Forschungsbericht 2013 - Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft

Von dünnen Silikat-Filmen zur atomaren Struktur von Glas

Autoren
Heyde, Markus; Shaikhutdinov, Shamil; Freund, Hans-Joachim
Abteilungen
Chemische Physik
Zusammenfassung
Die Struktur amorpher Materialien aufgeklärt. Bisher stellte dieses Vorhaben durch die Komplexität dieser Stoffklasse eine der größten Herausforderungen dar. Modernen Präparationsmethoden in Kombination mit Rastertunnelmikroskopie ist die Entschlüsselung des Alltagswerkstoffs Glas gelungen.

Glas zählt zu den wichtigsten Materialien unserer Zeit. Vom Smartphone über das Trinkglas bis hin zum Blick aus dem Fenster wird klar, dass Gläser allgegenwärtig sind. Glasfaserkabel transportieren unsere E-Mails und Arbeiten hinaus in die Welt und Gebäude ohne architektonisches Fensterglas sind kaum mehr vorstellbar. Glas spielt in unserem Alltag eine wichtige Rolle, ohne dass wir uns seiner komplexen Struktur bewusst sind. Dabei ist Siliziumdioxid die Basis für die meistgebrauchten Gläser. Dessen Struktur gilt als Prototyp für amorphe Netzwerke. Dabei wird der Begriff Glas synonym für amorphe Materialien verwendet. Durch verschiedene Zusätze in Gläsern lassen sich die Materialeigenschaften verändern. Doch obwohl Glas schon seit vielen Jahrzehnten erforscht wird, haben wir lediglich eine vage Vorstellung von dessen atomarer Struktur. Gerade aber diese Informationen sind für die Charakterisierung und das Verständnis von Materialien entscheidend. Die Aufklärung der atomaren Struktur von Glas zählt zu einer der bedeutendsten, bisher ungelösten Fragestellungen in den Naturwissenschaften.

Siliziumdioxid − kristallin und amorph

Wie ähnlich kristalline und amorphe Proben sein können, ist in Abbildung 1(a) verdeutlicht. Dort ist ein kristallines Silikat − auch Quarz genannt − zusammen mit einem amorphen Silikat − also einem Glas − abgebildet. Erstaunlicherweise sind die meisten physikalischen Eigenschaften dieser beiden Proben sehr ähnlich. Alleine vom Hinsehen kann man die beiden Zustände nicht voneinander unterscheiden. Beide Proben sind durchsichtig; man spricht von optischer Transparenz. Doch worin unterscheiden sich diese beiden Phasen? Bereits kurz nach der Entwicklung des Laue-Verfahrens zur Beugung von Röntgen- oder auch Neutronenstrahlen an Festkörpern vor rund Hundert Jahren, wurden kristalline und amorphe Siliziumdioxidproben vergleichend untersucht. Diese Verfahren mitteln über makroskopisch große Probenbereiche und liefern in erster Linie Informationen im reziproken Raum. Bei kristallinen Proben ergeben sich diskrete Beugungsreflexe, die hingegen bei Gläsern fehlen. Die bei Gläsern gewonnenen Beugungsinformationen lassen sich mit theoretischen Modellen zur atomaren Anordnung vergleichen, erlauben aber keine eindeutige Strukturzuweisung.

