Forschungsbericht 2005 - Max-Planck-Institut für Meteorologie
Partnerschaft „Erdsystemforschung“
Erdsystemforschung – ein neuer Ansatz in den Wissenschaften von der Erde
In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich eine fundamentale Wende im Denkansatz der Wissenschaften von der Erde vollzogen. Bis dahin hatten die einzelnen Komponenten des Erdsystems im Vordergrund wissenschaftlichen Interesses gestanden und waren von getrennten Disziplinen erforscht worden: die Ozeane von der Meereskunde, die Atmosphäre von der Meteorologie und Klimaforschung, die feste Erde von Geologie, Geochemie und Geophysik, und so weiter. Auch die vom Menschen verursachten Umweltprobleme wurden isoliert betrachtet, z.B. Luftbelastung, Wasserverschmutzung, Ozonloch, Klimawandel.
Mit dem dramatischen Anwachsen des Einflusses menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt entstand der Begriff „Globaler Wandel“, der ausdrückt, dass sich unsere Umwelt im globalen Maßstab verändert und gleichzeitig quer durch alle Erdsystemkomponenten und wissenschaftliche Disziplinen erstreckt. Jede Änderung in einer einzelnen Komponente kann das ganze System beeinflussen, und Fernwirkungen und Rückkopplungen sind zentrale Eigenschaften des Erdsystems. Verändert man zum Beispiel die Zusammensetzung der Atmosphäre durch Zugabe von Kohlendioxid (CO2), so erwärmt sich das Klima, der Meeresspiegel wird höher, Gletscher schmelzen ab, Pflanzen wachsen schneller, und so weiter. Diese Änderungen wiederum beeinflussen die Zusammensetzung der Atmosphäre, wodurch vielfache Rückkopplungen und Querverbindungen entstehen (Abb. 1).

Antarktische Eiskerne, die in gewissem Sinn die Geschichte der Luftzusammensetzung und der Temperatur aufzeichnen, sind eine Art „Rosettastein“ des Erdsystems (Abb. 2). Über 400.000 Jahre hinweg steigen und fallen im strengen Gleichschritt die Temperatur der Erde und die Konzentrationen der Spurengase Methan (CH4) und Kohlendioxid, obwohl diese Gase von ganz unterschiedlichen biologischen Prozessen reguliert werden. Jedoch kann weder eine extern angetriebene Temperaturänderung die Fluktuationen der biogenen Spurengase erklären, noch reichen deren Variationen aus, um die Klimaänderungen zu bewirken. Dies führt zu der Hypothese, dass die Biosphäre und ihre geophysikalische und geochemische Umwelt ein untrennbares System mit vielfachen und komplexen Rückkopplungen bilden und als Ganzes untersucht werden müssen. Davor glaubten Geowissenschaftler, dass sich biologische Prozesse dem Primat des physikalisch-geologischen Klimasystems unterordnen und sich durch Evolution den physikalischen Gegebenheiten anpassen.

Während es nach wie vor unumgänglich ist, die Prozesse innerhalb der Komponenten des Erdsystems zu erforschen – etwa die Zirkulation der Ozeane, die Zusammensetzung der Atmosphäre und die sie regelnden Mechanismen – kommt immer stärker die Notwendigkeit hinzu, die Beziehungen zwischen den Komponenten zu untersuchen. Wie zum Beispiel können wir Ozean-Atmosphären-Wechselwirkungen im Kontext von Mantelkonvektion, Vulkanismus und anderen langzeitlichen Prozessen verstehen? Darüber hinaus erfordert der durchgreifende Einfluss des Menschen auf seine Umwelt, auch die Menschen in den systemaren Ansatz einzubeziehen.
Erfolgreiche Erdsystemforschung erfordert die Kombination dreier verschiedener methodischer Ansätze. Messungen und Experimente „vor Ort“ sind notwendig, vor allem um Prozesse innerhalb der Komponenten zu untersuchen, wie etwa chemische Reaktionen in der Atmosphäre, Einflüsse auf die Ozeanzirkulation, Gasaustausch zwischen Pflanzen und Luft, Niederschlagsbildung in Wolken, oder Ausstoß von Lava, Gasen und Staub durch Vulkane. Hierbei ergänzen sich Beobachtungen, meist in der Form von Feldmesskampagnen, und kontrollierte experimentelle Eingriffe, im Labor oder im Feld.

