Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung

Wie soll Wirtschaft wachsen? 

Autoren
Tassinari, Arianna
Abteilungen

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln

Zusammenfassung
Als Grundvoraussetzung für die Stabilität und Legitimität kapitalistischer Ökonomien steht das Wirtschaftswachstum im Zentrum des öffentlichen Interesses. Dennoch gibt es über Wachstumsstrategien selten einen politischen Wettstreit; die Politik der Wachstumsmodelle vollzieht sich in normalen Zeiten unbemerkt. Dramatische Ereignisse und Wirtschaftskrisen können diesen Konsens allerdings ins Wanken bringen – wie sich am Beispiel von Spanien zeigen lässt.
 

Nach dem Wachstumsmodellansatz in der Politischen Ökonomie unterscheiden sich kapitalistische Volkswirtschaften darin, wie sie das Wirtschaftswachstum fördern – vor allem hinsichtlich der Treiber für die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Drei grundlegende Formen lassen sich benennen: Beim lohnorientierten Wachstum führt ein Lohnzuwachs bei gleichzeitiger Steigerung der Produktivität dazu, dass Konsumausgaben der Haushalte und Investitionen steigen und damit das Wachstum ankurbeln. Diese Art von Wachstum war in der Vergangenheit sehr weit verbreitet, das Modell kam allerdings infolge der beiden Ölkrisen in den 1970er-Jahren unter Druck. Etwa bis zur Finanzkrise 2008 war es ein Element des Wachstums der schwedischen Wirtschaft. Das exportorientierte Wachstum, typisch für Deutschland, ist abhängig von der Auslandsnachfrage und dem Exportsektor als wichtigsten Treibern. Im kreditorientierten Wachstum wird die Binnennachfrage über das Angebot an Konsumentenkrediten für private Haushalte beeinflusst; Großbritannien steht stellvertretend für dieses Modell. Es kann aber auch sein, dass ein Land über keinerlei prägende Wachstumsmotoren verfügt und in eine Stagnation gerät, wie etwa Italien.

Wachstumsmodelle sind strukturelle Merkmale einer Volkswirtschaft, doch sind sie nicht naturgegeben. Sie beruhen einerseits auf wirtschaftlichen Strukturen, andererseits werden sie durch politische Maßnahmen, die Wachstumsstrategien, gefestigt. Dazu zählen Regelungen in der Geld- und Steuerpolitik, in der Struktur- und Verteilungspolitik, in der Sozialpolitik sowie in der Lohn- und Arbeitsmarktpolitik.

Überraschenderweise sind Wachstumsstrategien in der Regel kein wichtiges Thema in der politischen Debatte. In Ländern mit etablierten Wachstumsmodellen werden politische Entscheidungen darüber selten zu einem Wahlkampfthema. Vielmehr nähern die Parteien ihre wachstumsprogrammatischen Positionen mit der Zeit einander an. In Deutschland etwa würde keine Partei einen Kurs unterstützen, der der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporte schadet. Worauf ist dies zurückzuführen?

Der Politökonom Lucio Baccaro, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, vertritt gemeinsam mit seinen Fachkollegen Mark Blyth und Jonas Pontusson die Hypothese, dass die Funktionsfähigkeit von Wachstumsmodellen auf einer klassenübergreifenden Koalition beruht – einem Zusammenschluss gesellschaftlicher Akteure, der alle Gruppen der Gesellschaft einbezieht, die de facto zu den „Gewinnern“ eines Wachstumsmodells zählen. Einer solchen Koalition gehören Akteure aus Schlüsselsektoren an: Wirtschaftseliten, Unternehmen und Arbeitgeberverbände, Beschäftigte und sogar Regierungsmitglieder.

Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Parteien außerhalb von Krisenzeiten um den Fortbestand des Wachstumsmodells bemühen. Zugleich wollen sie möglichst viele Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen – etwa durch eine Kompensationspolitik, die Erleichterungen für jene Gruppen in der Gesellschaft vorsieht, die nicht vom Wachstumsmodell profitieren. Doch nicht immer lassen sich Wachstumsstrategien aus dem politischen Wettstreit ausklammern. Nach Wirtschaftskrisen können öffentlicher Protest und politische Opposition das Gleichgewicht etablierter klassenübergreifender Koalitionen erschüttern. Krisen wirken dann als kritische Wendepunkte für die Richtung der verfolgten Wachstumsstrategien.

