Forschungsbericht 2012 - Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns

Vererbungsprozesse mitochondrialer Krankheiten aufdecken

Autoren
Freyer, Christoph; Cree, Lynsey M.; Mourier, Arnaud; Stewart, James B.; Koolmeister, Camilla; Milenkovic, Dusanka; Wai, Timothy; Hagström, Erik; Chatzidaki, Emmanouella E.; Wiesner, Rudolph; Samuels, David C.; Larsson, Nils-Göran; Chinnery, Patrick F.
Abteilungen

Abteilung Mitochondriale Biologie

Zusammenfassung
Wenn Mitochondrien nicht richtig funktionieren, kann das für die betreffende Person Stoffwechselstörungen bedeuten, da Mutationen der mitochondrialen DNA (mtDNA) Muskelschwäche, neurodegenerative Erkrankungen, Herzprobleme und Diabetes verursachen können. Zudem werden Mitochondrien mit dem Alterungsprozess in Verbindung gebracht. In der hier vorgestellten Studie zeigen Wissenschaftler der Abteilung Mitochondriale Biologie, dass innerfamiliäre Unterschiede im Mutationsgrad mitochondrialer Gene sogar schon weitgehend vor der Geburt der Mutter selbst bestimmt werden.

Mitochondrien spielen eine zentrale Rolle für die Energiegewinnung im Körper

Der Großteil des genetischen Bauplans eines Lebewesens ist im Zellkern hinterlegt, in Form von DNA. Darüber hinaus enthalten eukaryotische Zellen - also Zellen mit Zellkern – verschiedene kleine Organisationseinheiten, die bestimmte Funktionen in der Zelle übernehmen. Mitochondrien gehören zu diesen sogenannten Zellorganellen. Sie enthalten insbesondere Proteinkomplexe, die zur Energiegewinnung notwendig sind. Während der Zellatmung entsteht hier das Molekül Adenosintriphosphat (ATP), eine für Zellen universell einsetzbare Energiequelle. Sie kann für unterschiedliche Prozesse in fast allen Geweben genutzt werden.

Mitochondrien enthalten im Vergleich zur Zellkern-DNA einen bedeutend kleineren Teil an Erbinformation, die sogenannte mitochondriale DNA, kurz mtDNA. Die mtDNA enthält nur 37 Gene, die 13 Proteinkomponenten der Atmungskette kodieren; außerdem werden zwei verschiedene ribosomale RNAs (rRNAs) und 22 verschiedene transfer RNAs (tRNAs) kodiert. Die tRNAs und rRNAs spielen bei der Proteinbiosynthese eine entscheidende Rolle. Proteine, also Eiweiße, sind molekulare Helfer, die im Organismus an den unterschiedlichsten Stellen verschiedenste Aufgaben erfüllen [1].

Da die Mitochondrien somit eine zentrale Rolle für die Energiegewinnung des Körpers spielen, können sich Mutationen in den Genen der mtDNA maßgeblich auf die Gesundheit auswirken. Und: Die entsprechenden Erkrankungen können über die mutierten Gene an die nächste Generation vererbt werden.

Der Bottleneck-Effekt: Erst Verknappung, dann schnelle Vermehrung von mtDNA

Die mtDNA wird nicht nach der klassischen mendelschen Lehre an die Nachkommen vererbt, bei der je ein Satz Erbinformation von Vater und Mutter beigesteuert wird. Die mitochondrialen Gene werden nur von der Mutter an die Nachkommen weitergegeben.

Eine weitere Besonderheit der mtDNA ist der sogenannte multicopy-Effekt: In einer einzelnen menschlichen Körperzelle können etwa 1000 bis 10000 Kopien der mtDNA vorliegen. Dabei kommen zufällig auftretende Mutationen in der mtDNA entweder in jeder Kopie vor – oder die mutierten Gene koexistieren mit den ursprünglichen Genen in einem bestimmten Mischungsverhältnis. Letzteres nennt man Heteroplasmie. Da sich die einzelnen mtDNA-Moleküle unabhängig voneinander vermehren, können unterschiedliche Zellen verschiedene Mischungsverhältnisse an mutierten und ursprünglichen Genen besitzen. Während der Bildung von unreifen Eizellen werden nur wenige mtDNA-Moleküle übertragen. Reifen die Eizellen heran, werden die vorhandenen mtDNA-Moleküle sehr schnell auf eine hohe Anzahl vermehrt (Abb. 1). Dieses Ereignis wird Bottleneck (Flaschenhals)-Effekt genannt: Wenige Ausgangsmoleküle der mtDNA stellen die Basis aller späteren Kopien der mtDNA im gesamtem Organismus dar [2]. Das Bottleneck-Phänomen kann dazu führen, dass die Mutter einen niedrigen Gehalt an mtDNA-Molekülen mit mutierten Genen besitzt, die Nachkommen dann aber einen unverhältnismäßig hohen Gehalt haben, weil die Auswahl der Moleküle und deren Mischungsverhältnis von mutierten zu ursprünglichen Genen sich zufällig einstellt. Auf diese Weise können verhältnismäßig mehr Moleküle mit mutierten Genen vererbt werden, als es der tatsächlichen Situation in der Mutter entspricht.

