Forschungsbericht 2022 - Bibliotheca Hertziana - Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte
Abfall, Kulturerbe und Kunstgeschichte
“Wastework” or “Waste, Heritage and Art History”
Lise-Meitner-Gruppe „Verfall, Verlust und Konservierung in der Kunstgeschichte“
Die traditionelle Kunstgeschichte beschäftigt sich überwiegend mit Artefakten, die in der Zeit überdauert haben, weniger mit denen, die verloren gegangen sind oder entsorgt wurden. In der an der Bibliotheca Hertziana angesiedelten Forschungsgruppe „Verfall, Verlust und Konservierung in der Kunstgeschichte“ nehmen wir diese Konvention kritisch unter die Lupe und fragen uns, wie eine Kunstgeschichte wohl aussehen würde, die sich auf das Verlorengegangene fokussiert.
Verlust kann durch verheerende Ereignisse wie Brände, Erdbeben und Kriege entstehen, aber auch schlicht eine Folge von Vernachlässigung sein. Was bewahrt werden soll, wird über ein Wertesystem reguliert, das zum großen Teil durch die Kunstgeschichte geprägt ist: Ihre Werte und ästhetischen Urteile bestimmen oft, was wir als bewahrenswert definieren. Auf diese Weise hat die kunsthistorische Praxis konkrete Auswirkungen auf den Erhalt unseres Kulturerbes gehabt. Sie entscheidet, was erhalten und was weggeworfen werden soll, was in Museumssammlungen aufgenommen werden soll und was nicht.
Was wir wegwerfen und warum das forschungsrelevant ist
Die Kehrseite der Konservierung ist das, was wir wegwerfen. Wie das Erbe, das wir bewahren, ist auch unser Abfall materieller Ausdruck von Ordnungs- und Klassifizierungspraktiken, mit denen wir beim Sammeln und Entsorgen Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden. Und ein Großteil der von uns weggeworfenen Abfälle überdauert aufgrund der verwendeten Materialien bis weit in die nächste Generation. Kulturerbe und Abfallprodukte müssen daher gleichermaßen als wichtige Bestandteile unserer Zukunft gewertet werden.
Dies muss nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Was in der Vergangenheit als Abfall betrachtet wurde, dient historischen Disziplinen oft als wichtige Informationsquelle. Ebenso fand Material, das sonst vielleicht verloren gegangen wäre – Nebenprodukte künstlerischer und wissenschaftlicher Prozesse –, seinen Weg zurück in die Werkstatt und wurde in einen neuen Produktionszyklus aufgenommen. Unsere Forschungen zu diesen historischen Materialströmen haben gezeigt, dass das Interesse an Verwertung, Recycling und Wiederverwendung von Abfällen eine lange Geschichte hat.
Die „Wastework“-Initiative
In Zusammenarbeit mit der schottischen Universität St. Andrews und dem St.-Andrews-Umweltpreis wurde eine internationale und interdisziplinäre Forschungsinitiative zu Materialität, Verortung und Verarbeitung von Abfall in der frühneuzeitlichen Werkstatt angestoßen (https://www.biblhertz.it/events/32348/2631954). Unter dem Titel „Wastework“ haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Praktiken des Entsorgens, Verlagerns, Beseitigens und Aus-dem-Gebrauch-Nehmens untersucht und was dies für die Erforschung frühneuzeitlicher materieller Kultur bedeutet.
Mit „Wastework“ können wir ein besseres Verständnis vorindustrieller Materialflüsse erlangen und die Geschichte der Wiederaufbereitung und Wiederverwendung von Abfällen sowie der Strategien zur Materialeinsparung untersuchen. Auf einer Tagung konnten die kunstgeschichtlichen Wissensgrundlagen bereits erweitert werden; darüber hinaus fördert das Projekt den Austausch zwischen Kunst-, Architektur- und Wissenschaftsgeschichte, Literaturwissenschaftlern, Archäologinnen, Künstlerinnen und Restauratoren.
Gemeinsam stellen wir uns Fragen wie: Wer waren die Akteure, die mit Werkstattabfällen Handel trieben und wie lassen sich ihre lokalen wie globalen Vernetzungen erfassen? Welche Rolle spielen Abfälle in den Experimenten der frühneuzeitlichen Wissenschaft? Welche Entsorgungswege führten und führen dazu, dass Haushaltsabfälle wie Eierschalen, altes Brot oder Ofenasche als Arbeitsmaterial oder Reinigungsmittel in die Werkstattrealität gelangen? Wie haben das Vorhandensein, Ansammeln und Einbinden von Abfallstoffen – ihre Entsorgungsprozesse und Lagerstätten – die Umgebung und den Standort der Werkstatt beeinflusst?
In der Auseinandersetzung mit historischen Abfallpraktiken hinterfragen wir die Nützlichkeit gängiger Begrifflichkeiten („sekundäre Produktkreisläufe“, „Materialermüdung“, „metabolische Flüsse“, „Nachhaltigkeit“, „Recycling“), entwickeln aber auch neue Klassifizierungen und Kategorien. Auf diese Weise bildet das Projekt eine neue Diskussionsgrundlage für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die mit der Frage ringen, wie unser unlängst als „Wasteocene“ (Marco Armiero) tituliertes Zeitalter mit der ständig wachsenden Menge und Langlebigkeit der produzierten Abfälle umgeht.
Das römische „Wasteocene“
Angesichts des lokalen Müllnotstands ist die Abfallwirtschaft in Rom, dem Sitz unserer Forschungsgruppe, Gegenstand anhaltender Debatten. Der Umstand, dass Rom sowohl eine Stätte des UNESCO-Weltkulturerbes als auch ein weltweit führendes Zentrum für kulturelles Erbe ist, macht die Stadt für unsere Forschungen besonders relevant. Im Zuge der „Wastework“-Initiative bringen wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einen direkten Dialog mit städtischen Verwaltungsangestellten, um ein Nachdenken darüber anzuregen, wie die Abfallwirtschaft das Stadtbild prägt. Abfall ist allerdings kein modernes Phänomen: Der Monte Testaccio – ein künstlich aufgeschütteter Hügel im Stadtzentrum, der als Entsorgungsplatz für zerbrochene Öl-Amphoren diente –, veranschaulicht, wie dieses Phänomen schon die antike Stadt geprägt hat (Abbildung 1). Zusammen mit Archäologinnen und Archäologen der British School in Rom haben wir Zugang zu diesem Gelände und erschließen, wie eine ehemalige Abfallhalde zur Informationsquelle sowohl für historische Entwicklungen in Stil und Technologie als auch für den Umweltaspekt vorindustrieller Produktionspraktiken avancieren konnte. Unsere Arbeit am Monte Testaccio hat gezeigt, dass Kulturerbe, Kunstgeschichte und Abfall nicht getrennt voneinander betrachtet werden dürfen, sie vielmehr eng miteinander verwoben sind – und sicherlich stärker, als dies in der Forschung gemeinhin wahrgenommen wird.