Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für biologische Intelligenz (Standort Seewiesen)
Kolibris, Spechte und Geckos – verschiedene Wege der Zuckerwahrnehmung
Different ways of sensing sugars: hummingbirds, woodpeckers and geckos
Vielfältige Mechanismen der Zuckerwahrnehmung bei Wirbeltieren
Zucker ist ein wichtiger Bestandteil der Ernährung vieler Tiere - insbesondere bei Arten mit hohem Energiebedarf, wie zum Beispiel Kolibris. Ein Großteil unserer Forschung beschäftigt sich mit der Evolution der Rezeptoren für Süßes, die bei Wirbeltieren für die Zuckererkennung verantwortlich sind. Wir konnten zeigen, dass der fleischfressende Dinosauriervorfahr der Vögel zwar den Rezeptor für süßen Geschmack verloren hat, den Säugetiere für die Wahrnehmung von Zucker nutzen, dass verschiedene Vogelgruppen wie Kolibris und Singvögel jedoch die Fähigkeit zur Wahrnehmung von Zucker wiedererlangten - und zwar durch Veränderungen des Rezeptors für herzhaften Geschmack, den man umami nennt [1;2].
Dafür untersuchen wir die Geschmacksrezeptoren verschiedener Arten, rekonstruieren Vorfahr-Rezeptoren und bestimmen, welche
Bereiche der Rezeptorproteine für Veränderungen in der Funktionsweise von Geschmacksrezeptoren verantwortlich sind. So konnten wir nicht nur unerwartete Erkenntnisse über die sensorische Ökologie der wichtigsten Wirbeltiergruppen gewinnen, sondern auch neue Einblicke in die Funktion und Evolution von Geschmacksrezeptoren.
Können Kolibris den Unterschied zwischen süßem und herzhaftem Geschmack erkennen?
Kolibris, die sich neben Blütennektar auch von Insekten ernähren, können über ihren modifizierten Umami-Rezeptor auch weiterhin Aminosäuren in der Nahrung erkennen, die für den Umami-Geschmack verantwortlich sind. Wir untersuchten die Geschmacksrezeptoren mehrerer Kolibriarten und zeigten durch Funktionstests, Rekonstruktionen der Vorfahr-Rezeptoren und Verhaltensexperimente, dass der Umami-Rezeptor der Kolibris ein bi-funktionaler Geschmacksrezeptor ist, der sowohl auf Aminosäuren als auch auf Zucker reagiert [3].
Die Verhaltensexperimente zeigten, dass Kolibris auch Aminosäuren mögen. Durch den bi-funktionalen Rezeptor sind Kolibris möglicherweise nicht dazu in der Lage, süß und herzhaft zu unterscheiden. Während der herzhafte Geschmack von z.B. Fleisch, Käse und Tomaten sowie süßer Geschmack für den Menschen zwei sehr unterschiedliche Geschmacksrichtungen sind, stellen süß und herzhaft für Kolibris möglicherweise eine köstliche, aber untrennbare Wahrnehmung dar.
In dieser Studie dokumentierten wir auch eine bemerkenswerte Vielfalt an Geschmacksrezeptoren in der gesamten Kolibri-Familie, die es uns ermöglicht, die Evolution des Umami-Rezeptors zu verfolgen: Er entwickelte sich von einem stark aminosäureempfindlichen Rezeptor ursprünglicher Kolibriarten, wie den Einsiedlern (Phaethornithinae), zu einem eher zuckerempfindlichen Rezeptor bei später entstandenen Arten der Kolibri-Gruppe.
Darüber hinaus entdeckten wir einen überraschenden neuartigen Synergismus zwischen Aminosäuren und Zuckern, der bei den Geschmacksrezeptoren von Wirbeltieren bisher nicht beschrieben wurde. Der Nektar vieler Pflanzen enthält oft geringe Mengen an Aminosäuren: Diese könnten den Geschmack von Zuckern für Kolibris verstärken und es den Pflanzen so ermöglichen, selektiv bestimmte Arten von Bestäubern anzulocken.
Gewinn und Verlust der Süßwahrnehmung bei Spechten
Kolibris und Singvögel sind nicht die einzigen Vögel, die eine Vorliebe für zuckerhaltige Nahrung entwickelt haben. Durch eine Kombination aus Verhaltenstests an Wildvögeln und Untersuchungen von Geschmacksrezeptoren im Labor fanden wir ein drittes Beispiel für die unabhängige Entwicklung der Zuckerwahrnehmung über Umami-Rezeptoren: Bei den Vorfahren der Spechte [4]. Sie sind Insektenfresser, die mit Kolibris und Singvögeln entfernt verwandt sind. Überraschenderweise entdeckten wir zudem einen Verlust der Zuckerwahrnehmung bei einem auf Ameisen spezialisierten Specht, dem Eurasischen Wendehals (Jynx Torquilla). Der Grund hierfür liegt in einer einzigen Mutation in der Transmembrandomäne des Rezeptorproteins (weit entfernt von der Region, in der Zucker bindet).
Dieser Geschmacksverlust für Süßes ist ein erstaunliches Beispiel für eine sensorische Umkehrung: Wendehälse behielten ihre Wahrnehmung von Aminosäuren bei und bevorzugen diese in Verhaltenstests gegenüber neutralem Kontrollfutter, wohingegen sie keinerlei Präferenz für Zucker zeigen. Künftige Arbeiten werden zeigen, ob diese Verschiebung der Rezeptorfunktion mit der Zusammensetzung der Ameisen zusammenhängt, von denen sich Wendehälse bevorzugt ernähren.
Die Rezeptorveränderung könnte auch andere physiologische Anpassungen widerspiegeln, wie zum Beispiel die Unfähigkeit, Zucker zu verdauen, wie sie bei einigen Singvogelarten wie Staren zu beobachten ist. Es wäre interessant herauszufinden, ob andere Wirbeltiergruppen einen ähnlichen Geschmacksrezeptor-Mechanismus nutzen, und ob solche Veränderungen der Geschmacksrezeptoren die Folge oder eher die Ursache einer beobachteten Ernährungsumstellung sind.
Wann hat sich der süße Geschmack erstmals entwickelt?
Schließlich untersuchen wir auch die Schlüsselfrage, wann die Rezeptoren für süßen Geschmack in der Evolution der Wirbeltiere erstmals entstanden sind. Bei genauerer Betrachtung der Ernährungsdaten von Eidechsen ist uns bei vielen Reptilien der Verzehr von Nektar aufgefallen.
Mithilfe von Verhaltenstests und der Erstellung von Rezeptorprofilen konnten wir nachweisen, dass der Madagaskar-Taggecko (Phelsuma grandis) einen säugetierähnlichen Süßrezeptor hat, mit dem er Zucker wahrnehmen kann5. Früchte und Nektar, die wichtigsten Zuckerquellen in der heutigen Ernährung von Wirbeltieren, stammen von blühenden Pflanzen. Diese entwickelten sich jedoch erst nach dem letzten gemeinsamen Vorfahr der Säugetiere und Reptilien.
Diese Ergebnisse werfen daher die Frage auf, ob sich der Geschmackssinn für Zucker bei Geckos und Säugetieren unabhängig entwickelte, nachdem Früchte und Nektar verfügbar waren, oder bei Landwirbeltieren schon vor der Entstehung von Blütenpflanzen vorhanden war.