Forschungsbericht 2003 - Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern

Kooperation von Staat und Gesellschaft: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen für vertragliche Vereinbarungen im Gesetzgebungsverfahren

Autoren
Becker, Florian
Abteilungen
Zusammenfassung
Der moderne Staat versucht, seine expansiv gewachsenen Aufgaben durch die Integration Privater, Bürger oder Interessenverbände in staatliche Funktionen zu bewältigen, die in diesem Zusammenhang auch an der Gesetzgebung beteiligt werden. Diese Beteiligung erfolgt etwa durch parlamentarische Anhörungen von Sachverständigen und Interessenverbänden, aber auch durch den Abschluss von Gesetzgebungsverträgen zwischen Staat und Privaten. Solche Verträge sind - entgegen allgemein verbreiteter Ansicht - nicht ohne weiteres unwirksam und können vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich gebotenen Prinzips des Vertrauensschutzes durchaus auch den parlamentarischen Gesetzgeber binden.

Zentrales Themenfeld politikwissenschaftlich-juristischer Kooperation innerhalb des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern war in den letzten Jahren die interdisziplinäre Untersuchung von "Governance across multiple arenas". Der Begriff "Governance" ist bewusst vom Begriff für staatliches Regieren - "government" - abgesetzt. Er umfasst eine Vielzahl von Arrangements, die den im kooperativen Staat praktizierten Politikmodus staatlich-privater Handlungskoordination prägen und dabei die tradierte Differenzierung der Funktionskreise "Staat" und "Gesellschaft" zu verwischen drohen: Korporatismus, politische Netzwerke, Verhandlungssysteme, parastaatliche Selbstregulierung.

Für das hier vorgestellte Projekt über Erscheinungsformen von Governance im Bereich der Gesetzgebung bedeutet dies: Der Staat ist nicht alleiniger und autochthoner Regelsetzer. Das erhebliche Normierungsbedürfnis des sozialen Rechtsstaats hat zu einer Diversifikation der Normsetzungstätigkeit geführt, in der auch Private - Individuen, Unternehmen, Interessenverbände - ihren Platz beanspruchen und einnehmen. So formulieren Private etwa Regeln, die dann im Wege des Verweises in die staatliche Rechtsordnung aufgenommen werden. Auch in Fällen, in denen der Gesetzgeber eine alleinige Entscheidungshoheit beansprucht, bedient er sich bei Vorbereitung und Formulierung seiner Entscheidungen fast regelmäßig staatsexternen Sachverstands und sieht sich dem Einfluss privater Interessen gegenüber.

Der Grund für das vielgestaltige Übergreifen gesellschaftlicher Akteure in den Bereich der Staatsfunktion Gesetzgebung ist in der Entwicklung des modernen Sozial- und Präventionsstaates zu finden. Dieser hat proportional zu seinem Funktions- und Aufgabenzuwachs einen tatsächlichen Steuerungs- und Machtverlust erlitten. Die Durchsetzungskraft seines interventionistischen Rechts wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend bezweifelt. Die Ursache hierfür liegt in einer skeptischen Analyse der Wirkungsbedingungen solcher Rechtssätze: Die Probleme bei der Erreichung der durch interventionistische Normen angestrebten Ziele sind auf die ubiquitären Informationsdefizite staatlicher Rechtsnormsetzer, auf den erforderlichen Durchsetzungs- und Kontrollaufwand und auf die Gefahr sich ablehnend verhaltender gesellschaftlicher Machtreservate zurückzuführen. Weitere Schwächen des interventionistischen Rechts liegen nach Ansicht seiner Kritiker in der seinem Einsatz zugrundeliegenden unrealistischen Annahme eines einfachen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Diese zunächst nur auf interventionistisches Recht bezogene Kritik wurde in der Folge auf weitere Phänomene hierarchischer Intervention in komplexe Lebensbereiche wie zum Beispiel die Steuerung des Arbeits- und Wirtschaftslebens übertragen.