Die Arbeitsgruppe um Nils-Göran Larsson konnte bereits in einer früheren Arbeit zeigen, dass Mutationen, die zur Veränderung eines Proteins führen, einer starken vorgeburtlichen Selektion unterliegen und daher oftmals nicht an die Nachkommen weitergegeben werden. Im Gegensatz dazu gibt es auch sogenannte stille Mutationen. Stille Mutationen sind ebenfalls Veränderungen eines Gens, allerdings hat diese Mutation keine Auswirkung auf die Funktionalität des dazugehörigen Proteins. Stille Mutationen in der mtDNA unterliegen keiner vorgeburtlichen Selektion [3].

tRNAs als mögliche Gefahrenherde mitochondrialer Erkrankungen

Die Meinungen über das genaue Wie und Wann der Vererbung gesundheitsgefährdender mitochondrialer Mutationen gingen aufgrund des Bottleneck-Effekts bislang auseinander. Christoph Freyer, Wissenschaftler in der Abteilung Mitochondriale Biologie am Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns und am Karolinska Institut in Stockholm, entwickelte daher ein neues Mausmodell. Die Hauptrolle spielt hier eine pathogene, also krank machende Mutation in einem mitochondrialen Gen namens „tRNA Methionin“. Mutationen in mitochondrialen tRNA-Genen verursachen einen Großteil der bekannten mitochondrialen Krankheiten, obwohl tRNA Gene nur einen Bruchteil der mtDNA ausmachen. Beispielsweise wurden bei drei der bekanntesten mitochondrialen Erkrankungen Mutationen in tRNA-Genen nachgewiesen. Dabei handelt es sich um die Erkrankungen MELAS, MERFF und CPEO [4]. Allen drei Syndromen ist gemein, dass sie hauptsächlich das Gehirn und das Nervensystem beeinträchtigen sowie die Muskeln, was unter dem Begriff „Enzephalomyopathie“ zusammengefasst wird. Wie eingangs beschrieben, wird die mitochondriale DNA nur von der Mutter vererbt, sie kann aber völlig gesund sein, denn die Krankheit tritt erst durch den Bottleneck-Effekt in den Nachkommen auf, da für die Entwicklung einer solchen Krankheit nur die Menge mutierter Gene eine entscheidende Rolle spielt.

Die Wissenschaftler untersuchten mithilfe des Mausmodells die Mutation „tRNA Methionin“ genauer: Wie stellt sich in der Maus das Mischungsverhältnis zwischen mutierten und nicht mutierten Genen, der sogenannte Mutationsgrad, in den drei verschiedenen Phasen des Vererbungsprozesses dar? Zunächst analysierten sie die Keimzellen von Mausembryonen und bestimmten dort jeweils den Mutationsgrad, der, wie gesagt, von Keimzelle zu Keimzelle variieren kann. Nach der Geburt einer Maus wurden in den unreifen Eizellen erneut die Mutationsgrade untersucht. Abschließend kamen die Mutationsgrade in der mtDNA der Nachkommen dieser Maus unter die Lupe.

Neue Aspekte der mütterlichen Genetik bei mitochondrial vererbten Krankheiten aufgedeckt

Freyers entscheidende Erkenntniss aus diesen Experimenten ist, dass die weibliche Keimbahn Mutationen in tRNA Genen nicht aussortiert. Ob und in welchem Maße mutierte Gene an die nächste Generation weitergegeben werden können, entscheidet sich also größtenteils schon, wenn die künftige Mutter selbst noch ein Embryo ist, und zwar schon während der Entwicklung ihrer Keimzellen [5]. Da das entsprechende Mischungsverhältnis von Eizelle zu Eizelle variieren kann, wird der Mutationsgrad zufällig an die nächste Generation vererbt. So erklären sich auch die Unterschiede innerhalb einer Familie. Und: Während es keine Selektion in den Keimzellen gibt, erfolgt jedoch nach der Befruchtung eine strenge Auslese von hochgradigen Mutationen, das heißt, in dem sich entwickelnden Embryo.

Mit diesen Ergebnissen haben die Forscher einen Aspekt der mütterlichen Genetik aufgedeckt, der den Weg zu neuen Möglichkeiten der genetischen Diagnose mitochondrialer Erkrankungen ebnen könnte. Die Beobachtung, dass im Mausmodell die Mitochondrien versuchen, durch Mutationen bedingte Defekte zu kompensieren, eröffnet weitere Einblicke in den Vererbungsprozess mitochondrialer Krankheiten. Während der gesamten Lebensspanne eines Organismus häufen sich Mutationen in der mtDNA an und verschiedene Mechanismen in der Keimbahn scheinen schon früh zu bewirken, dass der Mutationsgrad verringert oder zwischen Generationen sogar vollständig zurückgesetzt wird.

Literaturhinweise

Larsson, N.-G.
Somatic mitochondrial DNA mutations in mammalian aging
Annual Review of Biochemistry 79, 683–706 (2010)
Stewart, J. B.; Freyer, C.; Elson, J. L.; Larsson, N.-G.
Purifying selection of mtDNA and its implications for understanding evolution and mitochondrial disease
Nature Reviews Genetics 9, 657–662 (2008)
Stewart, J. B.; Freyer, C.; Elson, J. L.; Wredenberg, A.; Cansu, Z.; Trifunovic, A.; Larsson, N.-G.
Strong purifying selection in transmission of mammalian mitochondrial DNA
PLoS Biology 6, e10 (2008)
Goto, Y.; Nonaka, I.; Horai, S.
A mutation in the tRNA(Leu)(UUR) gene associated with the MELAS subgroup of mitochondrial encephalomyopathies
Nature 348, 651–653 (1990)
Freyer, C.; Cree, L. M.; Mourier, A.; Stewart, J. B.; Koolmeister, C.; Milenkovic, D.; Wai, T.; Floros, V. I.; Hagström, E.; Chatzidaki, E. E.; Wiesner, R. J.; Samuels, D. C.; Larsson, N.-G.; Chinnery, P. F.
Variation in germline mtDNA heteroplasmy is determined prenatally but modified during subsequent transmission
Nature Genetics 44, 1282–1285 (2012)
Zur Redakteursansicht