Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Physik

Die Suche nach neuer Physik

Autoren
Marius Wiesemann, Giulia Zanderighi
Abteilungen
Innovative Berechnungsmethoden in der Teilchenphysik
Zusammenfassung
Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt die Elementarteilchen und ihre Wechselwirkungen. Seit der Entdeckung des Higgs-Bosons gilt es als komplett. Allerdings werfen einige Eigenschaften des Higgs-Bosons neue Fragen auf; genauso wie viele andere Phänomene, die sich nicht mit dem Standardmodell erklären lassen. Mit Beschleunigerexperimenten wie dem Large Hadron Collider sucht die Teilchenphysik nach Antworten. Der Erfolg dieser Projekte hängt wesentlich von präzise berechneten Vorhersagen ab.

Häufig werden wir gefragt: Wann findet ihr endlich ein neues Teilchen? Gibt es Supersymmetrie? Wie gut stehen die Chancen, das Geheimnis der Dunklen Materie zu lüften?

Die Dunkle Materie ist eines der spannendsten Themen in der heutigen Physik. Mit ungefähr 23 Prozent des gesamten Energiebudgets ist sie eine der dominierenden Größen im Universum, aber unsichtbar. Bis heute wissen wir nicht woraus sie besteht. Die Liste der Vorschläge reicht von sehr leichten Teilchen wie Axionen bis hin zu Theorien, die ganz ohne Teilchen auskommen. So schlagen einige Modelle Mini-Schwarze-Löcher als mögliche Erklärung vor.

Aber es gibt weitere interessante, wenn auch in den Augen der Öffentlichkeit nicht so spektakuläre Fragestellungen, die zum Beispiel das Higgs-Boson betreffen. Wie so oft in der Forschung war die Entdeckung des Higgs-Bosons am Large Hadron Collider (LHC) des CERN weniger der Schluss- als vielmehr der Ausgangspunkt für viele neue Fragen.

Das Higgs-Boson war der letzte fehlende Puzzlestein im Standardmodell der Teilchenphysik (Abbildung 1). Es verleiht anderen Teilchen ihre Masse. Im Rahmen des Standardmodells lassen sich die Eigenschaften und das Wechselspiel von Materiebausteinen wie Quarks und Elektronen erklären. Für einige Phänomene hält es allerdings keine Erklärungen parat – Stichwort Dunkle Materie.

Das Higgs-Boson bombardiert uns also mit neuen Fragen, zum Beispiel: Warum ist es viel leichter, als die meisten Theorien erwarten ließen? Viele Modelle orientieren sich an dem ästhetisch motivierten Prinzip der „Natürlichkeit“. In diesem Zusammenhang ist das leichte Higgs so „unnatürlich“ wie ein Bleistift, der statt auf dem Tisch zu liegen auf seiner Spitze balanciert. Bei einem solchen Anblick würde man sofort vermuten, dass irgendetwas den Stift in dieser Position hält. Dieses Etwas versuchen wir für das leichte Higgs-Boson zu finden.

Außerdem wartet die Teilchenphysik auf den experimentellen Nachweis, dass das Higgs-Boson mit sich selbst wechselwirkt – eine genaue Vorgabe des Standardmodells. Die Wechselwirkung oder Kopplung mit allen anderen Teilchen ist ebenfalls im Standardmodell definiert. Doch auch hier zeigt das Higgs besondere Eigenschaften: Die Kopplung hängt von der Masse des jeweiligen Partners ab. Das macht es sehr schwierig, Kopplungen zu ganz leichten Teilchen zu messen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, das Higgs so gründlich unter die Lupe zu nehmen. Unbekannte Teilchen außerhalb des Standardmodells hätten Einfluss auf das Muster der Kopplungen. Die präzise Vermessung des Higgs-Sektors ist daher eine unserer besten Chancen, um mit LHC-Detektoren wie ATLAS oder CMS neue Physik zu finden.

An beiden Detektoren forschen jeweils mehr als 3.000 Menschen. Unter kontrollierten Bedingungen untersuchen sie die Natur bei den höchsten Energien und den kleinsten Abständen, die je in einem Versuchsaufbau erreicht wurden. Im LHC werden Protonen beschleunigt und zur Kollision gebracht. Dabei wandeln sich Protonen in andere, teils sehr kurzlebige Teilchen um. Es entsteht eine Zerfallskaskade  bis nur noch stabile Teilchen vorhanden sind. Aus der Energie und dem Impuls der Zerfallsprodukte lässt sich rückschließen, welche Teilchen gebildet wurden – und ob unbekannte Teilchen darunter sind. 

