Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für demografische Forschung
Bevölkerung und Politik: Die Etablierung eines neuen integrativen Forschungsansatzes
Population and Policy: Establishing a new integrative research approach
Bevölkerung und Politik (James Vaupel)
MPI für demografische Forschung, Rostock
Wie beeinflusst Politik Bevölkerungstrends? Welche Auswirkungen hat der Demografische Wandel auf Politik? Wie funktioniert das Wechselspiel zwischen einzelnen Bereichen der Bevölkerungsentwicklung (Alterung, Geburten, Wanderungen) und den unterschiedlichen Dimensionen des Politischen (konkrete Politiken, politische Entscheidungsprozesse, politische Institutionen)? Die Antworten auf diese Fragestellungen können richtungweisend für die Ausgestaltung von Politik und in der Folge für das gesellschaftliche Zusammenleben oder die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes sein. Um so mehr bedarf es einer systematischen, inter- bzw. transdisziplinären Grundlagenforschung, die bisher – wenn überhaupt – nur in Ansätzen vorhanden ist. Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung hat deshalb 2007 mit dem Aufbau eines Forschungsbereichs für Bevölkerung und Politik („Laboratory of Population and Policy / PoL“) begonnen, welches sich der Etablierung eines integrativen Forschungsfeldes im Schnittpunkt von Demografie, Politik- und Sozialwissenschaften widmet. Im Zentrum der Untersuchungen stehen sowohl die Auswirkungen von politischen Maßnahmen auf demografisches Verhalten als auch Studien zum Einfluss des Demografischen Wandels auf Politik, politische Institutionen und politische Prozesse. Der folgende Beitrag präsentiert Ergebnisse zweier Studien, die sich mit den (potenziellen) Auswirkungen demografischer Veränderungen auf politische Prozesse beschäftigen. Während die erste Studie mögliche Konsequenzen der Bevölkerungsalterung auf nationalstaatliche Politik in den Blick nimmt und so Individuen und ihre Präferenzen als maßgebliche Größe im politischen Prozess konzeptionalisiert, widmet sich die zweite Studie den potenziellen Veränderungen des europäischen Machtgefüges durch Bevölkerungswachstum bzw. -rückgang in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU). Als entscheidende politische Akteure werden hier die Nationalstaaten angesehen, die Einfluss auf politische Prozesse auf supranationaler Ebene nehmen.
Wirkungen demografischer Entwicklungen auf politische Handlungsoptionen: Bevölkerungsalterung und sozialpolitische Präferenzen
Häufig wird angenommen, dass in modernen Wohlfahrtsstaaten ein wachsender Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung den Spielraum zukünftiger sozialpolitischer Reformen begrenzt, nicht zuletzt deshalb, weil sie beispielsweise eine durchgängig höhere Wahlbeteiligung aufweisen.
Sollten sich die politischen Präferenzen älterer Menschen für staatliche Transferzahlungen zwischen den Generationen (z.B. Kindergeld, Renten) von jenen jüngerer unterscheiden, so könnte dies in einer alternden Gesellschaft in der Tat dazu führen, dass politische Entscheidungsprozesse schwieriger werden. Unter Berufung auf den Demografischen Wandel sind etwa in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren mehrere zentrale Politikreformen durchgeführt worden, die tendenziell darauf abzielen, die staatliche Unterstützung für die jüngere Generation auszubauen (zuletzt durch das Elterngeld), während bei der älteren Generation eher das finanzielle Einsparpotenzial genutzt wurde (z.B. durch Rentennullrunden). Bei einem wachsenden Seniorenanteil könnte sich ein solcher Politik-Mix als wenig nachhaltig erweisen.
Ein Forschungsprojekt innerhalb des PoL untersucht deshalb, ob ältere Menschen in Deutschland eher „altruistisch“ oder „egoistisch“ in ihren politischen Präferenzen sind, d.h. ob sie staatliche, an die jüngere Generation gerichtete Transfers weniger stark unterstützen als jüngere Menschen1. Bisher konnte ein solcher „Alterseffekt“ in der Forschung nur selten nachgewiesen werden, vor allem aufgrund der Datenlage. Die meisten Umfragen im Bereich intergenerationaler Beziehungen enthalten hauptsächlich Fragestellungen zu privaten Transferleistungen, d.h. Unterstützungspotentiale innerhalb der Familien. Fragen nach politischen Einstellungen zu staatlichen Transfers wiederum beschränken sich meist auf Einstellungen zu allgemeinen Verantwortlichkeiten des Staates gegenüber den verschiedenen Altersgruppen. Da vor allem in Deutschland die sozialpolitische Verantwortung des Staates generell von allen (Alters-)Gruppen als sehr hoch eingestuft wird, kann mit diesen Fragestellungen ein möglicherweise bestehender Alterseffekt kaum erfasst werden. Das Gros der wissenschaftlichen Untersuchungen sieht die These vom Konflikt um Ressourcen zwischen Alt und Jung in der Folge als nicht erwiesen an.
