Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie

Ein Weltatlas der Kontaktsprachen

Autoren
Michaelis, Susanne; Haspelmath, Martin
Abteilungen
Abteilung Linguistik
Zusammenfassung
Eine neue umfassende Datensammlung zu grammatischen Strukturen von 76 Kontaktsprachen gibt Aufschlüsse über die Ursprünge dieser meist in der Kolonialzeit entstandenen Sprachen und über allgemeine Gesetzmäßigkeiten bei der Entstehung von gemischten Sprachen. Die ursprünglichen Sprachen der einheimischen Bevölkerungen in den Kolonialgebieten sind noch in deutlichen grammatischen Spuren zu erkennen.

Sprachen übernehmen oft Wörter von Nachbarsprachen, aber die Übertragung von großen Mengen von Wörtern oder substanziellen Teilen der grammatischen Struktur kommt nur ausnahmsweise vor. Solche stark gemischte oder hybridisierte Sprachen nennt man Pidgin-Sprachen, wenn sie nur als Behelfssprachen verwendet werden, oder Kreol-Sprachen, wenn sie als Alltagssprache und dann zunehmend auch als Muttersprache einer Bevölkerungsgruppe verwendet werden. Bekannte Pidgin-Sprachen sind Tok Pisin in Papua Neuguinea und Kamerun-Pidgin, die in diesen Ländern als wichtigste Sprachen zur interethnischen Verständigung verwendet werden. Bekannte Kreol-Sprachen sind zum Beispiel Haiti-Kreol, Jamaika-Kreol und kapverdisches Kreol. Sie sind in diesen Ländern die normale Umgangssprache, obwohl in der Schule fast nur die Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte (Französisch, Englisch, Portugiesisch) verwendet werden. Mit dem Atlas of Pidgin and Creole Language Structures [1] liegt nun die erste umfassende Datensammlung zu Pidgin- und Kreol-Sprachen vor.

Die Entstehung der Kontaktsprachen

Etliche Pidgin- und Kreol-Sprachen sind aus einem dunklen Kapitel der europäischen Geschichte hervorgegangen, als in den tropischen Gebieten ein Heer von Zwangs- oder Vertragsarbeitern über weite Strecken transportiert wurde, um auf Zucker-, Baumwoll- und Tabakplantagen zu arbeiten. In Afrika und vor allem in der karibischen Region (einschließlich Surinam und zum Teil der Südstaaten der USA) sind diese Sprachen auf Plantagen mit afrikanischen Sklaven entstanden, während es in der Pazifikregion vor allem Vertragsarbeiter aus Neuguinea und anderen Pazifikinseln waren. Aber einige Kontaktsprachen haben sich auch in Handelsstädten, Bergbausiedlungen oder in der Armee entwickelt. Der Wortschatz dieser Sprachen deckt sich weitgehend mit dem der europäischen Sprachen der Kolonialherren, aber sie haben eine ganz andere Grammatik, deren Ursprung lange umstritten war.

Schon seit längerer Zeit ist bekannt, dass diese Kontaktsprachen eine ganze Reihe von verblüffenden Gemeinsamkeiten haben. Sowohl das Haiti-Kreol als auch das Jamaika-Kreol haben etwa die Vergangenheitsbildung der Verben vollständig erneuert: Statt einer Endung für Tempusunterschiede (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) gibt es dem Verb vorangehende Tempuswörter. Ein anderes Beispiel sind die seriellen Verbkonstruktionen, wie zum Beispiel waak go a skul (,zur Schule gehen‘) im Jamaika-Kreol, wörtlich walk go to school. Eine weitverbreitete Hypothese war, dass diese Ähnlichkeiten, die sich vor allem in den Kreol-Sprachen der Karibik und Westafrikas finden, durch allgemeine Vereinfachungsprozesse entstanden sind, und vielleicht sogar irgendwie die ursprünglichste Grammatik der menschlichen Sprache widerspiegeln. Das kann anhand der neuen Daten, die in jahrelanger Arbeit von neunzig Sprachspezialisten zusammengetragen wurden, nun widerlegt werden.

