Forschungsbericht 2007 - Max-Planck-Institut für Psycholinguistik

Über Broca, Gehirn und Bindung

Autoren
Hagoort, Peter
Abteilungen

Sprachproduktion (Prof. Dr. Peter Hagoort)
MPI für Psycholinguistik, Nijmegen

Zusammenfassung
Beim Sprechen und beim Sprachverstehen findet man die Wortbedeutung im Gedächtnis auf und kombiniert sie zu größeren Einheiten (Unifikation). Solche Unifikations-Operationen laufen auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachverarbeitung ab. In diesem Beitrag wird ein Rahmen vorgeschlagen, in dem psycholinguistische Modelle mit neurobiologischer Sprachbetrachtung in Verbindung gebracht werden. Diesem Vorschlag zufolge spielt der linke inferiore frontale Gyrus (LIFG) eine bedeutende Rolle bei der Unifikation.

Beim Sprechen wandeln wir unsere Gedanken in eine lineare Abfolge von Lauten um. Beim Sprachverstehen passiert das Gegenteil: Wir leiten eine Interpretation aus den Sprachlauten ab, die auf unsere Ohren treffen. Diese beiden Aspekte der Sprache rekrutieren eine miteinander verbundene Anzahl von Gehirnregionen. Diese Regionen bilden die neurobiologische Grundlage für unsere Sprachfähigkeit. Im Folgenden wird ein neuer genereller Rahmen für die neurale Architektur der Sprache skizziert mit dem Schwerpunkt auf der Rolle, die das Broca-Gebiet, eine Region der Großhirnrinde, dabei spielt. Aufgrund unseres Wissens von den Funktionen des Gehirns über die Domänen der Kognition hinweg verbindet dieser Rahmen psycholinguistisch motivierte Verarbeitungskomponenten mit ihren neuronalen Substraten. Ziel dabei ist es, Neuroimaging-Studien über Sprache aus der ,Design’-Perspektive und nicht aus der Perspektive der experimentellen Aufgabe her zu erklären.

Komponenten der ,Design’-Perspektive

Von einer ,Design’-Perspektive ausgehend kann man drei funktionale Komponenten der Sprachverarbeitung unterscheiden: Die Gedächtnis-Komponente umfasst eine Spezifizierung der unterschiedlichen Typen von im Langzeitgedächtnis gespeicherter Sprachinformation und die dazugehörigen Auffindungsoperationen. Die Unifikations-Komponente verweist auf die Integration lexikalisch aufgefundener Information in eine Repräsentation von Mehrwort-Äußerungen. Die Kontroll-Komponente verbindet Sprache mit Handeln; sie wird zum Beispiel dann benötigt, wenn (wie im Falle von Bilingualismus) die richtige Zielsprache ausgewählt werden muss oder um die Sprecherfolge beim Gespräch zu regeln.

Im Prinzip läßt sich der GUK- (Gedächtnis-, Unifikations-, Kontroll-) Rahmen sowohl auf die Sprachproduktion als auch auf das Sprachverständnis anwenden, auch wenn Details der funktionalen Anatomie innerhalb jeder Komponente unterschiedlich sein können. Zunächst wird die psycholinguistische Motivation, die hinter dem GUK-Rahmen steht, diskutiert.

Psycholinguistischer Hintergrund

Psycholinguistische Modelle der Sprachverarbeitung stimmen darin überein, dass die Struktur des Sprachsystems aus drei Teilen besteht; die Ebenen „Laut“, „Syntax“ und „Bedeutung“ sind die zentralen Aspekte unserer Sprachfähigkeit. Für all diese Ebenen gilt die folgende Dichotomie: Die grundlegenden Informationskomponenten werden im Langzeitgedächtnis (dem mentalen Lexikon – psycholinguistisch ausgedrückt) aufgefunden; zusätzliche Information dagegen wird von kombinatorischen Operationen (Unifikationen) abgeleitet, die die Grundkomponenten zu größeren Strukturen zusammensetzen.

