Forschungsbericht 2006 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Kulturelle Vielfalt und die Ursprünge menschlichen Denkens

Autoren
Haun, Daniel
Abteilungen

Sprache und Kognition (Prof. Dr. Stephen Levinson)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Wie verstanden unsere evolutionären Vorfahren ihre Welt? Welche Strategien benutzten sie zum Beispiel, um Nahrung zu suchen? Gedanken sind in Fossilien nicht festgehalten. Deshalb bedient sich eine institutsübergreifende Forschergruppe der Max-Planck-Institute für Psycholinguistik und Evolutionäre Anthropologie einer alternativen Methode: der vergleichenden psychologischen Forschung. Dabei stellten die Wissenschaftler fest, dass einige der in der Evolution angelegten Strategien offenbar schon sehr früh durch die einzigartige kognitive Entwicklung beim Menschen überschrieben werden.

Für jede Spezies ist es von Vorteil, wenn sie sich an bestimmte Orte, die Nahrung bereithalten, erinnern und diese wieder finden kann. Daniel Haun und seine Kollegen haben nun erstmals die kognitiven Präferenzen systematisch bei einer ganzen phylogenetischen Familie, nämlich den Hominiden, untersucht. Sie verglichen alle fünf großen Menschenaffenarten – Orang-Utan, Gorilla, Bonobo, Schimpanse und Mensch – in ihren Vorlieben für bestimmte kognitive Strategien, um versteckte Gegenstände wieder zu finden. Wenn alle fünf Arten bestimmte Vorlieben teilen – so die Annahme der Wissenschaftler –, sind diese höchstwahrscheinlich Teil des evolutionären Erbes unseres letzten gemeinsamen Vorfahren, welcher vor etwa 15 Millionen Jahren ausstarb.

Um sich an die Lokalisation eines Objektes zu erinnern, gibt es zwei grundsätzliche Strategien: Entweder bedient man sich der Eigenschaften des Objekts (es handelte sich um einen Baum, einen Stein etc.) oder man merkt sich die räumliche Platzierung (links, Mitte, rechts etc.). Im Wolfgang Koehler Primatenforschungszentrum im Zoo Leipzig versteckten die Forscher in einer ersten Studie begehrte Gegenstände auf zwei verschiedene Arten (Abb.1): In der so genannten „Ort-Bedingung“ war der Gegenstand zwar am selben Ort zu finden, an dem er vorher versteckt wurde, aber unter einem anderen Objekt (z.B. einem Stein); bei der „Objekt-Bedingung“ dagegen blieb dieses Objekt unverändert, aber der Ort wechselte. Tatsächlich bevorzugten alle vier Menschenaffen und 1-jährige Kleinkinder den Ort als Hinweis, um Verstecktes wieder zu finden, selbst wenn es jetzt unter einem völlig anderen Objekt versteckt war. Dieses Ergebnis legt nahe, dass diese Präferenz schon seit 15 Millionen Jahren Bestandteil unserer kognitiven Struktur ist.

Die Wissenschaftler untersuchten dann 3-jährige Kinder und stellten fest, dass diese – im Gegensatz zu den jüngeren Kindern – das Objekt, unter welchem ein Gegenstand versteckt wurde, als verlässlichsten Hinweis ansahen und zwar auch dann, wenn das Versteck ursprünglich an einem ganz anderen Ort war. Die Wissenschaftler haben hinreichend Hinweise, dass 1-jährigen Kindern und Menschenaffen nicht die Fähigkeit für eine Objekt-basierte Strategie fehlt, sondern dass sie lediglich den Einsatz einer Standort-basierten Strategie bevorzugen. Und offenbar führt die weitere kognitive Entwicklung beim Menschen dann dazu, dass er diese Präferenzen neu gewichtet.