Zweitens ist es notwendig die Erde auf großen Zeit- und Raumskalen zu untersuchen, um regionale, globale und langfristige Vorgänge und Änderungen zu verstehen. Die Nutzung und Analyse von Daten aus der Fernerkundung ist zur Erfassung großskaliger Phänomene unersetzlich (Abb. 3). Die langen Zeitskalen und die starke natürliche Variabilität im Erdsystem erfordern langfristige Messungen an ausgewählten Standorten und die Untersuchung von natürlichen „Archiven“ wie zum Beispiel Eisbohrkernen oder Sedimentprofilen.
Das dritte Standbein der Erdsystemforschung ist die numerische Modellierung. Sie ist das fundamentale theoretische Werkzeug zur Erforschung der Zusammenhänge im Erdsystem. Modellierung ist die einzige „Sprache“, in der sich die komplexen Prozesse im System Erde und seinen Komponenten qualitativ und quantitativ ausdrücken lassen (Abb. 4). Aufgrund der vielfachen Wechselwirkungen und Rückkopplungen im Erdsystem entzieht sich die Analyse der Auswirkungen von „Störungen“ (z. B. Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen, Landnutzungsänderung oder Brandrodung) oft einer linearen und intuitiven Analyse, und häufig treten scheinbar paradoxe Effekte auf. Diese vielfachen Wechselwirkungen lassen sich nur mithilfe von Modellen adäquat untersuchen. Wir erwarten in absehbarer Zeit allerdings kein „Supermodell“, das das ganze Erdsystem repräsentieren kann. Vielmehr werden Modelle unterschiedlicher Komplexität entwickelt, sowie Teilmodelle, die modular verknüpft werden können.
Wissenschaftliche Kernfragen der Erdsystemforschung
Wir stellen im Folgenden ausgewählte Kernfragen und Themen vor, die gegenwärtig und in der absehbaren Zukunft von der „Erdsystemforschung“ der Max-Planck-Institute und ihrer Partner untersucht werden.
Wie ist das Erdsystem organisiert?
Welche Prozesse regulieren die Verteilung und Verfügbarkeit von Wasser?
Welche Wege führen zu brauchbaren Modellen des Erdsystems?
Wie können Erdsystemmodelle und deren Komponenten evaluiert werden?
Welche Regionen und Komponenten reagieren besonders empfindlich auf den Globalen Wandel?
Gibt es Möglichkeiten das Erdsystem langfristig zu „steuern“?

Implementierungsstrategien
Die hier diskutierte Forschungsproblematik überschreitet die Möglichkeiten eines einzelnen Max-Planck-Instituts bei weitem. Andererseits existieren aber drei Max-Planck-Institute, die zentral der Erforschung von Komponenten des Erdsystems gewidmet sind (MPI für Chemie in Mainz – MPI-C, MPI für Meteorologie in Hamburg – MPI-M, und MPI für Biogeochemie in Jena – MPI-BGC; Abb. 5). An einer Anzahl von weiteren Instituten gibt es Abteilungen und Gruppen, in denen ebenfalls erdsystemrelevante Forschung betrieben wird (MPI für Kernphysik in Heidelberg, MPI für terrestrische Mikrobiologie in Marburg, MPI für marine Mikrobiologie in Bremen, MPI für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau). Ausgehend von den Instituten in Mainz, Hamburg und Jena sind die beteiligten Institute und Gruppen dabei, ihre Forschungsarbeiten in den Zusammenhang der Erdsystemforschung zu stellen und ihr Vorgehen abzustimmen. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK), das Deutsche Klimarechenzentrum (DKRZ) sowie die Universitäten an den Standorten der Max-Planck-Institute sind ebenfalls an diesem Forschungsverbund beteiligt.
Die hier beschriebenen Arbeiten sind eng mit internationalen Großforschungsvorhaben verknüpft, insbesondere mit dem Internationalen Geosphäre-Biosphäre-Programm (IGBP) und dem Weltklimaforschungsprogramm (WCRP). Im Folgenden werden bestehende und im Aufbau begriffene Kooperationsvorhaben im Rahmen der Partnerschaft „Erdsystemforschung“ kurz beschrieben. Ergänzend werden auch Arbeiten erwähnt, die im Wesentlichen an Einzelinstituten durchgeführt werden, aber einen wichtigen Beitrag zum Gesamtansatz darstellen.
Erdsystembeobachtung
Gemeinsame Feldmesskampagnen in kritischen Regionen der Erde
Erdsystembeobachtung durch Satelliten-Fernerkundung
Wechselwirkungen zwischen Erdinnerem, Ozean und Atmosphäre (MPI-C, Universität Mainz, MPI-M, MPI für Sonnensystemforschung)
Experimentelle Erforschung von Prozessen im Erdsystem
Ökophysiologische und biogeochemische Untersuchungen zu Stoffflüssen im Erdsystem (MPI-BGC, MPI-C)
Chemische Prozesse in der Atmosphäre (MPI-C, MPI-M, MPI-BGC)
Wechselwirkung von Aerosolen und Wolkenpartikeln (MPI-M, MPI-C)
Biodiversität (MPI-BGC)
Modellierung des Erdsystems
Entwicklung eines „Erdsystemmodells“, d. h. die Kopplung und Weiterentwicklung vorhandener Modelle mit neuen numerischen Methoden. Komponentenmodelle umfassen:
Regionale Modellierung des Wasserkreislaufs (MPI-M)
Assimilation von Satellitendaten- und anderen Daten zur Verbesserung von Wetter- und Klimavorhersagen (MPI-M, MPI-C)

