Forschungsbericht 2015 - Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme
Topologische Ordnung und effiziente Simulationen von fraktionierten Quanten-Hall-Systemen
Phasen der Materie
Materie ist aus einer großen Anzahl von einfachen Teilchen (Atomen) aufgebaut. Aufgrund von Wechselwirkungen zwischen den Atomen kann Materie in verschiedenen Phasen mit oft sehr unterschiedlichen physikalischen Eigenschaften auftreten. Beispielsweise ist Wasser bei Raumtemperatur und atmosphärischem Druck flüssig, während es zu Eis gefriert, wenn die Temperatur unter den Gefrierpunkt sinkt. Ein anderes Beispiel sind magnetische Materialien, in denen die Austauschwechselwirkung zwischen Elektronen zu einer parallelen Ausrichtung der magnetischen Momente dieser Teilchen führen kann und sich dadurch ferromagnetische Phasen bilden.
Diese verschiedenen Phasen lassen sich üblicherweise bezüglich ihrer Symmetriebrechung voneinander unterscheiden. So bricht die Kristallstruktur des Wassereises die kontinuierliche Rotations- und Translationssymmetrie des Raums und im Ferromagneten sind die Spinrotationssymmetrie sowie die Zeitumkehrinvarianz spontan gebrochen. Nach der sogenannten Landau-Theorie gibt es für jede Phase mit gebrochener Symmetrie einen Ordnungsparameter, der die Phase charakterisiert. Die kontinuierlichen Phasenübergänge zwischen verschiedenen Phasen lassen sich durch eine effektive Landau-Ginzburg-Feldtheorie für den Ordnungsparameter beschreiben. Die Form der Feldtheorie, die die universellen Eigenschaften der Phasen in der Nähe des Phasenübergangs beschreibt, wird allein durch die Symmetrien und die Dimensionalität des Systems bestimmt.
Quanten-Hall-Effekt und topologische Ordnung
Die in den frühen 1980-er Jahren entdeckten integralen und fraktionierten Quanten-Hall-Effekte (QHE) [1] stellen eine völlig neuartige „topologische” Form der Materie dar, die sich nicht durch Symmetriebrechung beschreiben lässt. Der QHE tritt auf, wenn ein zweidimensionales Elektronengas bei tiefen Temperaturen einem starken Magnetfeld ausgesetzt ist. Die Quanten-Hall-Phasen, die an den Hall-Plateaus entstehen, besitzen die faszinierende Eigenschaft, dass der Hall-Widerstand nur ganzzahlige Bruchteile ν von h/e2 annehmen kann (wobei h das Planck'sche Wirkungsquantum ist, und e die Elementarladung). Insbesondere ist ν im integralen QHE eine ganze Zahl und im fraktionierten QHE eine gebrochene Zahl. Die extrem präzise Quantisierung, die trotz Unordnung und Störstellen im Festkörper eine Genauigkeit von 10-10 besitzt, beruht auf topologischen Invarianten, die die Phase charakterisieren. Für den integralen QHE konnten Thouless, Kohmoto, Nightingale und den Nijs [1] einen direkten Zusammenhang zwischen der Topologie der Bandstruktur und dem Hall-Widerstand herstellen. Aufgrund der hohen Präzision wird der integrale QHE inzwischen zur Normdefinition des elektrischen Widerstands verwendet.
Während sich der integrale QHE komplett mittels einer Einteilchentheorie verstehen lässt, muss für das Verständnis des fraktionierten QHE ein kompliziertes Quanten-Vielteilchenproblem gelöst werden. Die theoretische Beschreibung des fraktionierten QHE basiert auf topologischen Feldtheorien, in denen die Korrelationen nicht von der Metrik der Raumzeit abhängen [3]. Eine charakterisierende Eigenschaft dieser Theorien ist die Annahme von emergenten „anyonischen Anregungen”, die weder bosonische noch fermionische Statistik haben. Die Existenz solcher Anregungen hat eine von der Topologie abhängige Entartung des Grundzustandes zur Folge (siehe Abb. 1). Dementsprechend wäre der Grundzustand auf einer Kugel eindeutig und auf einem Torus entartet.
