Forschungsbericht 2013 - Max-Planck-Institut für Chemie
Luftqualität im Anthropozän
Von lokaler zu globaler Luftverschmutzung
Obwohl Luftverschmutzungen schon zu Zeiten des antiken Griechenlands und des Römischen Reichs dokumentiert wurden, stieg das Interesse an der Atmosphärenchemie, als Christian Schönbein 1839 Ozon (O3), welches von Elektrogeräten erzeugt wurde, entdeckte. Der Begriff „Ozon” leitet sich von dem griechischen „ozien” („riechen”) ab. Im Mittelalter kamen die Probleme mit urbaner Luftverschmutzung auf, wie beispielsweise in London durch die Verbrennung von Holz und Kohle, bei der − wie wir heute wissen − Schwefeldioxid (SO2), Stickoxide (NO, NO2) und kohlenstoffhaltige Stoffe freigesetzt werden und Feinstaub entsteht. 1661 verfasste John Evelyn seine berühmte Abhandlung „The inconveniencie of the aer and smoak of London dissipated” und zwei Jahrhunderte später, 1853, verabschiedete das britische Parlament nach ausführlichen Debatten das erste Gesetz zur Bekämpfung von Rauchbelästigung („Smoke nuisance abatement act”).
Beim Londoner „Smog” (Verschmelzung der Worte smoke (Rauch) und fog (Nebel)) herrschen typischerweise Schwefelverbindungen vor, wohingegen der photochemische Smog, wie z. B. in Los Angeles, durch hohe Konzentrationen an O3 gekennzeichnet ist. 1952 fand Arie Haagen-Smit heraus, dass O3 unter der Einwirkung von Sonnenlicht aus Kohlenwasserstoffen und NOx entsteht. Im Anthropozän, der mit der Industrialisierung beginnenden jüngsten geologischen Epoche – den Begriff prägte Paul Crutzen – wurde die „urbane” Luftqualität, beispielsweise in Zusammenhang mit saurem Regen, ein regionales Thema. Da seit den letzten Jahrzehnten auf allen Kontinenten eine starke Luftverschmutzung stattfindet, behandeln wir sie hier als globales Phänomen. Unter folgender Internetadresse kann eine visuelle Darstellung (Video) der Ausweitung der Luftverschmutzung von lokaler auf globale Ebene heruntergeladen werden: ftp://ftp.mpic.de/Lelieveld/.
Erdchemie-Modell
Das Video wurde anhand der Auswertung des Computermodells EMAC erstellt. Es beschreibt umfassend und weltweit meteorologische und atmosphärenchemische Prozesse. EMAC wurde am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz entwickelt und stützt sich auf das ECHAM-Klimamodell des Max-Planck-Instituts für Meteorologie in Hamburg. Daher kann es auch für historische Berechnungen und Zukunftsprognosen über lange Zeiträume hinweg verwendet werden. Da EMAC Atmosphären-, Meeres- und Landprozesse miteinander verknüpft, kann es als Erdchemie-Modell, das eine breite Palette an Raum- und Zeitbereichen modelliert, angesehen werden. In Mainz wird EMAC zur Untersuchung der Auswirkung der zunehmenden Luftverschmutzung in der Vergangenheit und in den letzten Jahren sowie zur Schätzung möglicher chemischer Atmosphärenzustände im 21. Jahrhundert eingesetzt.
Die Ergebnisse für den jüngsten Zeitraum wurden mit Gas- und Partikelmessungen von Luftqualitätsnetzen am Boden und globalen Satellitenbeobachtungen abgeglichen. Beispielsweise zeigt Abbildung 1 die vom Modell berechneten Aerosolpartikelkonzentrationen im Jahresdurchschnitt (Hintergrundfarben) und die Messungen an verschiedenen Standorten (Kästchen in der gleichen Farbpalette). Die Regionen, die aufgrund von stark erhöhten Partikelkonzentrationen verringerte Luftqualität haben, befinden sich im Nordosten der USA, in Europa, Süd- und Ostasien, Südamerika und Zentralafrika. Notorische Quellen der Luftverschmutzung sind Industrie, Verkehr, Stromerzeugung mithilfe von fossilen Brennstoffen (insbesondere Kohle), Landwirtschaft, Biokraftstoffe, Waldbrände und Savannenfeuer. Saubere Luft findet sich über den meisten Meeren, insbesondere auf der Südhalbkugel, ausgenommen im Abwind der Verschmutzungszentren in Nordamerika und Asien.