Das 2D-Glasmodell

In diesem Zusammenhang postulierte W.H. Zachariasen vor achtzig Jahren die sogenannte „Random Network Theory” zur Erklärung der Struktur von amorphen Materialien [1]. Bei Siliziumdioxid ist die einfachste Baueinheit im dreidimensionalen Fall ein SiO4-Tetraeder. Reduziert man die Komplexität des Systems von drei auf zwei Dimensionen (2D), so landet man für Siliziumdioxid vom SiO4-Tetrader bei einem SiO3-Dreieck als einfachste Baueinheit. In Abbildung 1(b) sind solche SiO3-Dreiecke als einzelne Baublöcke in festen 180° Winkeln miteinander verbunden, was einem kristallinen Material entspricht. Hierbei hat man langreichweitige Ordnung und Periodizität. Variiert man den Winkel zwischen diesen Baueinheiten, so können die Baublöcke ein ausgedehntes Netzwerk mit Ringen unterschiedlicher Größe entwickeln. Wie in Abbildung 1(c) zu sehen ist, sind die gleichmäßigen Baueinheiten untereinander in scheinbar zufälligen Winkeln verknüpft. Es ergeben sich Strukturen, die − abgesehen von den Baueinheiten − keine langreichweitige Ordnung und keine Periodizität aufweisen. Zachariasen griff vor achtzig Jahren auf diese Vereinfachung zurück und schuf somit ein Modell zur Erklärung der atomaren Struktur in amorphen Materialien, die mit den bestehenden Daten der Röntgen- und Neutronenbeugung im Einklang stehen. Er malte ein 2D-Bild auf, in welchem trigonale Einheiten zum amorphen Netzwerk verknüpft sind. Aber lässt sich eine ähnliche Reduzierung der dreidimensionalen Struktur auf ein 2D-Modellsystem auch experimentell umsetzen?

Die Realisierung eines Modellsystems

In der Abteilung „Chemische Physik” des Fritz-Haber-Instituts ist man darauf spezialisiert Systeme zu entwickeln, die es erlauben, die Komplexität disperser Realkatalysatoren abzubilden und in Modellform zu untersuchen. Dabei werden dünne, wohlgeordnete Oxidfilme auf metallischen Einkristall-Substraten hergestellt, die sich auch unter den experimentellen Bedingungen der Oberflächenphysik nutzen lassen. Bereits im Jahr 2000 wurden in diesem Kontext gezielt dünne Silikat-Filme präpariert [2], um katalytische Oberflächenreaktionen studieren zu können. In den ersten Arbeiten wurden Silikat-Filme auf Molybdän-Einkristallen untersucht [2]. In neueren Studien wurden auch andere Metallsubstrate verwendet [3−5], unter anderem Ruthenium [3,5]. Durch den Einsatz unterschiedlicher metallischer Einkristall-Substrate lässt sich das Wachstum dieser dünnen Silikat-Filme entscheidend beeinflussen. Während sich bei Molybdän-Einkristallen überwiegend monolagendicke kristalline Filme bilden, lassen sich bei Ruthenium-Einkristallen sowohl Monolagen, als auch zweilagige Silikat-Filme definiert herstellen. In Abbildung 2 sind Modelle zu diesen Filmsystemen in einer Seitenansicht dargestellt. Erstaunlicherweise lässt sich der zweilagige Silikat-Film auf Ruthenium-Einkristallen sowohl in kristalliner [3] als auch in amorpher Modifikation [5] herstellen. Aus Messungen mittels niederenergetischer Elektronenbeugung (low energy electron diffraction, LEED) ist dies ersichtlich. Aber kann man dieses Filmsystem auch nutzen, um die atomare Struktur direkt zu beobachten und somit das Postulat amorpher Materialien sichtbar machen?

Das Beobachten einzelner Atome

Schauen wir uns die Möglichkeiten der modernen Rastersondenmikroskopie im Vergleich zu herkömmlichen Beugungsmethoden an. Der klare Vorteil der neuen Mikroskopietechniken liegt in der lokalen Abbildung von Oberflächen mit atomarer Auflösung im Realraum. Das Potenzial in Bezug auf Gläser deutete sich bereits in ersten Messungen der Arbeitsgruppe von Klaus Wandelt und Kollegen an [6−7]. Bisher ist das atomare Abbilden und Aufklären von amorphen Materialien mit diesen Verfahren jedoch nicht gezeigt worden. Dies liegt zum einem daran, dass die Abbildung von stark korrugierten Oberflächen mit Rastersondenmikroskopen im Allgemeinen schwierig ist, weil leicht tieferliegende Atompositionen der obersten Lage von benachbarten Atomen verdeckt werden. Zum anderen sind insbesondere in der Rastertunnelmikroskopie (scanning tunneling microscopy, STM) elektronische und topographische Informationen auf der atomaren Ebene eng miteinander verknüpft und oft spektroskopisch nur schwer voneinander zu trennen. Da Gläser in der Regel gute Isolatoren sind, ist zu dem die Untersuchung mit der Rastertunnelmikroskopie durch fehlende Leitfähigkeit erschwert. All diese Probleme lassen sich für den am Fritz-Haber-Institut entwickelten zweilagigen Silikat-Film auf Ruthenium-Einkristallen lösen [4,6]. Diese Filme sind atomar flach und erlauben die Verwendung von Rastertunnel- und Rasterkraftmikroskopie (atomic force microscopy, AFM) in idealer Weise.