Der Aufwand, ein mikroskopisches Modell des fraktionierten QHE zu berechnen, wächst exponentiell mit der Systemgröße an – somit lassen sich nur Modelle für sehr kleine Systeme mit einer Größe von weniger als zwanzig Teilchen exakt simulieren. Für das Verständnis anderer fraktionierter Phasen, die an verschiedenen Werten von ν auftreten, sind die zu erreichenden Systemgrößen jedoch viel zu klein.
Effiziente numerische Simulationen von fraktionierten Quanten-Hall-Systemen
Für deutlich größere Systeme lassen sich Quantenzustände anhand von Erkenntnissen aus der Quanteninformationstheorie gezielt komprimieren. Die wesentliche Einsicht dabei ist, dass die Grundzustände nur schwach verschränkt sind und damit quantenmechanische Fluktuationen nur innerhalb relativ kurzer Längenskalen auftreten. Für eindimensionale Systeme wurde für diese Zustände eine effiziente Darstellung in der Form von sogenannten Matrix-Produkt-Zuständen [4] gefunden. Dank dieser Darstellung lassen sich nun beliebig große Systeme simulieren, solange die Verschränkung hinreichend klein bleibt.
Die Matrix-Produkt-Darstellung ist ein sehr guter Ansatz, wenn man das zweidimensionale Elektronengas auf einem unendlich ausgedehnten Zylinder betrachtet (siehe Abb. 2) [5]. Unter Verwendung der Landau-Eichung formen die lokalisierten Einteilchenzustände quasi-eindimensionale Basiszustände. Die Quantenzustände werden dann mithilfe der Dichtematrix-Renormalisierungsgruppe (DMRG) optimiert [6]. Die DMRG-Methode ist eine variationelle Methode im Raum der Matrix-Produkt-Zustände. Damit lassen sich unendlich lange Zylinder mit einem Umfang von bis zu etwa 30 magnetischen Längen simulieren. Das ist weitaus größer, als sich mithilfe der exakten Diagonalisierung erreichen lässt.
Das ν = 12/5 Plateau
Von besonderem Interesse ist das Plateau bei ν = 12/5. In Experimenten von Kumar et al. [7] an 30 Nanometer dünnen GaAs-Proben wurde ein inkompressibler Zustand mit einer Anregungslücke von 80 Millikelvin gefunden. Dieser Zustand ist theoretisch bisher nicht verstanden. Read und Rezayi schlugen vor, dass an diesem Plateau ein sogenannter "Z3 Zustand" geformt wird, der eine gewisse nicht-lokale Ordnung mit sehr exotischen Eigenschaften repräsentiert.
Da dieser sogenannte "Fibonacci-Anyonen" als Anregungen enthält, ist eine solche Phase von besonderem Interesse. Fibonacci-Anyonen stellen einen idealen Baustein für einen universellen, topologischen Quantencomputer dar. Insbesondere lassen sich alle notwendigen unitären Operationen durch das Verknoten der Weltlinien in der Raumzeit („Braiding”) darstellen. Da diese Operationen rein topologisch sind, wäre dieser Quantencomputer robust bezüglich sämtlicher lokaler Störungen.
Um nun herauszufinden, ob die besagte Read-Rezayi-Phase stabilisiert werden kann, betrachten wir das ν = 12/5 System auf einem unendlich langen Zylinder mit realistischen Coulomb-Wechselwirkungen für GaAs [8]. Für Systeme mit hinreichend großem Umfang (> 18 magnetische Längen) zeigen die Simulationen die charakteristischen Eigenschaften der von Read und Rezayi vorgeschlagenen Phase. Dank der DMRG-Methode lassen sich die topologischen Eigenschaften des Systems direkt aus den numerischen Ergebnissen ablesen. Beispielsweise können die vorhergesagten Randanregungen berechnet werden (siehe Abb. 3). Des Weiteren konnten wir durch Erzeugung von Domänenwänden verschiedener Grundzustände das System gezielt anregen. So lässt sich direkt die räumliche Ausbreitung der Ladungsdichte studieren.
Mit den gleichen Methoden lassen sich auch dynamische Eigenschaften der Systeme modellieren. Auf diese Weise könnte man künftig konkrete Vorhersagen für Experimente machen und beispielsweise Spektralfunktionen sowie die charakteristischen Strom-Spannungskurven berechnen.
Literaturhinweise
Rev. Mod. Phys. 80, 1083 (2008).