Forschungsbericht 2022 - Max-Planck-Institut für Hirnforschung
Neuronaler Mechanismus von Navigationssimulationen
Ein innerer Kompass
Räumliche Navigation beruht auf einem inneren Modell der Umgebung, welche das Gehirn verwendet, um mögliche Wege zu einem Zielort zu bewerten. Im Jahr1948 schlug der Verhaltenspsychologe Edward Tolman vor, dass das Rattenhirn ein inneres Modell der Umgebung, eine sogenannte "kognitive Karte", bilden kann. Durch die Entdeckung von Orts- und Gitterzellen im Hippocampus und den dazugehörigen Strukturen gilt diese Annahme heutzutage als weitgehend akzeptiert. Zwar verstehen wir inzwischen besser, wie das Gehirn den eigenen räumlichen Standort einzuschätzen vermag, doch war bisher noch größtenteils unklar, ob Neuronen auch eine Repräsentation einer entfernten Position abbilden können. Wenn ja, wäre zu klären, inwiefern diese Information zur Bestimmung eines Navigationsziels oder der Route zu einem Ziel verwendet wird.
Zur Untersuchung dieser Fragestellung entwarf unsere Forschungsgruppe eine einzigartige Navigationsaufgabe, um die für die Abbildung einer Zielposition notwendige Aktivität im Gehirn zu isolieren. Wir zeichneten bei Ratten die Aktivität von Neuronen im orbitofrontalen Kortex (OFK) auf, einer Region des präfrontalen Kortex, von der in Studien am Menschen angenommen wurde, dass sie für die präzise Navigation wichtig ist.
Navigation mit Zielkodierung
Wenn ein Tier in einer Umgebung navigiert, verfolgen die Orts- und Gitterzellen im Hippocampus die eigene Position des Tieres während der Navigation. Hingegen wechselt die von den OFK-Neuronen abgebildete Position vor Beginn der Navigation von der Startposition des Tieres zum Zielort. Diese Zielkodierung bleibt während der gesamten Navigation bestehen (Abb. 1).
Die OFK-Neuronen bilden also eine Zielkarte, die während der Navigation stets den Standort des beabsichtigten Ziels anzeigt. Die OFK-Zielkarte kann sogar ein falsches Ziel vorhersagen, wenn das Tier einen Fehlversuch unternimmt, was darauf hindeutet, dass der orbitofrontale Kortex diejenige Hirnregion ist, die das beabsichtigte Ziel des Tieres bestimmt. Obwohl die gleichzeitige Abbildung des eigenen
Standorts und des beabsichtigten Ziels auf zwei Karten zunächst eine clevere Lösung darstellt, bedeutet die Verwendung mehrerer Kartensysteme für das Gehirn eine zusätzliche Herausforderung. So sollte beispielsweise eine auf der einen Karte angegebene Position mit der gleichen Position auf der anderen Karte übereinstimmen.
Räumliche Kodierung zwischen unterschiedlichen Hirnregionen
Um zu verstehen, wie die einzelnen Karten gebildet und funktionell miteinander gekoppelt werden, untersuchten wir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der räumlichen Kodierung im orbitofrontalen Kortex und im Hippocampus. Während die Ortszellen im Hippocampus einzelne Positionen mit Hilfe verschiedener Untergruppen von Neuronen kodieren, unterscheiden die OFK-Neuronen Positionen voneinander, indem sie die Verteilung der Aktivitätsraten innerhalb einer bestimmten Neuronenpopulation verändern. Diese einzigartige Kodierungsstrategie könnte die dauerhafte Abbildung eines Navigationsziels während der gesamten Dauer der Navigation ermöglichen.
Auch wenn wir unterschiedliche Merkmale der beiden Kartensysteme beobachtet haben, deuten unsere Daten darauf hin, dass die beiden Karten funktionell miteinander gekoppelt sind. Während OFK-Neuronen eine dauerhafte Zielrepräsentation bilden, ist bekannt, dass Neuronen im Hippocampus kurz vor Beginn der Navigation ebenfalls eine kurze zielgerichtete Aktivität aufweisen. Diese Aktivität wurde als Schlüsselmechanismus für die Navigation angesehen, aber der zugrundeliegende Mechanismus war bisher weitgehend unklar. Mithilfe unserer Navigationsaufgabe konnten wir zuverlässig nachweisen, dass die von den Neuronen im Hippocampus vor Beginn der Navigation kartierten Positionen dem zukünftigen Weg des Tieres zum nächsten Ziel entsprechen.
Unsere Forschungsarbeiten haben Einblicke in die Navigationsschaltkreise ergeben, an denen mehrere Hirnregionen beteiligt sind. Letztendlich wollen wir verstehen, wie unsere inneren Gedanken im Gehirn entstehen. Möglicherweise könnte eine Abnormität in diesem Prozess mit Symptomen psychiatrischer Störungen, wie Illusionen oder Halluzinationen, zusammenhängen.