Die jüngsten Untersuchungen des MPIdF auf Basis der im Jahr 2003 durchgeführten zweiten Welle des Population and Policy Acceptance Survey (PPAS) kommen allerdings zu anderen Ergebnissen. Dieser Survey enthielt nicht nur Fragen zu innerfamiliären Transfers und zur Sozialpolitik als staatlichem (oder privatem) Verantwortungsbereich, sondern explizit auch Fragen nach der Unterstützung oder Ablehnung konkreter staatlicher Maßnahmen in einer Reihe von gesellschaftlichen Bereichen. Ein solcher Ansatz erleichtert es Befragten, mögliche Wirkungen politischer Maßnahmen auf ihr eigenes Leben (oder das ihrer Kinder, ihrer Eltern, etc.), auf ihre finanzielle Absicherung oder ihre Handlungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Analyse der Daten macht deutlich, dass bei der Frage nach spezifischen Politikreformen durchaus Alterseffekte auftreten. So haben ältere Befragte des PPAS eine wesentlich geringere Neigung als jüngere, eine deutliche Erhöhung des Kindergeldes zu unterstützen. Als weitere wichtige Einflussfaktoren konnten Familienstand und Kinderlosigkeit identifiziert werden: unverheiratete und kinderlose Befragte zeigten ebenfalls eine deutlich niedrigere Neigung, Transfers an die jüngere Generation zu befürworten. Die ersten Ergebnisse einer innerhalb des Forschungsprojekts durchgeführten Mikrosimulation ergaben zudem, dass der Anteil älterer, unverheirateter und kinderloser Personen in Deutschland bis zum Jahr 2040 stark ansteigen wird. Im Zusammenspiel mit der höheren Wahlbeteiligung und der Präferenzstruktur Älterer könnten diese demografischen Entwicklungen somit zukünftig Entscheidungsprozesse in einzelnen sozialpolitischen Bereichen erschweren.
Wirkungen demografischer Entwicklungen auf staatliche Machtkonstellationen: Bevölkerungsentwicklung und Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU
Eine weitere Studie des PoL zu Wirkungen demografischer Entwicklungen auf Politik2 widmete sich der Frage, wie sich zukünftige Veränderungen der Bevölkerungszahl verschiedener europäischer Länder auf die Machtverteilung und Entscheidungsprozesse innerhalb der EU auswirken. Die Bevölkerungsgröße der einzelnen Mitgliedsstaaten ist – vor allem seit den 2007 in Lissabon beschlossenen neuen Abstimmungsregeln – ausschlaggebend für die Stimmenarchitektur des Rates der Europäischen Union, des mächtigsten Entscheidungsgremiums der EU. Ab 2009 gilt die so genannte doppelte Mehrheit: Mehrheitsbeschlüsse müssen von mindestens 55 Prozent der Mitgliedsstaaten („Staatenquorum“, 1 Staat = 1 Stimme) getroffen werden, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der europäischen Bevölkerung repräsentieren („Bevölkerungsquorum“). Um das Gewicht der bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten zu schwächen, wurde vereinbart, dass die Sperrminorität in Höhe von 35 Prozent der Unionsbevölkerung aus mindestens vier Ländern bestehen muss. Der Einfluss eines EU-Landes hängt aber auch vom Verhältnis zu seinen potenziellen Mitstreitern ab. In der Vergangenheit haben sich Allianzen herausgebildet, die die Verhandlungsführung eines Staates beeinflussen, z.B. die französisch-deutsche Zusammenarbeit in der europäischen Integration, die Gruppe der südeuropäischen Staaten, die Kürzungen der EU-Subventionen zu verhindern sucht, oder die Koalition der Nettozahler, die eine bessere Kontrolle der Kostenentwicklung anstrebt.
Die europäische Politik hat dem Einfluss zukünftiger demografischer Veränderungen auf die Machtbalance erstaunlicherweise wenig Beachtung geschenkt und bezog sich bei Verhandlungen über Vertragsänderungen weitgehend auf den Status Quo. Der Analyse des MPIdF liegen Daten der neuesten Bevölkerungsvorausschätzung der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2050 zugrunde. Aufgrund unterschiedlicher Entwicklungen von Geburtenraten und Lebenserwartung wird etwa die Hälfte der Mitgliedsstaaten in einer EU-27 bzw. EU-28 (mit der Türkei als Beitrittsstaat) einen Bevölkerungszuwachs aufweisen, so etwa Frankreich und Großbritannien. Die Bevölkerungen der anderen Hälfte werden schrumpfen, darunter vor allem jene in Mittel- und Osteuropa.
Die Studie macht deutlich, dass die Demografie zukünftig direkten Einfluss auf die Machtbalance innerhalb der EU haben wird und sogar neue Staatenkoalitionen hervorbringen könnte. Folgt man der Hypothese, dass schrumpfende Gesellschaften z.B. in der Bildungs- oder Sicherheitspolitik andere Schwerpunkte setzen als wachsende, dann könnte der Demografische Wandel zwei neue Koalitionen entstehen lassen – Wachstumsstaaten auf der einen Seite, Schrumpfstaaten auf der anderen. Eine Koalition der ersteren könnte z.B. bis 2050 durchgängig auf eine stabile Sperrminorität setzen und so Einfluss geltend machen. Durch einen Türkei-Beitritt würde dieser Einfluss noch größer, denn das Stimmengewicht der Koalition käme dann sogar der Marke von 65 Prozent sehr nahe. Darüber hinaus zeigt die Analyse, dass es generell nur äußerst großen und heterogenen Staatengruppen gelingen wird, Gestaltungsmehrheiten zustande zu bringen, während Sperrminoritäten trotz des Bevölkerungsquorums von 35 Prozent relativ leicht zu formieren sind. Die Gefahr vermehrter Blockaden des europäischen Entscheidungsprozesses wird dadurch größer.