In neueren linguistischen Theorien wird kaum mehr eine Unterscheidung zwischen lexikalischen Einträgen einerseits und traditionellen grammatischen Regeln andererseits gemacht. Vereinige die Teile ist die einzige grammatische Regel, die übrigbleibt. Diese Unifikations-Operationen verklammern lexikalische Muster, die aus einer oder mehreren Variablen bestehen.

Obwohl diese dreiteilige Sprachstruktur sowohl für die Sprachproduktion als auch für das Sprachverstehen gilt, wird im folgenden auch das Sprachverstehen diskutiert, da die meisten Neuroimaging-Studien Sprachverstehen untersucht haben. Außerdem steht im Zentrum des Beitrags die Unifikation, für die das Broca-Gebiet und der benachbarte Kortex besonders relevant sind.

Syntaktische Unifikation

Traditionell steht die syntaktische Analyse im Mittelpunkt von Darstellungen über die Unifikation in der Sprache. Auch hier kann man wieder unterscheiden zwischen der Auffindung von syntaktischen Rahmen im Gedächtnis und ihrer Unifikation. Unser Modell schlägt vor, dass jede Wortform im mentalen Lexikon (im Gedächtnis) mit einem strukturellen Rahmen verbunden ist. Dieser strukturelle Rahmen besteht aus einem Baum mit drei Lagen und spezifiziert die mögliche strukturelle Umgebung dieser speziellen lexikalischen Einheit (vgl. Abb. 1). Die oberste Lage des Rahmens besteht aus einem einzelnen phrasalen Knoten (z.B. NP). Dieser so genannte Wurzel-Knoten ist mit einem oder mehreren funktionalen Knoten (z.B. Subjekt, Kopf, direktes Objekt) in der zweiten Lage des Rahmens verbunden. Die dritte Lage enthält wieder phrasale Knoten, an die lexikalische Einheiten oder andere Rahmen angebunden werden können.

Diese Art der syntaktischen Analyse ist in gewissem Sinn „lexikalistisch“, weil alle syntaktischen Knoten (z.B. S, NP, VP, N, V, etc.) im mentalen Lexikon aufgefunden werden. Mit anderen Worten, im Gedächtnis werden nur syntaktische Struktur-Stücke aufbewahrt; es gibt keine syntaktischen Regeln, die zusätzliche Knoten einführen.

Im unmittelbaren - ,on-line’ - Prozess des Sprachverstehens werden lexikalische Einheiten sequentiell aufgefunden – gesteuert vom zeitlichen Verlauf des ,inputs’. Die strukturellen Rahmen, die mit Einzelwörtern assoziiert sind, gelangen so in der vom ,input’ bestimmten Abfolge in den Unifikations-Arbeitsraum. In diesem Arbeitsraum bildet eine Unifikations-Operation Konstituentenstrukturen, die die gesamte Äußerung umfassen. Die Operation besteht aus dem Verbinden von lexikalischen Rahmen mit identischen Wurzel- und Fuß-Knoten und überprüfenden Kongruenz-Merkmalen (wie Numerus, Genus, Person usw.).

Die daraus resultierenden Unifikations-Verbindungen zwischen lexikalischen Rahmen werden dynamisch gebildet; das impliziert, dass die Stärke dieser Verbindungen so lange über einen gewissen Zeitraum hinweg variiert, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist. Aufgrund der den natürlichen Sprachen inhärenten Ambiguität werden dabei gewöhnlich alternative Verbindungs-Kandidaten zu bestimmten Punkten des Analyseprozesses zur Verfügung stehen (vgl. Abb. 1). Typischerweise resultiert daraus dann eine phrasale Konfiguration. Das erfordert, dass nur einer der alternativen Verbindungs-Kandidaten aktiv bleibt. Dies wird durch einen Prozess lateraler Hinderung zwischen zwei oder mehreren alternativen Unifikations-Bindegliedern erreicht. Das Ergebnis des Unifikations-Prozesses wird also durch einen Selektionsmechanismus (nämlich durch laterale Hinderung) erzielt. Dieser Mechanismus trifft eine Auswahl zwischen verschiedenen Unifikations-Möglichkeiten.

