Forschungsbericht 2009 - Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik
Der Wohlfahrtsstaat Schweden: Modernisierung – Stabilisierung – Modifizierung
Welfare State Sweden: Modernization – Stabilization – Modification
Die Wohlfahrtsstaaten des europäischen Nordens standen schon früh im Blickpunkt des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht. Wegen ihres „universalistischen“ Ansatzes im Sozialrecht, soziale Sicherheit für alle Einwohner über das allgemeine Steueraufkommen zu gewährleisten, waren Dänemark und Norwegen für verschiedene Forschungsprojekte [1] besonders interessant. Die Erforschung der rechtlichen Gestaltung des „Modells Schweden“ und dessen Veränderungen entwickelte sich aber aus mehreren Gründen bald zu einem der Schwerpunkte dieses Teils der Institutsarbeit.
Das „Modell Schweden“ im Wandel
Lange Zeit war das „Modell Schweden“ von großem internationalen Interesse. Schweden galt einerseits als lebendiges Beispiel dafür, dass es möglich ist, Marktwirtschaft mit einer auf Gleichheit zielenden Sozialpolitik zu vereinen. In den 1930er-Jahren begann Schweden damit, die Idee des Staates als eines „Volksheims“ für alle Bürger umzusetzen. Lange Zeit wurde dies als „Dritter Weg“ zwischen Gesellschaften mit großen Klassenunterschieden und kommunistischer Unterdrückung wahrgenommen. Andererseits wurde das Modell schon früh polemisch als „Wohlfahrtsdiktatur“ verworfen. Später wurde Schweden in der sozialpolitischen Diskussion fast nur noch exemplarisch für die Folgen eines überzogenen Anspruchsdenkens gegenüber dem Staat zitiert. Die in den zurückliegenden Jahren von sozialdemokratischen und von bürgerlichen Regierungen gleichermaßen geforderten und für die Betroffenen teilweise schmerzhaften Kürzungen vieler Sozialleistungen werden gerne als Beleg für das Ende des Wohlfahrtsstaats angeführt. Schließlich ist die außerhalb Schwedens immer noch weithin unkritisch akzeptierte Klassifizierung dieses Landes als „sozialdemokratischer“ Wohlfahrtsstaat oder als „sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Konsensdemokratie“, jedenfalls nach den jüngsten großen Reformen und dem Wahlsieg der Konservativen 2006, wohl endgültig überholt. Universalismus und Einheitlichkeit der Sozialleistungen beschreiben nicht mehr die rechtlichen Regelungen und noch weniger die Rechtswirklichkeit.
Rechtswissenschaftliche Analyse des Wohlfahrtsstaats Schweden: Forschungsansatz und Forschungswege
Das Projekt einer rechtswissenschaftlichen Analyse des Wohlfahrtsstaats Schweden musste deshalb prozesshafte Verläufe über längere Zeiträume berücksichtigen. Gerade traditionsreiche sozialstaatliche Institutionen werden durch neuartige aktuelle Herausforderungen auf ganz spezielle Weise reformbedürftig. Nach der (rechts-)historischen Erforschung des schwedischen Wegs zum „Volksheim“ [2] galt es zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber zwar systemkonforme Detailreformen in Angriff nimmt, dass dadurch jedoch selten wirksame Lösungen der komplexen Probleme erreicht werden können, die sich durch diese kleinen Schritte auch selbst wiederum verändern. Schweden gab mit der tief greifenden Reform seiner gesetzlichen Rentenversicherung aber ein in Europa einzigartiges Beispiel dafür, dass trotz des international wohlbekannten Beharrungsvermögens einmal etablierter Institutionen grundlegende Veränderungen wie der eines Systemwechsels in der sozialen Sicherheit durch demokratische Prozesse politisch machbar und gesetzgeberisch rational zu verwirklichen sind.
Wie für die vergleichende Darstellung rechtlicher Regelungen anderer Länder allgemein galt somit auch für dieses Projekt, dass eine abstrakt bewertende Übersicht ihre wissenschaftliche Aussagekraft nur aus der Information über die vielfältigen Unterschiede in den rechtlichen Details gewinnen kann. Dazu musste das Forschungsspektrum erweitert werden. Dies geschah, indem zunächst, neben der kontinuierlichen Beobachtung und Beschreibung des Rechts der „klassischen“ sozialen Risiken (Einkommensausfall aufgrund Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität und Alter), das schwedische Recht in die meisten Forschungsprojekte des Instituts mit einbezogen wurde. Auf diese Weise kamen etwa die Besonderheiten des schwedischen Behindertenrechts in den Blick: Die Zuweisung der Aufgabe an die Kommunen, die vom Gesetzgeber zentral vorgegebenen Rechte der Behinderten in der Praxis umzusetzen und die verwaltungsrechtlichen Sanktionen, die speziell geschaffen wurden, um diese Rechte effektiv durchzusetzen. Die Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter im Sozialrecht wurden in mehreren Studien untersucht und durch Detailanalysen des Arbeitsrechts (Teilzeitarbeit) und des Familienrechts (Gestaltung von Elterngeld und -urlaub, Rechtsstellung der Kinder) ergänzt. Im Rahmen des Projekts „Aktivierung“ für Schweden (und auch für Dänemark) erfolgte in internationaler und interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Soziologen, Politologen und Ökonomen aus den beiden nordischen Ländern eine breitere Darstellung des Arbeitsrechts, des Kündigungsschutzes, der Arbeitsförderung und -vermittlung [3]. Besonderheiten des nordischen Sozialrechts waren aber auch ihrerseits Anlass für weiter ausgreifende Forschungsprojekte des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Sozialrecht. So wurde etwa das Arzthaftungsrecht im Kontext der Patientenrechte verschiedener europäischer Länder, Russlands und der USA im Rechtsvergleich zu den bis heute einzigartigen Patientenversicherungsmodellen Dänemarks, Finnlands, Schwedens und Norwegens analysiert, was neben der sozialrechtlichen Besonderheit auch eine Reflexion des jeweiligen Deliktsrechts erforderte [4].
Forschungsergebnisse
Im Vordergrund des gesamten Projekts stand die Analyse der jahrelangen Vorarbeiten für die tief greifende, 2000 in Kraft getretene Rentenreform, ihrer gesetzgeberisch höchst innovativen Öffnung der obligatorischen Alterssicherung für den Kapitalmarkt [5] und die Beobachtung der ersten Bewährungsprobe des neuen Rechts in der aktuellen Finanzkrise. Der schwedische Versuch, ein auf ökonomische und demografische Veränderungen quasi „automatisch“ sich rechtlich selbst regulierendes zukunftssicheres System der Alterssicherung zu schaffen, lässt jetzt schon beides erkennen: Man kann auf diese Weise durchaus nationale Probleme ohne ständige Nachbesserungen des Gesetzgebers auffangen, einem einzelstaatlichen Gesetzgeber ist es aber nicht möglich, sich vollständig gegen globale Krisen zu immunisieren [6].
Daneben erlauben es die Änderungen zahlreicher Details (nicht nur) des Sozialrechts, zwei weitere Forschungsergebnisse zu formulieren: Zum einen verlor das „Modell Schweden“ durch den Beitritt des Landes zur EU eine Vielzahl seiner arbeits- und sozialrechtlichen Besonderheiten, nicht aber seine Eigenart. Zum anderen kann als Momentaufnahme eines langen Veränderungsprozesses konstatiert werden, dass Schweden nicht länger primär den sozialdemokratischen „Mittelweg“ repräsentiert, sondern, durch die familienrechtliche Gleichstellung der Frauen, ein Modell gesellschaftlichen Wandels.