Vereinfachungshypothese widerlegt

Wie in Abbildung 2 zu sehen ist, sind die seriellen Verbkonstruktionen vor allem in Kontaktsprachen der Karibik, Westafrikas und in Südostasien zu finden. In Zentral- und Südafrika, im Indischen Ozean und im Pazifik dagegen gibt es sie nicht. Das hat eine einfache Erklärung: In den indigenen Sprachen Westafrikas und Südostasiens gibt es serielle Verbkonstruktionen, und diese grammatischen Strukturen wurden von den Pidgin- und Kreol-Sprachen übernommen. Dazu muss man natürlich wissen, dass die Vorfahren der meisten Sprecher der karibischen Kreol-Sprachen einst als Sklaven aus Westafrika verschleppt wurden.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Ausdruck der Vergangenheit. Das Haiti-Kreol etwa verlangt für die Vergangenheit eines Handlungsverbs keine eigene Zeitangabe, im Gegensatz zum Französischen. ,Ich kam, ich kaufte das Buch‘ heißt: Mwen vini, m achte liv la (vgl. Französisch: Je suis venue, j’ai acheté le livre). Einen eigenen Vergangenheitsausdruck (te) braucht man nur bei Zustandsverben, wie zum Beispiel in Li te gen twa zoranj (,Er hatte drei Orangen‘). Dieser grammatische Typ ist wiederum vor allem in den Kontaktsprachen der Karibik und Westafrikas zu finden (vgl. Abb. 3, rote Punkte), und genauso funktioniert es in vielen indigenen westafrikanischen Sprachen. In diesem Fall könnte man meinen, dass es sich um eine grammatische Vereinfachung handelt, denn es gibt keinen generellen Vergangenheitsausdruck. Aber das wäre zu kurz gegriffen, denn gleichzeitig ist die Grammatik ja komplizierter: Man muss in den Sprachen des Haiti-Kreol-Typs erst wissen, ob es sich um ein Handlungs- oder ein Zustandsverb handelt, bevor man die Vergangenheit richtig bilden kann.

Beibehaltung der grammatischen Strukturen

Wenn eine Kontaktsprache dadurch entsteht, dass eine Bevölkerung der tropischen Region als Behelfs- oder Zweitsprache eine europäische Sprache übernimmt, sind die Ergebnisse typischerweise so, dass die Wörter ziemlich treu übernommen, aber viele der grammatischen Strukturen der afrikanischen, asiatischen und pazifischen Sprachen beibehalten werden. Selbst der englische Dialekt der Afroamerikaner in den USA hat auf diese Weise noch einige Spuren der afrikanischen Sprachen der Vorfahren der heutigen Sprecher bewahrt.

Ein weiteres Beispiel ist die Unterscheidung zwischen einem inklusiven und einem exklusiven ,Wir‘. Das inklusive ,Wir‘ schließt den oder die Angesprochenen ein (,ich und du/ihr‘), das exklusive ,Wir‘ dagegen nimmt den Angesprochenen aus (,ich und die anderen ohne dich‘). In keiner europäischen Sprache gibt es diese Unterscheidung, aber sie kommt in manchen anderen Teilen der Welt sehr häufig vor, zum Beispiel in Australien und im Pazifik. Und so ist es nicht verwunderlich, dass gerade in diesen Regionen auch Sprachen mit europäischen Wörtern eine solche Unterscheidung haben, zum Beispiel im Tok Pisin (Neuguinea) mipela (exklusives ,Wir‘) versus yumi (inklusives ,Wir‘; vgl. Abb. 4). Auch dies ist ein schönes Beispiel dafür, dass Kreol-Sprachen manchmal eine komplexere Grammatik haben als die europäischen Sprachen.

Der Atlas der Pidgin- und Kreol-Sprachen wurde als Buch von Oxford University Press veröffentlicht, zusammen mit dem dreibändigen Survey of Pidgin and Creole Languages. Aber die meisten der Informationen zu den Sprachstrukturen sind auch frei online verfügbar, veröffentlicht vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (http://apics-online.info). Viele Zusatzinformationen, wie etwa detaillierte Literaturangaben und über 15.000 glossierte und übersetzte Beispielsätze, sind nur online verfügbar [2].

Literaturhinweise

Michaelis, S.; Maurer, P.; Haspelmath, M.; Huber, M. (Eds.)
Atlas and Survey of Pidgin and Creole Languages
Oxford University Press, Oxford (2013)
Michaelis, S.; Maurer, P.; Haspelmath, M.; Huber, M. (Eds.)
Atlas of Pidgin and Creole Language Structures Online
Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology, Leipzig (2013)
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