Forschungsbericht 2014 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern

Die kognitiven Prozesse in sozialen Dilemmaentscheidungen

Autoren
Fiedler, Susann
Abteilungen
Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn
Zusammenfassung
Um Entscheidungen im Kontext sozialer Dilemmata besser zu verstehen, werden am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern die beteiligten kognitiven Prozesse untersucht. Mithilfe von Blickbewegungsaufzeichnung kann gezeigt werden, dass Unterschiede in den sozialen Präferenzen mit Unterschieden in der Informationssuche und -verarbeitung einhergehen. Kooperative Personen nutzen für ihre Entscheidungen alle verfügbaren Informationen, wägen eigene Gewinne gegen potenzielle Verluste anderer ab und benötigen länger als individualistische Entscheider.

Viele Menschen berücksichtigen in unterschiedlichen alltäglichen Situationen das Wohlergehen anderer. Sei es der Freund, der beim Umzug hilft, der Kollege, der ein paar Tricks im Umgang mit der neuen Software selbstlos teilt, oder der Fremde, der das gefundene Portemonnaie trotz des zusätzlichen Aufwands an den Besitzer zurücksendet. Damit Beziehungen im Kleinen und Gesellschaften im Großen funktionieren, ist es wichtig, Ressourcen mit anderen zu teilen. Prosozialität kommt dabei in vielerlei Gestalt vor – etwa als investierte Zeit, Verzicht auf eigenen Genuss, Bestrafung von schädigendem Verhalten – und ist eine der wichtigsten Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Jedoch hängt der Umfang dieser Investitionen in soziale Beziehungen in Form von kooperativem und prosozialem Verhalten stark von situativen und persönlichen Merkmalen ab. In den vergangenen Jahren wurde sowohl in der Sozialpsychologie als auch in der Verhaltensökonomie systematisch versucht, diese Unterschiede im Verhalten zu verstehen und für Vorhersagen zukünftigen Verhaltens nutzbar zu machen.

Soziale Präferenzen: Prädiktoren für kooperatives Verhalten

Als ein Kernfaktor erwiesen sich im Rahmen dieser Forschung die sozialen Präferenzen – in der Psychologie auch soziale Wertorientierungen genannt. Dieses Persönlichkeitsmerkmal wird meist mithilfe einfacher Verteilungsaufgaben gemessen [1]. So stellt man Menschen zum Beispiel wiederholt vor die Wahl zweier unterschiedlicher Geldaufteilungen für sich selbst  und eine andere Person (etwa Alternative A: 3 Euro für die eigene Tasche und 1,50 Euro für den Mitspieler; Alternative B: 2,10 Euro für beide Teilnehmer). Hierbei zeigt sich deutlich, dass die Verteilungspräferenzen in solchen Entscheidungen sehr verschieden sind. Während sich einige sehr schnell für eine Verteilung entscheiden, bei der sie selbst den größten Teil erhalten, entscheiden sich andere Befragte für eine faire Aufteilung des Geldes. Um derartige Unterschiede zu erklären, baut die Idee der sozialen Wertorientierung auf dem Rationalmodell auf und nimmt an, dass Menschen Nutzen nicht nur über den Besitz der Geldmittel erzielen, sondern auch Nutzen aus der fairen Aufteilung eines Betrags ziehen können. Dieses erweiterte Modell des ökonomischen Entscheidens kann Unterschiede im kooperativen Verhalten teilweise erklären. Die Entscheidungstypen, die sich dabei vorrangig auffinden lassen, variieren zwischen einer eher individualistischen (egoistischen) bis hin zu einer kooperativen oder gar altruistischen Orientierung [einen Überblick bietet 2].