Hierarchie versus Verhandlung

Die Diagnose des staatlichen Steuerungsverlusts ist von sozialwissenschaftlicher Theorie durchdrungen. Während die autopoietische Systemtheorie die binäre, systeminterne Kommunikation als Basis ihres theoretischen Konzepts wählt, geht die akteurszentrierte Steuerungstheorie demgegenüber von real handelnden, individuellen oder korporativen Akteuren aus. Sie entwickelt die zwei idealtypischen Interaktionsmechanismen "Hierarchie" und "Verhandlung". Der Interaktionsmodus Hierarchie erlaubt zumindest seiner Konzeption nach die unbedingte Durchsetzung des staatlichen Willens, da hier fremde Entscheidungen oder Entscheidungsprämissen autoritativ bestimmt werden können. Allerdings wird die Wirksamkeit hierarchischer Intervention aus ähnlichen Gründen wie die Durchschlagskraft des interventionistischen Rechts bezweifelt.

Demgegenüber basiert der Interaktionsmodus Verhandlung auf dem Prinzip der Einigung. Nicht die Mehrheit, sondern die Gesamtheit aller Beteiligten an der Verhandlung entscheidet im allseitigen Einverständnis. Verhandlungen sind in zwei Konstellationen möglich: zum einen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren, zum anderen nur zwischen gesellschaftlichen Akteuren. Im letzten Fall wird eine Problemlösung gänzlich vom staatlichen in den gesellschaftlichen Bereich ausgelagert.

Die Teilnehmer einer Verhandlung verfolgen legitimerweise ihren eigenen Nutzen. Dass die politischen Wissenschaften Verhandlungssystemen ein eigenständiges Wohlfahrtspotenzial zubilligen, ist auf die Rezeption des "Coase-Theorems" der Transaktionskostenökonomie zurückzuführen. Es besagt: Unter Bedingungen, die nicht nur rechtlichen oder prozeduralen Schutz für Eigentumsrechte bieten, sondern auch die Verbindlichkeit ausgehandelter Vereinbarungen sicherstellen, führen Vereinbarungen zwischen rationalen (und vollständig informierten) Parteien zur Realisierung aller potenziellen Wohlfahrtsgewinne zwischen diesen. Die Besonderheit der Coase’schen These liegt darin, dass eine optimale Lösung unabhängig von der Verteilung der Eigentumsrechte gegeben sein soll (Invarianzthese). Am Beispiel eines Schadstoffe emittierenden Produzenten wird demonstriert, dass entweder der Betroffene den Emittenten für eine umweltschonendere Produktionseinschränkung (Eigentumsrechte liegen bei dem Produzenten) entschädigt oder der Emittent dem Betroffenen eine Ausgleichszahlung für die Umweltschädigung leistet (wenn die Eigentumsrechte bei dem Betroffenen liegen). Dabei wird vernachlässigt, dass die Aussagen über die positiven Effekte von Verhandlungssystemen unter dem Vorbehalt nicht bestehender Transaktionskosten gemacht werden und eine Realisierung von Verteilungsgerechtigkeit, die oftmals ein sozialstaatliches Anliegen staatlicher Intervention darstellt, nicht möglich ist.

Neben Vorteilen aufgrund des gewährleisteten Informationsflusses und bei der Implementation der verhandelten Entscheidung weisen auch Verhandlungslösungen problematische Aspekte auf. Zum einen setzen sie voraus, dass die zumeist körperschaftlichen Verhandlungspartner verhandlungs- und verpflichtungsfähig sind. Das heißt, diese wiederum müssen von ihren individuellen Mitgliedern mit den entsprechenden Vertretungsrechten ausgestattet werden, sich aber zumindest gegenüber den Mitgliedern faktisch durchsetzen können. Zum anderen sind nicht alle Interessen gleichermaßen organisationsfähig. So ergibt sich aus der Logik kollektiven Handelns, dass allgemeine und durchsetzungsschwache Interessen nicht organisierbar sind und damit auch nicht wirksam in Verhandlungslösungen integriert werden können. Zudem kommt bei unverfälschter Anwendung des Verhandlungsprinzips eine Entscheidung nur zustande, wenn diese die Gesamtheit der Beteiligten besser stellt als ein Scheitern der Verhandlung und eine daraus resultierende Nicht-Entscheidung. Problematischer als bei hierarchischen Interaktionsformen ist in Verhandlungssystemen auch die Zuordnung politischer wie rechtlicher Verantwortung für die Entscheidung. Hinzu tritt als weiterer Nachteil des Verhandlungsmodus der zeitliche und sachliche Mehraufwand gegenüber hierarchischer Interaktion.