Semantische und phonologische Unifikation

Unifikations-Operationen finden nicht nur auf der Ebene der syntaktischen Verarbeitung statt. Kombinatorik ist ein Merkmal von Sprache in all ihren Repräsentationsdomänen. Deshalb werden auch auf der semantischen und der phonologischen Ebene lexikalische Elemente miteinander verbunden und in größere Strukturen integriert. Ein Beispiel semantischer Unifikation ist die Integration von Wortbedeutung in eine sich in einem bestimmten Kontext entwickelnde Diskurs-Repräsentation. Die Mehrzahl englischer oder deutscher Wörter haben mehr als eine Bedeutung. Vor dem Hintergrund des vorausgegangenen Satz- oder Diskurs-Kontexts wird die jeweils angemessene Bedeutung so ausgewählt, dass sich dadurch eine kohärente Interpretation ergibt.

Auf der Ebene der Phonologie werden lexikalische Elemente in intonatorische Phrasen unifiziert, die all die gesprochenen Elemente darstellen, die von einer Intonationskontur überspannt werden. Die Merkmale der Intonationsphrase tragen dazu bei, welche Aspekte der Äußerung herausgehoben werden. Das kann nicht aufgrund von im Gedächtnis aufgefundener Information getan werden, sondern erfordert eine Analyse der Art und Weise, wie lexikalische Elemente in phonologische Strukturen, die eine Mehrwortäußerung überspannen, unifiziert werden.

Obwohl explizite Computermodelle der Unifikation weniger gut für Semantik und für Phonologie entwickelt wurden als für Syntax, so ist doch da wie dort Unifikation gleichermaßen relevant. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass beim Sprachverstehen syntaktische, semantische und phonologische Prozesse gleichlaufend operieren und auch miteinander interagieren.

Neurobiologische Notwendigkeiten für die Unifikation in der Sprache

Unabhängige Elemente zu einer kohärenten Gesamtrepräsentation zu kombinieren ist nicht nur beim Sprachverstehen und bei der Sprachproduktion, sondern auch für das visuelle System unabdingbar. Innerhalb der visuellen Neurowissenschaft bezeichnet man das als das Bindungsproblem. Ein entscheidender Unterschied zwischen der Wahrnehmung eines Objekts und dem Sprachverstehen besteht darin, dass visuelle Bindung mehr oder weniger unverzüglich (im Rahmen von einigen hundert Millisekunden) abläuft, während Sprachverstehen Zeit (und zwar einige Sekunden) erfordert. Eines der zentralen Merkmale des Bindungsproblems für die Sprache ist, wie Information, die nicht nur (wie beim visuellen Verarbeiten) in unterschiedlichen Teilen des Kortex, sondern auch auf verschiedenen Zeitstufen verarbeitet wird, in eine kohärente Repräsentation einer Mehrwortäußerung unifiziert wird. Ein neurobiologisch plausibles Sprachmodell setzt deshalb voraus, dass kortikales Gewebe zur Verfügung steht, das dazu geeignet ist, Informationen ,on-line’ während des Ablaufs der Unifikationsoperationen zu bewahren. Wie sich zeigen wird, scheint der präfrontale Kortex genau dafür besonders gut geeignet zu sein. Im Folgenden werden Gründe dafür angeführt, warum das Broca-Gebiet und der benachbarte Kortex genau die Art von neurobiologischen Eigenschaften aufweisen, die erforderlich sind, um eine entscheidende Rolle bei der Unifikation zu spielen.

Funktion des präfrontalen Kortex

Eine der wichtigen Funktionen des präfrontalen Kortex ist Integration, vor allem Integration von Information innerhalb der Domäne ,Zeit’. Dazu muss der präfrontale Kortex in der Lage sein, Information 'on-line' festzuhalten und unter konkurrierenden Alternativen eine Auswahl zu treffen.