Kognitive Prozesse bei Verteilungsaufgaben

Obwohl der Zusammenhang zwischen sozialen Präferenzen und Kooperationsverhalten schon oft in der Forschung aufgezeigt worden ist [einen Überblick gibt 3], weiß man immer noch nicht, über welche Prozesse soziale Präferenzen unser Verhalten beeinflussen. Eine Annahme dazu ist, dass Menschen mit unterschiedlicher sozialer Wertorientierung qualitativ unterschiedliche Strategien für ihre Entscheidungsfindung nutzen. Diese Annahme konnte lange Zeit nicht überprüft werden, denn es ist schwierig, Gedanken und Entscheidungsstrategien aufzuzeichnen. Nicht sinnvoll ist es, Menschen direkt danach zu fragen, denn ihre Antworten sind häufig durch den Wunsch beeinflusst, sozial angepasst oder angemessen zu reagieren [4]. Häufig sind wir uns des konkreten Entscheidungsvorgangs ohnehin nicht bewusst und darum auch nicht in der Lage, gültige Aussagen darüber zu treffen. Allerdings sind in den letzten Jahrzehnten neue Techniken entwickelt worden, mit denen sich diese nicht direkt beobachtbaren kognitiven Prozesse messen lassen. Eine dieser Methoden ist das Aufzeichnen von Blickbewegungen (eye-tracking) während einer Entscheidung. Aufgrund einiger Befunde aus der Kognitionsforschung nimmt man heute an, dass das Aufsuchen einer Information mit einem Blick zwar keine 1:1-Übersetzung zum Gedankenvorgang liefert, aber ein sehr guter Schätzer für diesen ist. Werden Informationen also mehr oder weniger häufig betrachtet, gibt dies einen Hinweis darauf, wie wichtig eine bestimmte Information für die Entscheidung ist [5; 6; 7; 8].

Mit eye-tracking hat die Forschung also eine Technik zur Hand, mit der sich sowohl die Aufmerksamkeitsverteilung und damit der Weg der Informationssuche und -verarbeitung als auch die Wichtigkeit verschiedener Informationen während des gesamten Entscheidungsverhaltens analysieren lassen.

Der Einfluss sozialer Präferenzen auf die Informationssuche

Vergleicht man die Informationssuche einer individualistischen und einer kooperativen Person in einer einfachen Ressourcenverteilungsaufgabe, so zeigen sich schnell systematische Unterschiede. Während der Individualist vorrangig seine eigenen möglichen Auszahlungen betrachtet und miteinander vergleicht, sucht der prosoziale Typ nach allen verfügbaren Informationen. Dabei vergleicht er nicht nur seine eigenen möglichen Auszahlungen, sondern auch jene des Gegenspielers. Durch die umfangreichere Informationssuche und das wiederholte Aufsuchen von Information benötigt der kooperative Entscheider bis zu 33 Prozent mehr Zeit, um sich für eine der Alternativen zu entscheiden [9]. Der durch diesen Vorgang ansteigende Anteil an Blicken zum Gegenspieler steht in einem engen Zusammenhang mit der Wichtigkeit, die der Einzelne den Auszahlungen an eine andere Person zumisst. Kann man beim als Individualist klassifizierten Spieler im Schnitt 54 Prozent seiner Blicke (Fixationen) auf die eigenen Auszahlungen verzeichnen, interessiert sich der prosoziale Spieler in 65 Prozent der Fälle für sein Gegenüber. Die Aufmerksamkeitsverteilung verändert sich dabei kontinuierlich entsprechend der zugrundeliegenden sozialen Wertorientierung und nicht – wie häufig angenommen – in klar abgegrenzten Schritten. Es zeigt sich eher, dass eine Abweichung vom puren Individualismus mit einer graduellen Verschiebung der Aufmerksamkeit hin zum Spielpartner einhergeht [9]. Wichtig ist anzumerken, dass selbst Individualisten einen beträchtlichen Teil ihrer Aufmerksamkeit (34 Prozent) auf die zu erwartenden Auszahlungen der anderen Person richten. Diese Beobachtung widerlegt die Annahme, dass Individualisten einer Strategie folgen, bei der sie Informationen über das Wohlergehen von anderen vollständig ignorieren. 

Ob am Arbeitsplatz oder in der Hausgemeinschaft: Kooperation ist eine Voraussetzung, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Daher ist es wichtig, die Mechanismen zu verstehen, die Menschen dazu veranlassen, sich mehr oder weniger kooperativ zu verhalten. Denn in vielen Entscheidungssituationen führt ein rein auf monetären Nutzen ausgerichtetes Verhalten dazu, dass Gemeinschaften auseinanderbrechen [10]. Das Wissen, dass die Informationssuche und -verarbeitung für verschiedene Ausprägungen sozialer Präferenzen systematische Unterschiede aufweist, ist ein wichtiger Fortschritt im Verständnis des Entscheidungsverhaltens in strategischen und unstrategischen Verteilungssituationen.

Literaturhinweise

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