In Abbildung 3(a) ist dieser zweilagige Silikat-Film mit dem Rastertunnelmikroskop abgebildet worden. In Abhängigkeit von der Konfiguration der Sondenspitze lassen sich entweder Sauerstoff- oder Siliziumpositionen des Silikat-Films auflösen [8]. In der obersten Lage sind drei Sauerstoffatome um ein Si-Zentrum angeordnet. In dem hier gezeigten Bildausschnitt erkennt man deutlich Erhöhungen mit atomaren Abständen und Symmetrien, die eine eindeutige Zuordnung der Siliziumpositionen erlauben. Anhand dieses Kontrastes lassen sich die Positionen der Sauerstoffatome berechnen. Eine umgekehrte Zuordnung lässt sich auch für Messungen mit einem Bildkontrast für Sauerstoffpositionen durchführen. Die so bestimmten Atompositionen sind halbseitig in Abbildung 3(a) eingezeichnet. Auf diese Weise wird ein kompletter Satz von Koordinaten für die atomare Struktur dieses amorphen Siliziumdioxid-Films gewonnen. Die direkte Gegenüberstellung von Zachariasens Modell aus Abbildung 1(c) und unseren atomar aufgelösten experimentellen Messungen in Abbildung 3(a) sind ein klarer Beweis für die vorgeschlagenen Strukturelemente in amorphen Netzwerken.

Die Struktur amorpher Materialien aufgeklärt

Die klare und eindeutige Bestimmung der Atompositionen ermöglicht eine umfassende Auswertung der vorliegenden Strukturelemente. Aus den Koordinaten lassen sich die Paarabstände des Netzwerks berechnen und beispielsweise mit der aus Röntgenbeugung erhaltenen Paarkorrelationsfunktion vergleichen. Dies ist in Abbildung 3(b) dargestellt. Die Paarkorrelationsfunktion eines amorphen Systems enthält im Vergleich zu kristallinen Systemen statt diskreter Linien breite Maxima, welche sich mit zunehmendem Radialabstand noch weiter verbreitern. Diese Verbeiterung spiegelt den amorphen Charakter der Struktur wider. Da die Atompositionen bekannt sind, lassen sich zusätzlich die Einzelmaxima der Paarkorrelationsfunktion chemisch zuordnen. Die Übereinstimmung der Paarkorrelationsfunktion aus 2D-Positionen und der Paarkorrelationsfunktion aus der Röntgenbeugung von 3D-Materialien verdeutlicht, dass der flache Siliziumdioxid-Film ein repräsentatives Modellsystem für ein dreidimensionales amorphes Material ist. Somit spielt er eine Schlüsselrolle bei der Strukturaufklärung von Gläsern.

Besonders interessant bei den hier gewonnen Daten ist die direkte Bestimmung von Bindungswinkeln, Atomabständen und Ringgrößen. Die Anzahl der Si-Atome pro Ring variiert typischerweise von vier bis neun Ringgliedern. Der am häufigsten vorkommende Ring besteht aus sechs Si-Atomen und entspricht der Baueinheit für einen hochgeordneten, kristallinen Siliziumdioxid-Film. In Abbildung 3(c) sind die bestimmten Ringgrößen farbig hinterlegt. Es lassen sich Aussagen über die Häufigkeitsverteilung der auftretenden Ringgrößen (Abb. 3(d)) machen sowie deren Verknüpfung untereinander beobachten. Darüber hinaus lassen sich, wie in Abbildung 4 gezeigt, auch Übergänge zwischen kristallinen und amorphen Bereichen abbilden und charakterisieren [9]. Die Abbildung dieser Grenzschicht trägt direkt zum Verständnis des Glasübergangs auf atomarer Ebene bei. Eine Strukturaufklärung für amorphe Materialien in dieser Dimension ist bisher nicht möglich gewesen. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass nach Veröffentlichung unserer ersten Arbeiten eine weitere Forschungsgruppe dieses 2D-Siliziumdioxid-Netzwerk auf Graphen nachstellen und mittels Transmissonselektronenmikroskopie (transmission electron microscopy, TEM) abbilden sowie in deren neueren Arbeiten auch strukturelle Umlagerungen unter Einfluss des rasternden Elektronenstrahls zeigen konnte [10].

