Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung

Wissen – Erfahrung – (Be-)Handlung: Schlaf und Schlaflosigkeit in Deutschland 

Autoren
Vorhölter, Julia
Abteilungen
Abteilung „Ethnologie, Politik und Governance“
 
Zusammenfassung
Schlafforschung boomt. Durch Apps und in Schlaflaboren scheint unser Schlaf immer messbarer zu werden. Neue Pharmazeutika und Medizintechnologien versprechen, Schlaf kontrollierbar zu machen. Doch wie wirken diese neuen Wissenswelten auf die Erfahrung von Schlaf, besonders bei Menschen, die sich vergeblich guten Schlaf wünschen? In welchem Verhältnis stehen subjektiv erlebter und objektiv gemessener Schlaf? Was passiert mit Schlaf an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine? Das Projekt beleuchtet die Dilemmata, die bei der Wissensproduktion über Schlaf entstehen.
 

Schlafmedizin in Deutschland

Die Schlafmedizin ist ein vergleichsweise junges, sehr interdisziplinär ausgerichtetes Feld der Medizin in Deutschland. Erst 1992 wurde die Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin gegründet und erst seit 2005 gibt es die von der Ärztekammer anerkannte Zusatzausbildung „Schlafmediziner/in“. Während es Anfang der 1990er-Jahre nur einige wenige Schlaflabore gab, ist ihre Zahl in den letzten Jahren geradezu explodiert. Trotzdem warten schlafgestörte Menschen mitunter bis zu zwei Jahre auf einen Platz. Die meisten Schlaflabore in Deutschland werden von Pneumologen und Pneumologinnen geleitet und sind auf Schlafapnoe fokussiert. Seltener sind neuropsychiatrische Labore, die Schlafstörungen wie Narkolepsie, Parasomnien oder Insomnie diagnostizieren und behandeln.

Schlaf als biosoziales Phänomen

Doch wie wird das komplexe Phänomen Schlaf überhaupt gemessen? Wie ist das Verhältnis von subjektivem Schlaferleben und den vermeintlich „objektiven“ Daten, die im Schlaflabor oder von sogenannten sleep trackers generiert werden? Was bedeutet „guter Schlaf“ für unterschiedliche Menschen? Und was tun Schlafgestörte oder Fachleute, um Schlaf zu verbessern und gesunden Schlaf herbeizuführen? Mit diesen Fragen beschäftige ich mich in dem Projekt „Wissen – Erfahrung – (Be-)Handlung: Schlaf und Schlaflosigkeit in Deutschland“, das an der Schnittstelle zwischen Medizinanthropologie, Psychologischer Anthropologie und den Science and Technology Studies angesiedelt ist. Die Forschung basiert auf teilnehmender Beobachtung in einem Schlaflabor sowie auf Interviews mit Betroffenen, Fachleuten aus der Schlafmedizin und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Im Kern geht es mir darum, die vielfältigen Faktoren, die unseren Schlaf und unseren Umgang mit ihm prägen, besser zu verstehen. Obwohl die Schlafforschung sehr interdisziplinär ist, wird sie vor allem von der Neurologie, der Biologie, der Psychologie und der Medizin dominiert. Ethnologische Forschungen gibt es bisher kaum. Dies ist verwunderlich, denn Schlaf ist ein biosoziales Phänomen, das nicht nur durch Hormone, Neurotransmitter oder Biorhythmen gesteuert wird, sondern auch stark durch soziokulturelle Faktoren geprägt ist. Wie, wo, wann und mit wem Menschen schlafen (dürfen beziehungsweise konnten), variiert zwischen Gesellschaften, sozialen Schichten, Altersgruppen und historischen Epochen. Schlaf bildet eine interessante Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft und verdeutlicht die analytische Untrennbarkeit von Körper und Geist, Natur und Kultur.

Schlafwissen

In meiner Forschung untersuche ich drei Aspekte. Erstens geht es um Wissen: Schlaf stellt eine besondere Herausforderung für die medizinische Wissensproduktion dar, weil der Gegenstand des Wissens (Schlaf) nicht per se gegeben ist. Schlaf muss erst produziert werden, bevor Wissen darüber gewonnen werden kann. Im Labor führt dies zu interessanten Dilemmata: Für eine verlässliche Diagnose ist eine bestimmte Art von „normalem“ Schlaf – idealerweise mindestens sechs Stunden – erforderlich, den Betroffenen, vor allem in der ungewohnten technomedizinischen Umgebung des Schlaflabors, jedoch nicht nach Belieben hervorbringen können. Auf Grundlage der ersten Ergebnisse analysiere ich, wie die vielfältigen Verflechtungen von Körpern, Persönlichkeiten und Technologien im Schlaflabor gemanagt werden, um „ausreichend guten“ Schlaf für „ausreichend gute“ Daten zu produzieren, die sich dann für Diagnose und Therapie nutzen lassen.

Schlaferfahrung

Zweitens beschäftige ich mich mit der Rolle von subjektiver Erfahrung in der Diagnose und Behandlung von Schlaf. Ob und wie Schlafstörungen erfahrbar oder messbar sind, hat weitreichende Implikationen für die medizinische Ökonomie. Diese These untersuche ich am Beispiel der beiden häufigsten Schlafstörungen in Deutschland, der Schlafapnoe und der Insomnie. Schlafapnoe ist für Betroffene häufig nicht erfahrbar, aber im Labor gut messbar und durch Technik (Atemmasken) gut therapierbar. Dies macht die Krankheit für Mediziner und Medizinerinnen „interessant“: Befunde sind scheinbar objektiv und der Einsatz von Technologie in der Diagnose und Therapie ist potenziell lukrativ und häufig erfolgreich. Insomnie hingegen ist meist eine sehr subjektive Krankheitserfahrung, die nicht eindeutig messbar ist. Betroffene empfinden ihren Schlaf als gestört, unabhängig davon, wie viel sie tatsächlich schlafen. Diagnose und Therapie sind häufig gesprächs- und zeitintensiv, was für Ärzte und Ärztinnen schwer abrechenbar und daher wenig rentabel ist. Während es deutschlandweit also einen wachsenden Markt für Apnoediagnostik und Therapien gibt, besteht bei der Versorgung von Menschen mit Schlafstörungen eine große Lücke.

Schlafbehandlung und Agency

Drittens geht es in dem Projekt um (Be-)Handlung: Wie versuchen Fachleute und Laien Schlaf herbeizuführen, zu beeinflussen und zu verbessern? Schlaf hängt von vielen Faktoren ab und ist nur bedingt kontrollierbar. Fast jeder kennt das Gefühl, wach zu liegen und nicht einschlafen zu können: Je größer der Wille, desto weniger klappt es mit dem Schlaf. Am Beispiel von Menschen mit Schlafstörungen untersuche ich Erfahrungen von Kontrollverlust und den Umgang damit. Was für Strategien entwickeln Menschen, die ihren Handlungswillen aufgeben müssen, um Kontrolle wiederzuerlangen? Das empirische Material dient als Ausgangspunkt, um neue Konzepte von Handlungsmacht (agency) zu entwickeln.

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