Allerdings reicht es nicht, die Teilchenkollisionen experimentell auszuwerten. Genauso wichtig sind die theoretischen Vorhersagen: Mithilfe mathematischer Berechnungen stellen Physiker sozusagen die Leitplanken auf, innerhalb derer bestimmte Ereignisse zu erwarten sind. Daher sind unsere Modelle eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg von Experimenten in der Teilchenphysik.

Die Berechnungen sagen also voraus, wo im Daten-Heuhaufen die Nadel am wahrscheinlichsten zu finden ist – und wie sie aussieht. Die Existenz des Higgs-Bosons als eindeutige Vorhersage des Standardmodells ist ein Beispiel für dieses Zusammenspiel: Dank präziser Berechnungen konnte man definieren, in welchen Zerfallskanälen das Higgs zu finden sein sollte und welche Eigenschaften es besitzt.

Unsere Abteilung am Max-Planck-Institut für Physik in München beschäftigt sich vorwiegend mit präzisen Vorhersagen für die genannten LHC-Experimente. Dafür entwickeln wir innovative und leistungsfähige Software, mit denen wir die Häufigkeit und Verteilung von Kollisionsereignissen berechnen und modellieren können.

Die Software wird eingesetzt, um Vorhersagen und experimentelle Daten miteinander abzugleichen. Das Ziel ist, nicht nur das Standardmodell als „Mutter der Teilchenphysik“ immer besser abzusichern, sondern Abweichungen von den Vorhersagen zu finden: Diese verraten uns, ob wir es mit neuer Physik im Sinne neuer Teilchen oder Wechselwirkungen zu tun haben. Und je genauer unsere Vorhersagen sind, umso eher fallen auch kleinste Effekte ins Auge.

Im vergangenen Jahr haben wir uns außerdem intensiv mit einem interessanten Zukunftsaspekt des LHC beschäftigt. Der LHC schießt Protonen aufeinander, die ihrerseits aus elementaren Quarks und Gluonen aufgebaut sind. Dank unserer Berechnung der so genannten Lepton-Parton-Dichtefunktion lässt sich der Proton-Beschleuniger aber auch nutzen, um die Kollisionen von Leptonen zu erforschen. Diese Teilchen unterscheiden sich wegen ihrer Eigenschaften grundlegend von Quarks und Gluonen.

Das eröffnet der Teilchenphysik völlig neue Perspektiven. Wie kann das funktionieren? Da Quarks und Gluonen elektrisch geladen sind, werden beim Zusammenstoß der Protonen auch Photonen (Lichtteilchen) freigesetzt. Sie vermitteln die elektromagnetische Wechselwirkung und können sich in Lepton-Paare, zum Beispiel ein Elektron und ein Positron, umwandeln. 

Wir können damit zum Beispiel hypothetische Lepto-Quarks, die aus einem Quark und einem Lepton bestehen, genauer untersuchen. Lepto-Quarks sind interessant, weil sie zum einen eine Brücke zu Modellen der Stringtheorie und anderen Phänomenen schlagen. Zum anderen können wir damit die Grenzen des Wissens neu ausloten – wie so häufig in der Teilchenphysik.

Literaturhinweise

Luca Buonocore, Ulrich Haisch, Paolo Nason, Francesco Tramontano, and Giulia Zanderighi
Lepton-Quark Collisions at the Large Hadron Collider
Phys. Rev. Lett. 125, 231804 (2020)
Aneesh Manohar, Paolo Nason, Gavin P. Salam, and Giulia Zanderighi
How Bright is the Proton? A Precise Determination of the Photon Parton Distribution Function
Phys. Rev. Lett. 117, 242002 (2016)
Massimiliano Grazzini, Stefan Kallweitb, Dirk Rathlev, Marius Wiesemann
W±Z production at hadron colliders in NNLO QCD
Physics Letters B, 761, 179 (2016)
Matteo Cacciari, Frédéric A. Dreyer, Alexander Karlberg, Gavin P. Salam, and Giulia Zanderighi
Fully Differential Vector-Boson-Fusion Higgs Production at Next-to-Next-to-Leading Order
Phys. Rev. Lett. 115, 082002 (2015); Erratum Phys. Rev. Lett. 120, 139901 (2018)
R. Keith Ellis, Zoltan Kunszt, Kirill Melnikov, Giulia Zanderighi
One-loop calculations in quantum field theory: From Feynman diagrams to unitarity cuts
Physics Reports 518(4–5), 141, (2012)
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