Mehrfachbelastungsindex (MPI)
Da wir uns für die Auswirkungen von Mehrfachgas- und -aerosolbelastungen auf die menschliche Gesundheit interessieren, ist es sinnvoll, sie zu einem Luftqualitätsindex, der SO2, NO2, Kohlenmonoxid (CO), O3 und Feinstaub (PM2.5) berücksichtigt, zusammenzufassen. Der Index bezieht sich auf Partikel mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 µm, die zur Abgrenzung von den größeren „groben” Aerosolen, welche üblicherweise nicht sehr tief in die Lunge eindringen, manchmal als „feine” Aerosole bezeichnet werden. Zur Berechnung der Luftverschlechterung auf globaler, regionaler und nationaler Ebene sowie zur Berücksichtigung der von diesen Bedingungen betroffenen Personen haben wir den bevölkerungsgewichteten Mehrfachbelastungsindex, MPI [1], definiert (MPI: „Multi-Pollutant Index”). Die Skala reicht von minus eins bis unendlich, wobei Werte über null für eine Überschreitung der WHO-Richtgrenzwerte für Schadstoffe stehen. Das bedeutet eine schlechte Luftqualität, die zu Todesfällen aufgrund von Lungenkrebs sowie Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen führt. Zu beachten ist, dass ein MPI unter null nicht zwangsläufig eine „gute” Luftqualität bedeutet, da diese Zahlen für große Regionen, die sowohl städtische als auch ländliche Gebiete umfassen, stehen. Abbildung 2 zeigt lediglich die Unterschiede zwischen den Regionen und die zeitliche Entwicklung von den vorindustriellen Bedingungen bis ins Anthropozän auf. Beispielsweise war die Luftqualität im Nahen Osten aufgrund der hohen Wüstenstaubkonzentrationen in der Luft auch ohne menschengemachte Emissionen relativ schlecht.
Abbildung 2 zeigt auch Zukunftsprognosen entsprechend einem „Business-as-usual”-Emissionsszenario (BaU) für die Jahre 2025 und 2050. BaU bedeutet, dass nur die derzeitigen Gesetze umgesetzt und keine zusätzlichen Maßnahmen zur Luftreinhaltung getroffen werden. Diese Prognosen sind somit keine „Vorhersagen”, denn sie stellen lediglich eine Fortschreibung des derzeitigen Verlaufs in die Zukunft dar, und die Menschheit hat die Möglichkeit, ihre Zukunft zu ändern. Dennoch sind die BaU-Prognosen hilfreich, um aufzuzeigen, wo eine Kontrolle der Luftverschmutzung besonders dringend ist und stellen so eine Entscheidungshilfe bezüglich der wirksamsten Maßnahmen dar.
Die größten Veränderungen des bevölkerungsgewichteten MPI traten während der Industrialisierung, d. h. zwischen dem vorindustriellen Zeitraum (PI von Pre-Industrial) und 2005, auf. Dies steht in Zusammenhang mit dem Anstieg der Schadstoffemissionen im 19. und 20. Jahrhundert, der für einen Großteil der Weltbevölkerung große Auswirkungen auf die Luftqualität hatte. Auch wenn die Veränderungen zwischen 2005 und 2050 geringer sein werden, können sie plötzlich auftreten. Während in Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien die MPI-Veränderungen schrittweise erfolgen, kann es in den Schwellenregionen (SAs, EAs, ME) zu sehr schnellen Anstiegen kommen. Global betrachtet ist der bevölkerungsgewichtete MPI von –0,63 (PI) auf –0,13 im Jahr 2005 angestiegen, und ein zusätzlicher starker Anstieg auf +0,18 wird bis 2050 prognostiziert. Künftig kann die Umsetzung der geltenden Gesetze entsprechend BaU in einigen Regionen, z. B. Nord- und Südamerika sowie Europa, zu leichten Verbesserungen der Luftqualität (MPI-Rückgänge) führen, während sich die Lage im Nahen Osten sowie in Süd- und Ostasien verschlechtern wird.