Kooperation mit dem Staat durch Anhörung und Gesetzgebungsvertrag

In der Realität wählt der Staat Interventions- und Interaktionsformen, die sich als Mischformen von "Hierarchie" und "Verhandlung" beschreiben lassen. Es wird "im Schatten der Hierarchie" verhandelt. Die entsprechenden Phänomene beschreibt und analysiert das Verfassungsrecht unter der Überschrift des "kooperativen Staates". Sie sind auf allen Ebenen und in allen Bereichen auch des Gesetzgebungsprozesses anzutreffen.

Hier müssen sich die Darlegungen auf das Parlamentsgesetz beschränken. Wichtiges Kooperationsinstrument von Staat und Gesellschaft - die "Keimzelle" des kooperativen Gesetzgebungsverfahrens - ist in diesem Bereich die Anhörung von Interessenvertretern und Sachverständigen, bevor ein Gesetz erlassen wird. Für den Gesetzgeber besteht indes keine Rechtspflicht, das Beratungsergebnis zu befolgen. Auch bleibt er unter demokratischen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten allein verantwortlich für das erlassene Gesetz.

Sowohl hinsichtlich seiner rechtlichen Verbindlichkeit wie auch seiner steuerungstheoretischen Wirksamkeit geht der Gesetzgebungsvertrag weit über die bloße Anhörung Privater hinaus. Solche Verträge sind darauf gerichtet, den staatlichen Vertragspartner zum Erlass, Nichterlass oder zur Abänderung einer Rechtsnorm zu verpflichten. Der Gesetzgebungsvertrag verfügt über eine respektable verfassungsrechtliche Tradition im Bereich des Staatskirchenrechts. Aber auch in jüngeren Rechtsgebieten können vertragliche Abreden zwischen gesellschaftlichen Akteuren und staatlichen Kompetenzträgern beobachtet werden, die entgegen weit verbreiteter Ansicht als rechtsverbindlich gewollt begriffen werden müssen. Beispiele aus jüngerer Zeit sind der Atomkonsens, die Abrede zum Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz sowie der so genannte "Solidarbeitrag" der forschenden Arzneimittelhersteller.

Diesen Fällen ist gemeinsam, dass die Bundesregierung korporativen privaten Akteuren eine bestimmte, hinsichtlich ihres Inhalts abgesprochene Ausübung ihres Gesetzesinitiativrechts zusagt. Die Bundesregierung ist natürlich nicht in der Lage, ein bestimmtes Gesetz oder eine bestimmte Entscheidung des Parlaments rechtsverbindlich zuzusagen. Sie kann sich nur verpflichten, ein bestimmtes Gesetz einzubringen. Eine solche Bindung ist auch nur mit Blick auf den inneren Aspekt des Initiativrechts möglich. Das äußere Gesetzgebungsverfahren besteht nach Artikel 76 bis 82 des Grundgesetzes aus dem Einleitungs-, dem Haupt- und dem Abschlussverfahren. Der Kreis der hier Beteiligten ist durch die Verfassung abschließend festgelegt. Hingegen umfasst das innere Gesetzgebungsverfahren den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess bei der Entstehung eines Gesetzes und damit die Methodik der Entscheidungsfindung. Der Kreis der im inneren Verfahren Beteiligten ist in der Verfassung nicht abschließend festgelegt. Die Regierung kann sich also nur in Bezug auf diese Phase des Gesetzgebungsverfahrens binden. Hier hält die Verfassung einen Raum für staatlich-gesellschaftliche Interaktion offen, der auch durch rechtlich verbindliche Vereinbarungen mit Privaten ausgefüllt werden darf. Die Verfassung gebietet allerdings, dass das formelle Gesetzgebungsverfahren und der Gesetzesbeschluss gegen rechtlich bindende, partikulare Sondereinflüsse abgeschottet werden. Dies regelt unter anderem Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die hier niedergelegte Weisungsfreiheit der Abgeordneten sichert die Distanz zwischen Entscheider und Entscheidungsadressat.

