Forschungsbericht 2021 - Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
Bevölkerungszahlen als Gegenstand des internationalen Rechts: Interpretation und Regulation zwischen 1945 und 1980
Während Bevölkerungszahlen Menschen seit jeher beschäftigten, wird in der Moderne die Weltbevölkerung zum Thema. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wächst die Weltbevölkerung erheblich, sie wird allmählich statistisch erfassbar und mit dem regional verschiedenen Bevölkerungswachstum verbinden sich immer auch normative Fragen: nach reproduktiven Rechten, nach dem Verhältnis zur sozialen Frage, nach Bedingungen der Migration. In meinem Forschungsprojekt untersuche ich, wie Debatten um Bevölkerungszahlen das moderne Recht mitprägten und wie besonders zwischen 1945 und 1980 das Thema des globalen und regional verschiedenen Bevölkerungswachstums Entwicklungen im internationalen Recht beeinflusste. Zentrale Beobachtung ist, dass das Recht nicht nur regulierend, sondern in großem Maße auch interpretierend wirkte. Ich bezeichne dies als die narrative Autorität des Rechts.
Bevölkerungswachstum – ein Thema für das Recht?
Bevölkerungszahlen und das erhebliche Bevölkerungswachstum in der Moderne waren bislang kaum Untersuchungsgegenstand für die Wissenschaft des internationalen Rechts. In den 1960ern und 1970ern finden sich vereinzelt Beiträge, die über rechtliche Steuerung von Bevölkerungsentwicklungen nachdenken oder die menschenrechtlichen Grenzen solcher Steuerung diskutieren [1, 2]. Was weitgehend außen vor blieb, ist die prägende Kraft des Themas Bevölkerungswachstum für das Recht und gerade auch das internationale Recht. Ich betrachte das Verhältnis von Recht und Bevölkerungszahlen als ein dreifaches: Erstens nimmt Recht auf Bevölkerungsentwicklungen, genauer gesagt Geburtenentwicklungen, Einfluss – in Form expliziter Bevölkerungspolitiken, meist aber in Form indirekter Steuerung durch Anreize und Rahmenbedingungen, von Steuerregelungen über Betreuungsangebote zu Arbeitsschutz und anderem. Zweitens prägt umgekehrt die Wahrnehmung von Bevölkerungsentwicklungen das Recht. In meiner Forschung frage ich beispielsweise, wie die Sorge um globales Bevölkerungswachstum Anfang des 20. Jahrhunderts sich mit frauenrechtlichen Bewegungen rund um Verhütung und Geburtenkontrolle verband. Die Sorge um Bevölkerungszahlen führte teils zur erheblichen Beschneidung von Rechten. Drittens, und das ist hier mein Fokus, sind Recht und Bevölkerungsentwicklungen auch insofern verbunden, als dass Recht ein wichtiges Medium der Interpretation komplexer Zusammenhänge rund um Bevölkerungszahlen ist.
Der Blick auf die ersten Jahrzehnte der Vereinten Nationen
Im Zusammenhang mit Bevölkerungszahlen wurden Mitte des 20. Jahrhunderts zentrale geopolitische Fragen diskutiert [3]. Nach ihrer Gründung entwickelten sich die Vereinten Nationen zum Forum für globale Anliegen und so auch für das Thema der globalen und regional unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklung. Dabei wandelte sich der Umgang mit dem Bevölkerungsthema von einem zunächst vorrangig wissenschaftlich-analytischen zu einem stärker regulierend-normativen. Ursachen und Folgen von Bevölkerungsentwicklungen sind in einem komplexen Netz von sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Fragen angesiedelt. In den Vereinten Nationen wurden Bevölkerungsfragen unter dem Thema „Entwicklung“ eingeordnet, was in Resolutionen der Generalversammlung und zahlreichen weiteren Dokumenten zum Ausdruck kommt. Besonders Anfang der 1970er-Jahre wuchs der Druck zu Regulierung, der in der Weltbevölkerungskonferenz und dem Weltbevölkerungsaktionsplan von 1974 kumulierte.
Zum einen untersuche ich, wie der Weltbevölkerungsaktionsplan sich in verschiedenen Ländern auswirkte, und zeichne in den Debatten die Opposition zwischen industrialisierten Staaten und sogenannten Entwicklungsstaaten nach. Zum anderen interessiert mich, wie in den rechtlichen Verfahren und Dokumenten mit den vielschichtigen Fragen nach Kausalitäten rund um Bevölkerungswachstum umgegangen wurde. Die Betrachtung von Bevölkerungszahlen als Bestandteil des Themas „Entwicklung“ und die weitreichende Gleichsetzung von Entwicklung mit Industrialisierung prägten normative Grundentscheidungen. So ragten Interpretationen zur Kausalität von Bevölkerungswachstum für Nahrungsmittelknappheit beispielsweise auch in Fragen des internationalen Handelsrechts hinein [4].
Die narrative Autorität von Recht
Als in den Vereinten Nationen Fragen von Bevölkerungswachstum behandelt wurden, musste auf komplexe demografische, sozialwissenschaftliche und ökonomische Wissensbestände zurückgegriffen werden. Ich untersuche, wie in den Verfahren und Dokumenten das Verständnis von Kausalitäten und Korrelationen, von Gründen und Verantwortung geprägt wurde. Im Umgang mit diesen Wissensbeständen wurden Interpretationen vorgenommen, bestimmte Zusammenhänge hervorgehoben und andere hintangestellt – es fand also notwendigerweise eine normative Verarbeitung statt. Und die besondere Stellung der Dokumente als rechtliche und der institutionelle Rahmen verleihen diesen Interpretationen Autorität. Es lässt sich insofern von Wissensproduktion sprechen, wobei in diesem Prozess nicht die Behauptung aufgestellt wurde, es gebe keine anderen Interpretationen. Vielmehr ist es die kontinuierliche Erzählung von Zusammenhängen, die die öffentliche und wissenschaftliche Wahrnehmung prägt und in diesem Sinne narrative Autorität ausübt.
Bevölkerungszahlen und gegenwärtige globale Gerechtigkeitsfragen
Mein Projekt ist zuvorderst darauf gerichtet, die Entwicklungslinien internationalen Rechts besser nachzuvollziehen. Es ergeben sich daraus auch rechtstheoretische Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Fokus auf individuelle Rechte, der das moderne Recht so wesentlich formte, und der Rolle von Demografie – gewissermaßen dem Verhältnis von Menschenrechten und Menschenzahl. Die Untersuchung ist nicht darauf gerichtet, normative Forderungen für die Gegenwart abzuleiten; wohl aber kann sie den kritischen Blick auf den Umgang mit Bevölkerungszahlen schärfen: Heute wird Bevölkerungswachstum in neuen Zusammenhängen – im Hinblick auf Klimawandel und zunehmende Wachstumskritik, aber auch im Verhältnis zu Migration – diskutiert. Die Untersuchung des rechtlichen Umgangs mit Bevölkerungszahlen und des Einflusses der narrativen Einordnung verdeutlicht Widersprüche und sensibilisiert dafür, wie unter ungleichen Machtverhältnissen um die Interpretation komplexer Kausalitäten gerungen werden muss.