Elektrophysiologische Aufnahmen von Makaken-Affen haben gezeigt, dass dieses Gebiet eine bedeutende Rolle spielt, um Informationen, die von einem flüchtigen Ereignis ausgelöst werden, für mehrere Sekunden abrufbar zu halten. Dies ermöglicht es dem präfrontalen Kortex, Unifikationen von verschiedenen Informationen auszuwählen und zu etablieren. Dabei handelt es sich um Informationen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten wahrgenommen oder im Gedächtnis aufgefunden werden. Neuere Neuroimaging-Studien weisen darauf hin, dass der präfrontale Kortex-Teil des LIFG (Linker Inferiorer Frontaler Gyrus) einschließlich des Broca-Gebiets entscheidend für Unifikations-Operationen sind, die dafür notwendig sind, um Einzelwortinformation in größere Strukturen einzubinden.

LIFG als Unifikations-Raum für Sprache

Ergebnisse von Neuroimaging-Studien sind mit dem Vorschlag vereinbar, dass der Beitrag des LIFG zur Sprachverarbeitung in Form von Unifikations-Operationen spezifiziert werden kann. Kurz gesagt rekrutiert der linke inferiore frontale Kortex zunächst lexikalische Information, die hauptsächlich in temporalen Lappenstrukturen aufbewahrt wird, und unifiziert sie dann zu Gesamtrepräsentationen, die Mehrwortäußerungen überspannen.

Für syntaktische Unifikation finden sich Beweise in zahlreichen PET- und fMRI-Studien (Studien, die die bildgebenden Verfahren der Positronen-Emissionstomographie und der funktionellen Magnetresonanztomographie nutzen). Empirische Belege zur Rolle des LIFG für die semantische Unifikation konnten ebenfalls gefunden werden. Hagoort und seine Kollegen [1]variierten die semantische Belastung der Unifikation in Sätzen mit falscher Information („Niederländische Züge sind weiß und überfüllt“) oder mit seltsamer Semantik („Niederländische Züge sind sauer und überfüllt“). Im LIFG konnte vermehrte Aktivierung im Vergleich zu einem korrekten Kontrollsatz („Niederländische Züge sind gelb und überfüllt“) beobachtet werden (vgl. Abb. 2: semantische, syntaktische und phonologische Unifikationsgebiete in LIFG). Das lässt darauf schließen, dass das Gebiet der semantischen Unifikation eine Rolle bei der Erstellung sowohl vom Sinn als auch von der Referenz einer Äußerung spielt.

Das Broca-Gebiet noch einmal näher betrachtet

Im Kontext der Sprachverarbeitung besteht der gemeinsame Nenner zwischen dem Broca-Gebiet und dem benachbarten Kortex in ihrer Rolle bei der Auswahl und bei den Unifikations-Operationen, durch die einzelne Teile lexikalischer Information miteinander zu repräsentationalen Strukturen verbunden werden, die Mehrwort-Äußerungen überspannen. Daraus kann man schließen, dass dem Broca-Gebiet eine Schlüsselrolle bei der Lösung eines speziellen Aspekts des Bindungsproblems der Sprache zukommt, nämlich sowohl lexikalische als auch nicht-sprachliche Information (z.B. Gesten oder im Langzeitgedächtnis gespeichertes Weltwissen) zu Repräsentationen von Mehrwort-Äußerungen zu unifizieren. Dieser Beitrag ist eingebettet in ein Netzwerk von Gehirn-Regionen, das den zusätzlichen Komponenten im Design des Sprachsystems dienlich ist, nämlich dem Gedächtnis und der Kontrolle – den beiden anderen Komponenten des GUK-Rahmens neben der Unifikation.

Originalveröffentlichungen

P. Hagoort, L. Hald, M. Bastiaansen, K.M. Petersson:
Integration of word meaning and world knowledge in language comprehension.
Science 304, 438-41 (2004).
Zur Redakteursansicht