Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte

Prozesslandschaften der Petromoderne

Autoren
Steininger, Benjamin; Klose, Alexander
Abteilungen
Abteilung 1 – Strukturwandel von Wissenssystemen
Zusammenfassung
Die Produkte der petrochemischen Industrie und insbesondere katalytischer Prozesse sind zentral für den Geschichtsprozess der Moderne und des Anthropozäns. Das Projekt untersucht die Petromoderne entlang exemplarischer Konstellationen – hier der Hafen Rotterdam – als Epoche, in der der technische Zugriff auf Öl und Gas organisch-biotische, ökonomisch-politische, aber auch epistemisch-kulturelle Folgen hat. Programmatisches Ziel ist, die Rationalität der Epoche als insgesamt „fossile Vernunft“ zu untersuchen und im Sinne ihrer notwendigen Ablösung einer Kritik zu unterziehen.

Die Satellitenaufnahme zeigt Rotterdam, den größten Hafen Europas. An „Maasvlakte 2“, der künstlichen Insel vor der Küste, können die weltgrößten Tanker anlegen. Jährlich liefern sie rund 100 Millionen Tonnen Rohöl. Die Hälfte davon wird in fünf Raffinerien im Hafen verarbeitet. Ein Pipelinesystem beliefert weitere Anlagen in den Niederlanden, im belgischen Antwerpen und in der Rhein-Ruhr-Region.

Prozesslandschaften wie diese verkörpern den abstrakten Begriff der „Petromoderne“ – die bis heute andauernde historische Epoche, in der nahezu alle Gesellschaften auf dem Konsum von billiger fossiler Energie und den durch Erdölprodukte ermöglichten Annehmlichkeiten beruhen.

Ausgehend von derart exemplarischen Geografien und Konstellationen leistet unser Projekt einen Beitrag zu einer Kulturtheorie der petrochemischen Moderne und des Anthropozäns.

Raffinerie und Gewächshaus: Ein fossil-ökologisches System

Die Produkte der Petrochemie reichen tief in unsere Lebensweise hinein: als Kraftstoffe, Kunststoffe, Pharmaka oder Kosmetika. Aus der Vogelperspektive wird ein weiterer, existenzieller Aspekt dieser Industrie erkennbar. Nördlich von Rhein und Maas liegt „Westland“, eines der größten Gewächshausgebiete Europas. Die berühmten niederländischen Tomaten, Gurken und Salatköpfe wachsen nicht nur in einer künstlichen Landschaft, sondern in einer ebenso künstlichen Atmosphäre. Seit einigen Jahren wird Kohlendioxid aus den Raffinerien durch ein mehrere Hundert Kilometer langes Pipelinesystem in die Gewächshäuser eingespeist, um das Pflanzenwachstum anzutreiben.

Fossile Materialität dient somit nicht nur als Treibstoff von Motoren und damit technischen Stoffwechseln, sie wird von hier aus zu einem Bestandteil menschlicher Stoffwechsel. Der bekannte Austausch von Kohlendioxid und Sauerstoff zwischen Tieren und Pflanzen in Form geschlossener Kreisläufe sowie die tiefe evolutionäre Bindung der Menschen zum Feuer werden erweitert, wenn Kohlenstoff aus den Tiefen der Naturgeschichte gezielt in heutige Organismen eingespeist wird. Das Wachstum von Lebewesen wird als Subsystem der industriellen Petrochemie erkennbar. Hafen, Raffinerien und Gewächshäuser verschmelzen zu einem neuartigen, fossil-ökologischen System.