Wie ist das möglich? Im Fall eines Wandels von innen machen Krisen die Widersprüche und Fehlfunktionen eines Wachstumsmodells öffentlich sichtbar. Die Gruppe der Profiteure eines bestimmten Wachstumsmodells verkleinert sich, die der Verlierer nimmt deutlich zu. Forderungen nach einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel werden laut und setzen die Parteien unter Handlungsdruck. Veränderungen können aber auch von externen Kräften angestoßen werden – etwa durch die Verpflichtung, Gegenleistung für externe Finanzhilfen zu erbringen, oder durch Regelungen auf europäischer Ebene. So können politische Entscheidungen, zu denen sich Länder durch solche Interventionen von außen gezwungen sehen, die Tragfähigkeit eines Wachstumsmodells infrage stellen.

Ein lehrreiches Beispiel für das Zusammenwirken dieser beiden Ursachen für eine Anpassung der Wachstumsmodelle bot die spanische Wirtschaft nach der Finanzkrise der Jahre 2008/2009. Gemeinsam mit Fabio Bulfone von der Universität Leiden habe ich diese Entwicklung analysiert. In der Krise platzte die Immobilienblase, die durch eine rasante Zunahme der Kredit- und Hypothekenfinanzierungen ausgelöst worden war. Im Jahrzehnt zuvor waren diese der Garant für die Leistungsfähigkeit der spanischen Wirtschaft gewesen. Der Kollaps der Bauwirtschaft hatte eine vollständige Neugewichtung der Wirtschaftssektoren, einen drastischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen und wachsende öffentliche Verschuldung zur Folge. Die EU-Behörden drängten Spanien zu tiefgreifenden politischen Reformen, etwa zu einer umfassenden Liberalisierung des Arbeitsmarktes, um die Wirtschaft strategisch auf Exporte auszurichten. Ziel war es, die Löhne zu senken und damit die Wettbewerbsfähigkeit des spanischen Exportsektors zu steigern. Dies gab einen wichtigen Impuls für die Konjunkturbelebung in Spanien seit 2015.

Die Veränderung des spanischen Wachstumsmodells geht allerdings mit anhaltender politischer Instabilität einher. Sinkende Lebensstandards, Arbeitslosigkeit und Sparmaßnahmen haben das Aufkommen neuer politischer Kräfte begünstigt, die sich den EU-Vorgaben entgegenstellen. Ihre Ziele sind eine Stimulierung der Binnennachfrage durch Lohnerhöhungen und eine Arbeitsmarktreform zugunsten von sektorspezifischen Tarifverhandlungen für unbefristete Arbeitsverhältnisse. Damit sind Wachstumsstrategien in Spanien zum Politikum geworden.

Insgesamt ist die Stabilität der Weltwirtschaft durch die derzeitige Phase anhaltender Krisen gefährdet. Es ist daher nicht auszuschließen, dass die Politik der Wachstumsmodelle auch in anderen Ländern künftig weitaus kontroverser verhandelt wird als bisher. Die Folgen dieser Krisen und ihre Auswirkungen auf den Kapitalismus in seiner derzeitigen Form lassen sich zwar nicht vorhersagen, doch können wir mit unserer Forschung einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese Transformation besser zu verstehen.

Literaturhinweise

Baccaro, L.
 
Kapitalismus braucht Wachstum – aber es gibt kein Patentrezept
 
Gesellschaftsforschung 1, 8–13 (2020)
 
Baccaro, L.;Blyth, M.; Pontusson, J. (Hg.)
 
Diminishing returns: The new politics of growth and stagnation
 
Oxford University Press, Oxford (2022).
 
Bulfone, F.; Tassinari, A.
 
Under pressure: Economic constraints, electoral politics and labour market reforms in Southern Europe in the decade of the great recession
 
European Journal of Political Research 60 (3), 509–538 (2021)

 
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