Abbildung 3 zeigt den prognostizierten Anstieg des bevölkerungsgewichteten MPI pro Land an. Es ist zu erkennen, dass Indien, gefolgt von Bangladesch und China, vermutlich die schlimmste Luftverschlechterung zu verzeichnen hat. Neben Ländern in Süd- und Ostasien zählen auch zahlreiche Länder im Nahen Osten dazu. Die bevölkerungsreichsten Länder mit hoher Luftverschmutzung beeinflussen den globalen durchschnittlichen Rückgang der Luftqualität, d. h. die Luftqualität für den Durchschnittsbürger der Zukunft, relativ stark.
Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit
In Zusammenarbeit mit Experten für öffentliche Gesundheit wurden die globalen Modellberechnungen für die Luftverschmutzung in überhöhte Sterblichkeit, d. h. eine Art weltweites Passivrauchen, übersetzt. Der Modell-Output wurde zur Schätzung des Sterblichkeitsrisikos durch Lungenkrebs sowie Atemwegs- und Herzkreislauferkrankungen mit Konzentrations-Wirkungs-Funktionen (CRFs) kombiniert [2]. Diese Funktionen basieren auf epidemiologischen Kohortenstudien und nutzen „Global burden of disease”-Daten – nach Ländern – der Weltgesundheitsorganisation. Berechnungen zufolge führt die Gesundheitsauswirkung von Wüstensand in der Atmosphäre jährlich zu 400.000 Todesfällen, und die zugehörige Anzahl an verlorenen Lebensjahren beträgt etwa 3,5 Millionen pro Jahr [3]. Ein Großteil dieser staubbedingten Sterblichkeit hat natürliche Ursachen (≈75 %) und tritt zumeist in den Ländern des sogenannten „Staubgürtels”, der sich von Nordafrika über den Nahen Osten bis nach Süd- und Ostasien im Abwind der großen Wüsten erstreckt, auf.
Eine noch größere Gesundheitsauswirkung ist auf vom Menschen verursachte Luftverschmutzung zurückzuführen; die stärksten Auswirkungen finden sich in Süd- und Ostasien (Abb. 4). Unseren Berechnungen zufolge betrug die Sterblichkeit durch Luftverschmutzung 2005 weltweit 2,0 Millionen, die Sterblichkeit durch Atemwegserkrankungen 0,77 Millionen und durch Lungenkrebs 0,19 Millionen mit insgesamt 21 Millionen verlorenen Lebensjahren. Die globale Durchschnittssterblichkeit pro Kopf aufgrund von Luftverschmutzung beträgt jährlich 0,1 %. In Abbildung 4 sind große Ballungsgebiete (und Megastädte), z. B. Delhi, Mumbai, Kolkata und Dhaka (Abb. 4, links) sowie das Perlflussdelta, Hongkong, Shanghai, Peking, Sichuan, Tokio und Seoul, wo die Sterblichkeit durch Luftverschmutzung besonders hoch ist, gut zu erkennen. Unsere BaU-Berechnungen lassen darauf schließen, dass besonders in diesen Ländern mit zahlreichen Megastädten weitgehende Maßnahmen zur Kontrolle der Luftqualität erforderlich sind, um einen drastischen Anstieg der Sterblichkeit, d. h. einen Anstieg zusätzlich zu den bereits sehr hohen heutigen Zahlen aus Abbildung 4 hinaus, zu verhindern.