf der Basis der quantenmechanischen Vielteilchenphysik entwickelt und in numerisch effizienten Simulationstools verwendet. Für die erste Herausforderung machten sich die Forscher den Umstand zunutze, dass die magnetischen Anregungen in diesen Systemen viel schneller sind als die atomaren Schwingungen. So ließ sich zeigen, dass die auf die Atome wirkenden Kräfte einer thermodynamischen Mittelung über die relevanten Spinkonfigurationen entsprechen [4]. Dank dieser Erkenntnis ließ sich nicht nur für Eisen, sondern auch für komplexe magnetische Materialien [5] eine sehr genaue Beschreibung und ein tiefgehendes Verständnis der experimentell beobachteten Anregungsspektren erzielen.
![Abb. 3: Änderung der Frequenz der Gitterschwingungen mit zunehmender Temperatur. Die im Text beschriebenen parameterfreien Rechnungen zur Kopplung an den Magnetismus (durchgezogene grüne Linie) werden durch experimentelle Daten bestätigt (Symbole). Ohne eine solche Kopplung würde man die gestrichelte grüne Linie erhalten. [3].](/11624271/original-1508158022.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjExNjI0MjcxfQ%3D%3D--00a13b9faed6976df81ec397408875c49c21cc8e)
Abb. 3: Änderung der Frequenz der Gitterschwingungen mit zunehmender Temperatur. Die im Text beschriebenen parameterfreien Rechnungen zur Kopplung an den Magnetismus (durchgezogene grüne Linie) werden durch experimentelle Daten bestätigt (Symbole). Ohne eine solche Kopplung würde man die gestrichelte grüne Linie erhalten. [3].
Für die Beschreibung des gesamten Temperaturverlaufes war es zudem notwendig, die volle Energetik des magnetischen Systems zu berücksichtigen. Mit der dafür eingesetzten Kombination konzeptioneller und mathematischer Methoden ließen sich die thermodynamischen Änderungen des magnetischen Systems parameterfrei berechnen. Auf diese Weise konnten beispielsweise Wärmekapazitäten vorhergesagt und durch experimentelle Messungen verifiziert werden.
Diese Methodenkombination charakterisiert direkt den Einfluss der Kopplung zwischen atomaren und magnetischen Anregungen. Dabei zeigte bereits die Anwendung auf Eisen, dass diese Kopplungsphänomene unerwartet stark sein können (siehe Abb. 3). Die Genauigkeit dieser Methoden wurde durch Wissenschaftler des Argonne National Laboratory, Caltech, USA, in Röntgenstrahlexperimenten überprüft und bestätigt. Abbildung 3 verdeutlicht, dass mit den neuen ab initio Zugängen über den gesamten experimentellen Temperaturbereich thermodynamische Vorhersagen mit hoher Präzision möglich sind und diese damit eine exzellente Grundlage zur Bestimmung von Materialeigenschaften am Computer darstellen.
Berechnung von Phasendiagrammen
In magnetokalorischen Materialien wird der stärkste magnetokalorische Effekt erzielt, wenn sich die magnetischen Eigenschaften beim Anlegen eines Magnetfelds maximal ändern. Das ist insbesondere in der Nähe der besagten magnetischen kritischen Temperatur der Fall. Aber auch strukturelle Phasenübergänge, also plötzliche Änderungen der Gitterstruktur bei einer bestimmten Temperatur, wirken sich auf die Stärke der atomaren Schwingungen und damit den magnetokalorischen Effekt aus. Die Optimierung und Suche nach geeigneten Heusler-Materialien bedeutet daher in der Praxis, computergestützte Methoden zu nutzen, um diese beiden Übergangstemperaturen als Funktion der chemischen Zusammensetzung vorherzusagen.
![Abb. 4: Durch Computersimulationen berechnetes Phasendiagramm der Heusler-Legierung Ni2Mn1+xGa1-x. Das eingefügte Diagramm zeigt zum Vergleich die experimentellen Messungen für dieses Material. Die rote Linie beschreibt den strukturellen Übergang vom Austenit zum Martensit. Der blaue Bereich verdeutlicht den Stabilitätsbereich einer speziellen martensitischen Phase. Die schwarze Kurve (im eingefügten Diagramm) beschreibt den magnetischen Phasenübergang. [6]](/11624279/original-1508158022.jpg?t=eyJ3aWR0aCI6MjQ2LCJvYmpfaWQiOjExNjI0Mjc5fQ%3D%3D--9a704bdaa8114a35be222a903e3022debbc20fe5)
Abb. 4: Durch Computersimulationen berechnetes Phasendiagramm der Heusler-Legierung Ni2Mn1+xGa1-x. Das eingefügte Diagramm zeigt zum Vergleich die experimentellen Messungen für dieses Material. Die rote Linie beschreibt den strukturellen Übergang vom Austenit zum Martensit. Der blaue Bereich verdeutlicht den Stabilitätsbereich einer speziellen martensitischen Phase. Die schwarze Kurve (im eingefügten Diagramm) beschreibt den magnetischen Phasenübergang. [6]
Die Qualität der Vorsage dieser Phasenübergänge durch die am MPI für Eisenforschung entwickelten Computersimulationen ist in Abbildung 4 (Vergleich Theorie versus Experiment) zu erkennen[6]. Der entscheidende strukturelle Übergang in Heusler-Legierungen erfolgt zwischen der Hochtemperaturphase Austenit (weiße Fläche, Struktursymmetrie L21) und der Tieftemperaturphase Martensit (farbige Fläche). Letztere weist noch verschiedene Unterstrukturen (blaue versus orange Fläche, Struktursymmetrie 5MC versus L10) auf, die ebenfalls starken Einfluss auf die Materialeigenschaften wie etwa die mechanische Stabilität haben. Es zeigt sich in den Simulationen, dass die korrekte Behandlung der Kopplung von Gitterschwingungen und magnetischen Anregungen auch für die Bestimmung der Übergangstemperaturen entscheidend ist.
Das Wechselspiel magnetischer und atomarer Anregungen wirkt sich bei den Heusler-Legierungen also doppelt aus: Zum einen ist es eine intrinsische Voraussetzung für die Existenz magnetokalorischer Eigenschaften, welche die Veränderung der Materialtemperatur durch ein äußeres Magnetfeld erlauben. Zum anderen ist es entscheidend für die strukturellen Übergangstemperaturen, die die Stärke des magnetokalorischen Effekts bestimmt. Da sich dank der Methodenentwicklung am MPI für Eisenforschung diese Art von Kopplungen nun akkurat erfassen lassen, können die Computersimulationen auch für eine systematische Vorhersage der optimalen Legierungszusammensetzungen dieser innovativen Kühlmaterialien verwendet werden.
Literaturhinweise
Physical Review Letters 102, 035702 (2009)
DOI:10.1103/PhysRevLett.102.035702
DOI:10.1016/j.cossms.2015.06.001
DOI:10.1103/PhysRevLett.113.165503
DOI:10.1103/PhysRevB.85.125104
DOI:10.1103/PhysRevB.90.184102
DOI:10.1103/PhysRevLett.116.025503