Industrielle Katalyse: Chemische und historische Prozesse

Ein Zentrum der auf dem Luftbild erkennbaren Anlagen bilden die Raffinerien. Hier wird Erdöl von einem natürlichen Rohstoff zu einem Treibsatz der Technik und Geschichte. Insbesondere die chemische Katalyse erlaubt die gezielte Beschleunigung und Kontrolle chemischer Reaktionen. Metallische Katalysatoren ermöglichen auf vielfältige Weise das Cracken, Hydrieren, Aromatisieren, Reformieren und Cyclisieren von Molekülen. Diese Art der molekularen Mobilisierung trägt wesentlich zur Dynamik des Anthropozäns bei: keine „Great Acceleration“ – die „Große Beschleunigung“ zahlreicher soziotechnischer und erdsystemischer Parameter seit den 1950er-Jahren – ohne chemische Akzeleration. Und die Gewächshäuser der „gläsernen Stadt“ zeigen nur einen Wirkkreis dieser petrochemischen Dynamik. Synthetischer Kunstdünger aus Wasserstoff (gewonnen aus Erdgas) und Stickstoff (aus der Atmosphäre) verknüpfen Landwirtschaft und globale Biosphäre mit den Reaktoren petrochemischer Anlagen. Die auf den ersten Blick eingehegten Prozesse in den chemischen Reaktoren berühren durch ihre Produkte die offenen Prozesse der Menschheits- und Naturgeschichte.

Und da chemisch manipulierte Moleküle eine Grundlage politischer Macht in der Moderne darstellen, werden wissenschaftliche Ressourcen im 20. Jahrhundert zur Erkundung und Mobilisierung fossiler Moleküle in Bewegung gesetzt: ein sich selbst verstärkendes System.

Die Geschichte der Katalyseindustrie bietet dichte Beispiele für derartige Wechselwirkungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die Ammoniaksynthese mit künstlichen Mehrstoffkatalysatoren und Hochdruckreaktoren aus geostrategischen Motiven – wegen der Bedeutung von synthetischem Ammoniak für die Produktion sowohl von Düngemitteln wie von Munition. Es waren also weltpolitische Zusammenhänge, die Innovationen auf mikrochemischer Ebene hervorbrachten, die dann wiederum den Weg in ein neues Kapitel der Geschichte bahnten.

Die Petromoderne als historische und epistemische Epoche

Motorenkraftstoffe als strategische Faktoren der globalen Ökonomie und Politik prägten den nächsten, historischen Schritt: den Transfer der technischen Plattform der katalytischen Synthese auf das Gebiet der Petrochemie. Auch hier ist Wissenschaftsgeschichte weit mehr als akademische Geschichte. In den 1920er- und 1930er-Jahren werden kapitalkräftige Industrieunternehmen wie die IG Farben, Standard Oil und Shell auch Akteure einer mit politischen Machtkalkülen verknüpften Grundlagenforschung.

Als „Petromoderne“ erscheint eine Epoche, in der die wissenschaftlich-technische Nutzung fossiler Ressourcen die conditio humana untergründig prägt. Nahezu alle Ökonomien, Wissenschaften und Politiken der Epoche zehren in ihren Errungenschaften wie in ihren Abgründen von dieser Materialität. Gemeinsam konstituieren harte Faktoren wie Industrie und Technik, aber auch vermeintlich weiche Faktoren wie Lebensstile, Wertesysteme und kulturelle Erwartungen eine spezifische Form der auf Extraktion gegründeten Rationalität.

Diese „fossile Vernunft“ wird uns noch lange verfolgen, selbst wenn der Otto-Motor schon lange im Museum steht. Auch das „Digitale“ etwa, oft beschrieben als Ausweg aus den alten fossilen Industrien, ist zutiefst mit fossiler Energie und Extraktion verwoben. „Fossile Vernunft“ als solche zu verstehen und einer entsprechenden Kritik zu unterziehen, ist eine Herausforderung für Epistemologie und Kulturtheorie und eines der programmatischen Ziele unseres Projekts.

Aus der digitalen Google-Maps-Perspektive auf Rotterdam, produziert von einem mit fossilen Kraftstoffen in den Himmel geschossenen Satelliten, erscheint dies alles in einem großen, exemplarischen Schaubild verknüpft.

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