Verbindlichkeit staatlicher Zusagen im Gesetzgebungsverfahren

Der Bundestag kann den ihm vorgelegten paktierten Gesetzentwurf nach wie vor ablehnen oder einen veränderten Entwurf einbringen. Er ist durch die Abrede der Regierung nicht gebunden. Eine Pflicht zum Dissens zwischen der Regierung und der sie tragenden Mehrheitsfraktionen kann es aber auch und gerade unter den Bedingungen des modernen Parlamentarismus, in dem die Grenze der politischen Auseinandersetzung nur noch selten zwischen Parlament und Regierung verläuft, nicht geben. Es besteht allerdings eine Informationspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament: bestehende Vereinbarungen mit privaten Vertragspartnern über die Gesetzesvorlage sind offen zu legen. Ansonsten könnte der Bundestag die Ausübung seiner Kontroll- und Entscheidungskompetenzen nicht auf diese besondere Situation einstellen.

Da die Regierung (anders als das Parlament) nicht dem Grundsatz der Diskontinuität unterliegt, kann sie ihre Bindung gegenüber dem privaten Vertragspartner nur auf der Grundlage der "clausula rebus sic stantibus" (Vertragsklausel, die das Gleichbleiben bestimmter äußerer Umstände voraussetzt und andernfalls ein Abweichen vom Vertrag zulässt) lösen. Dies verurteilt den Staat aber nicht zur politischen Handlungsunfähigkeit. Nach wie vor besteht die Möglichkeit, dass andere Initianten Gesetzesinitiativen in das Parlament einbringen.

Die subjektive wie sachliche Beschränkung einer vertraglichen Bindung des Gesetzesinitiativrechts der Regierung gibt Anlass, über die Möglichkeit einer weitergehenden Bindung des staatlichen Gesetzgebers an Absprachen mit privaten Akteuren nachzudenken. Auf der einen Seite ergibt sich aus dem Demokratieprinzip der Verfassung, dass der Gesetzgeber seine Regelungen jederzeit aktuellen Erfordernissen anpassen können muss. Diese Forderung entspricht das Lex-posterior-Prinzip, aufgrund dessen der nachfolgende Gesetzesbefehl den vorangegangenen aufzuheben vermag. Auf der anderen Seite kommt dem Parlamentsgesetz aber auch die Aufgabe zu, als stabilisierender und Vertrauen schaffender Faktor zu wirken. Der verfassungsrechtlich anerkannte Grundsatz des Vertrauensschutzes, der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, ermöglicht es dem Gesetzgeber daher, bewusst Gesetzesvertrauen auf Seiten eines privaten Vertragspartners zu schaffen. Dieses besondere Vertrauen wird durch die parlamentarische Zustimmung zu einem Gesetzgebungsvertrag der Bundesregierung ausgelöst. Der Gesetzgeber bindet sich durch Aktivierung des Vertrauensschutzprinzips an seine eigene Gesetzgebung. Da die vertragliche Bindung des Gesetzgebers aufgrund Vertrauensschutzes ihre Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip findet, kann sie grundsätzlich das Prinzip der Diskontinuität überwinden und somit auch nachfolgende Parlamente binden.

Die Grenzen einer solchen Kompetenzbindung von Regierung und/oder Gesetzgeber ergeben sich aus dem Verbot ihres Missbrauchs. Die Anwendung des Vertrauensschutzgrundsatzes im Vorgang der Gesetzgebung schafft ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Entscheidend für die Frage, ob sein Einsatz zulässig ist, ist der Zweck der gesetzgeberischen Selbstbindung. Sie muss Mittel zur Erreichung eines normativen Anliegens sein und darf sich nicht als Missbrauch des Vertrauensschutzprinzips zur "Zementierung" politischer Mehrheiten über eine parlamentarische Legislaturperiode hinaus erweisen. Nicht missbräuchlich ist der Abschluss eines Gesetzgebungsvertrags daher nur dann, wenn er dazu dient, die dargelegten steuerungstheoretischen Wirksamkeitshindernisse staatlicher Gesetzgebung in komplexen Handlungsfeldern zu überwinden.

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