Zusammenfassung und Ausblick

Wir haben erstmals die Struktur amorpher Materialien an einem 2D-Modellsystem unter Einsatz einer rastersondenmikroskopischen Technik aufgeklärt. Es ist uns gelungen, ein Siliziumdioxid-Netzwerk mit atomarer Auflösung abzubilden. Diese Messungen bestätigen eindeutig theoretische Überlegungen, die vor achtzig Jahren von Zachariasen zur Vernetzung von Glasstrukturen postuliert wurden. Man kann davon ausgehen, dass die erfolgreiche Präparation dieses amorphen Silikat-Films auf unterschiedlichen Trägern, auch zukünftig viele neue Impulse in vielfältigen Einsatzgebieten für diese neue Klasse von Materialien liefert.

Literaturhinweise

Zachariasen, W. H.
The atomic arrangement in glass
Journal of the American Chemical Society 54, 3841-3851 (1932)
Schröder, T.; Adelt, M.; Richter, B.; Naschitzki, M.; Bäumer, M.; Freund, H.-J.
Epitaxial growth of SiO2 on Mo(112)
Surface Review and Letters 7, 7-14 (2000)
Löffler, D.; Uhlrich, J. J.; Baron, M.; Yang, B.; Yu, X.; Lichtenstein, L.; Heinke, L.; Büchner, C.; Heyde, M.; Shaikhutdinov, S.; Freund, H.-J.; Włodarczyk, R.; Sierka, M.; Sauer, J.;
Growth and structure of crystalline silica sheet on Ru(0001)
Physical Review Letters 105, 146104 (2010)
Yu, X.; Yang, B.; Boscoboinik, J. A.; Shaikhutdinov, S.; Freund, H.-J.;
Support effects on the atomic structure of ultrathin silica films on metals
Applied Physics Letters 100, 151608 (2012)
Lichtenstein, L.; Büchner, C.; Yang, B.; Shaikhutdinov, S.; Heyde, M.; Sierka, M.; Włodarczyk, R.; Sauer, J.; Freund, H.-J.;
The atomic structure of a metal-supported vitreous thin silica film
Angewandte Chemie International Edition 51, 404-407 (2012)
Raberg, W.; Lansmann, V.; Jansen, M.; Wandelt, K.
Atomically resolved structure of fracture surfaces of a Ba/Si/O/C glass with atomic force microscopy
Angewandte Chemie International Edition 36, 2646-2648 (1997)
Poggemann, J.-F.; Heide, G.; Frischat, G.
Direct view of the structure of different glass fracture surfaces by atomic force microscopy
Journal of Non-Crystalline Solids 326-327, 15-20 (2003)
Lichtenstein, L.; Heyde, M.; Freund, H.-J.;
Atomic arrangement in two-dimensional silica: from crystalline to vitreous structures
The Journal of Physical Chemistry C 116, 20426-20432 (2012)
Lichtenstein, L.; Heyde, M.; Freund, H.-J.;
Crystalline-vitreous interface in two dimensional silica
Physical Review Letters 109, 106101 (2012)
Huang, P. Y.; Kurasch, S.; Alden, J. S.; Shekhawat, A.; Alemi, A. A.; McEuen, P. L.; Sethna, J. P.; Kaiser, U.; Muller, D. A.
Imaging atomic rearrangements in two-dimensional silica glass: watching silica’s dance
Science 342, 224-227 (2013)
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