Beitrag zu internationalen Programmen
Die Partnerschaft „Erdsystemforschung“ ist in die internationale Forschergemeinschaft in diesem wissenschaftlichen Gebiet eng integriert. Die bestehenden Großprogramme Word Climate Research Programme (WCRP), International Geosphere-Biosphere Programme (IGBP), International Human Dimensions Programme (IHDP) und Diversitas sind in der „Earth System Science Partnership“ (ESSP) zusammengeschlossen. Direktoren und wissenschaftliche Mitarbeiter aus den Instituten der Partnerschaft „Erdsystemforschung“ arbeiten in diesen Programmen als Chairmen, Mitglieder der Scientific Steering Committees und Chairmen von Kernprojekten mit. Dadurch nehmen sie gestaltenden Einfluss auf die internationale Entwicklung dieser Programme Weiterhin spielen sie eine leitende Rolle bei einer großen Anzahl von europäischen Forschungsprojekten. Sie leisten ebenfalls wichtige Beiträge zu den periodischen Stellungnahmen des Zwischenstaatlichen Ausschusses zur Klimaveränderung (IPCC).
Infrastruktur
Neben der „normalen“ Infrastruktur an den beteiligten MPIs und am PIK schaffen bestehende und in der Vorbereitung befindliche umfassendere Infrastrukturkomponenten wichtige Voraussetzungen für eine Erforschung des Erdsystems. Das Deutsche Klimarechenzentrum (DKRZ) und die an den anderen Instituten vorhandenen Rechenkapazitäten ermöglichen den Einsatz von aktuellen Modellkomponenten (Klima, Chemie, Kohlenstoffkreislauf, Vegetation, usw.) der in der Entwicklung befindlichen Erdsystemmodelle (COSMOS, MESSy). Diese Modelle werden der internationalen Forschungscommunity zur Verfügung gestellt. Ein 300 m hoher Turm wird in Sibirien errichtet, um die atmosphärische Zusammensetzung zu untersuchen. Das Forschungsflugzeug HALO, mit wesentlicher finanzieller und wissenschaftlicher Beteiligung der Institute der Partnerschaft „Erdsystemforschung“, wird die fortschrittlichste Flugzeug-Messplattform in Europa für das nächste Jahrzehnt darstellen.
Ausblick
Langfristiges Ziel dieser Forschung ist es, ein Verständnis des Erdsystems zu entwickeln, das es uns erlaubt, die Veränderungen in der Welt um uns herum zu begreifen und informiert zu handeln. Nur so lässt sich herausfinden, welche politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zum Schutz des Erdsystems dringend und kritisch sind, und wie die natürlichen Ressourcen unseres Planeten optimal und nachhaltig genutzt werden können. Ein solides wissenschaftliches Verständnis der Zusammenhänge im Erdsystem ist auch die grundlegende Voraussetzung dafür, um Politik und Gesellschaft von schwierigen und einschneidenden Maßnahmen zu überzeugen, wie es etwa eine drastische Reduzierung der CO2-Emissionen wäre. Gleichzeitig müssen technologische und ökonomische Alternativen entwickelt werden, wozu die Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtungen gesucht werden wird. Diese Alternativen werden ebenfalls Auswirkungen auf das Erdsystem haben, die wir nur mithilfe von Erdsystemmodellen erforschen können.