In einer zweiten Studie untersuchten die Forscher die „Ort-Strategie“ im Detail. Wiederum gibt es zwei zentrale Herangehensweisen, um sich an die Lokalisation eines Versteckes zu erinnern: Entweder bedient man sich der eigenen Körperachsen als Referenz (z.B. das linke Versteck) oder man merkt sich die Platzierung der Verstecke im Verhältnis zu den Eigenschaften der Umgebung (z.B. das Versteck bei der Tür oder das nördliche Versteck). In dieser Studie beobachteten Versuchsteilnehmer, wie der Forscher einen begehrten Gegenstand unter einem von mehreren Bechern auf einem Tisch versteckte. Anschließend versuchten sie einen ähnlichen, zweiten Gegenstand in einer identischen Konstellation von Bechern auf einem zweiten Tisch zu finden (Abb. 2). Dieser zweite Gegenstand wurde auf zwei verschiedene Arten versteckt: In der so genannten „Selbst-zentrierten Bedingung“ war der Gegenstand auf Tisch 2 an der gleichen Stelle relativ zum Versuchsteilnehmer zu finden wie auf Tisch 1 (z.B. wieder links von den anderen Bechern); bei der „Umgebungs-zentrierten Bedingung“ dagegen befand sich das Objekt auf Tisch 2 an der gleichen Stelle relativ zur Umgebung (z.B. wieder nördlich von den anderen Bechern) wie auf Tisch 1. Alle vier Menschenaffen und 4-jährige Kleinkinder bevorzugten die umliegende Umgebung als Referenzrahmen, um Verstecktes wieder zu finden. Wiederum legt dieses Ergebnis nahe, dass diese Präferenz schon seit 15 Millionen Jahren Bestandteil unserer kognitiven Struktur ist.

Frühere Arbeiten am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik haben bereits dokumentiert, dass verschiedene menschliche Sprachen entweder die eine oder die andere der beiden genannten Strategien bevorzugen, um im tagtäglichen Gebrauch über räumliche Beziehungen zu sprechen. Alle europäischen Sprachen bevorzugen Selbst-zentrierte Konstruktionen wie zum Beispiel: „Der Ball ist vor (hinter, rechts, links) vom Baum.“ Andere Sprachen, wie zum Beispiel #Akhoe Hai||om, die Sprache einer Jäger-Sammler-Gemeinschaft der Namibianischen Kalahari, benutzen mit Vorliebe die Himmelsrichtungen, um Raum zu beschreiben: „Der Ball ist westlich vom Baum.“ Die Forschergruppe um Daniel Haun benutzte den in Abbildung 2 beschriebenen Aufbau, um zu testen, ob sich diese verschiedenen Vorlieben auch auf nicht-sprachliche Gedächtnisstrategien auswirken – obwohl, wie ja vorher gezeigt wurde, eine Präferenz für Umgebungs-Strategien schon seit Jahrmillionen Teil unseres evolutionären Erbes darstellt. Nichtsdestotrotz zeigten die Ergebnisse dieser zweiten Studie, dass selbst diese uralten Vorlieben interkulturell variieren können: Europäer und #Akhoe Hai||om unterschieden sich in ihren kognitiven Präferenzen genauso wie in ihrem Sprachgebrauch.

Daraus schließen die Max-Planck-Forscher, dass die menschliche kognitive Entwicklung einige unserer evolutionär geerbten Strategien überschreibt. In zukünftigen Studien wollen sie nun herausfinden, welche Teile der kognitiven Entwicklung im Menschen für diese Restrukturierung kognitiver Präferenzen verantwortlich sind. Dieser neue methodische Ansatz und die daraus gewonnenen Ergebnisse ebnen nun den Weg zu einer systematischen Erforschung der kognitiven Strukturen unserer evolutionären Vorfahren und darauf basierend zu einem besseren Verständnis der Ursprünge menschlichen Denkens und ihrer Interaktion mit menschlicher kultureller Vielfalt.

Originalveröffentlichungen

Haun, D., Rapold, C., Call, J., Janzen, G., Levinson, S.:
Cognitive cladistics and cultural override in Hominid spatial cognition.
PNAS 103, 17568-17573 (2006).
Haun, D., Call, J., Janzen, G., Levinson, S.:
Evolutionary psychology of spatial representations in the Hominidae.
Current Biology 16, 1736-1740 (2006).
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