Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Stoffwechselforschung
Essen mit allen Sinnen
Sinnesreizen, welche die unmittelbare Nähe zu Nahrung suggerieren, abgeschaltet. Basierend auf diesen Erkenntnissen untersucht unsere Gruppe den Einfluss der Sinneswahrnehmung auf jene Netzwerke unseres Gehirns, die Appetit und Stoffwechsel regulieren, um zu verstehen, wie unser Gehirn das Ernährungsverhalten steuert.
Wie reguliert unser Gehirn, wie viel wir essen?
Das Nahrungsverhalten ist überlebenswichtig und sowohl ein Mangel als auch ein Überangebot an Nahrung kann schwerwiegende Auswirkungen auf den Organismus haben. Entsprechend steuern hochkomplexe und miteinander verbundene Kreisläufe des zentralen Nervensystems den Appetit. Insbesondere der Hypothalamus, eine an der Basis des Gehirns gelegene Region, spielt eine entscheidende Rolle bei der Nahrungsaufnahme. Im Nucleus arcuatus des Hypothalamus sind zwei entscheidende Nervenzell-Populationen zu finden: die Nahrungsaufnahme-steigernden/Hunger-fördernden Agouti-Related Peptid (AgRP)-Neurone und die Appetit-hemmenden/Sättigungs-fördernden Proopiomelanocortin (POMC)-Neurone [1]. So verursacht die Aktivierung von AgRP-Neuronen in adulten Mäusen eine vermehrte Nahrungsaufnahme, während deren Ausschaltung zu einer massiven Unterdrückung der Nahrungsaufnahme führt. Die Aktivierung von POMC-Neuronen wiederum verringert die Menge der aufgenommenen Nahrung [2].
Die „Hunger-Neurone“ besitzen eine Schlüsselfunktion
Um zu ermitteln, an welche Hirnregionen die AgRP-Neurone, auch „Hunger-Neurone“ genannt, ihre Informationen zur Steuerung der Nahrungsaufnahme weiterleiten, nutzen wir die sogenannte Optogenetik. Diese Technologie erlaubt es, über einen genetisch modifizierten Licht-aktivierbaren Ionenkanal die Aktivität von AgRP-Neuronen, durch Lichtimpulse direkt zu steuern. Mit diesen Untersuchungen konnten wir parallele neuronale AgRP-Schaltkreise nachweisen, die die Ernährung steuern. Wir konnten feststellen, dass AgRP-Neurone in mehrere Hirnregionen projizieren, um die Nahrungsaufnahme zu steigern. Dies verdeutlicht noch einmal mehr die entscheidende Bedeutung dieser Neurone für das Überleben. Und schließlich konnten wir zeigen, dass AgRP-Neurone nicht nur eine Schlüsselfunktion in der Regulation der Nahrungsaufnahme innehaben, sondern darüber hinaus für die Aufrechterhaltung der Sensitivität des Organismus gegenüber dem Hormon Insulin und somit für die Kontrolle des Blutzuckerspiegels von entscheidender Bedeutung sind.
Der AgRP-Schaltkreis ist ein evolutionär konservierter Schaltkreis, der auch beim Menschen vorhanden ist. Veränderungen im AgRP-Kreislauf, wie z. B. Mutationen im AGRP-Gen oder den AgRP-Rezeptoren, führen beim Menschen zu Veränderungen der Nahrungsaufnahme, des Körpergewichts und des Glukosespiegels. Daher ist es von großer Bedeutung, die Regulation und Funktion der „Hunger-Neurone“ besser zu verstehen.
Die Bedeutung unserer Sinne für die Kontrolle der „Hunger-Neurone“
Forschungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Aktivität der AgRP-Neurone durch Hormone gesteuert wird, die Informationen über den Ernährungszustand oder die Fettmasse des Körpers übermitteln, zum Beispiel hungrig oder satt, beziehungsweise mager oder übergewichtig/adipös. Beispielsweise werden AgRP-Neurone durch Ghrelin, einem Hormon, welches vom hungrigen Magen ausgeschüttet wird, aktiviert und durch Leptin, einem Hormon, welches proportional zur Menge des Fettgewebes ausgeschüttet wird, gehemmt. Basierend auf diesen Entdeckungen war die -vereinfachte- Sicht auf die Kontrolle der Nahrungsaufnahme durch AgRP-Neurone bislang folgende: während des Fastens oder zwischen den Mahlzeiten setzt der Organismus „Hungerhormone“ frei, die AgRP-Neurone aktivieren, um die Nahrungsaufnahme zu initiieren; die Nahrungsaufnahme dagegen führt zur Ausschüttung von Sättigungshormonen, welche die AgRP-Neurone hemmen und so zur Beendigung der Nahrungsaufnahme führen.
Diese Ansicht wurde kürzlich durch den Einsatz neuartiger Mikroskopietechniken in Frage gestellt. Neurowissenschaftler können nun z. B. mittels Calcium-Imaging die Regulation von AgRP-Neuronen mit einer Auflösung im Millisekundenbereich untersuchen. Diese bahnbrechenden Analysen zeigten, dass AgRP-Neurone bereits binnen weniger Sekunden nach dem Anblick und/oder dem Geruch von Nahrungsmitteln gehemmt werden (3). Dies bedeutet, dass die Nahrungsaufnahme-steigernden AgRP-Neurone auf Sinnesreize reagieren, die dem Tier Nahrung in der nahen Umgebung signalisieren und so den Körper die Aufnahme von Nahrung in den nächsten Sekunden erwarten lassen. Diese Erkenntnis führt zu einem Paradigmenwechsel auf dem Gebiet der Neurobiologie der Ernährung: Nahrungsaufnahme-kontrollierende Neurone werden offenbar nicht erst durch die tatsächliche Nährstoffaufnahme gehemmt, sondern bereits beim Erkennen von Nahrung, d.h. noch vor dem ersten Biss.
Unsere Sinne machen den Körper einsatzbereit
Der Geruch und der Anblick von Nahrung signalisiert dem Gehirn, dass in Kürze Nährstoffe aufgenommen werden. Durch diese Erwartungshaltung werden verschiedene physiologische Prozesse angestoßen, die den Organismus in die Lage versetzen, sich auf die bevorstehende Mahlzeit vorzubereiten. Diese antizipatorischen Regulationsmechanismen sind Teil der hirngesteuerten (cephalischen) Antwort auf die Nahrungsaufnahme. Diese wurde durch die berühmte Arbeit von Ivan Pavlov bekannt, in der er vor mehr als einem Jahrhundert auf elegante Weise demonstrierte, dass Nahrungsreize den Speichelfluss auslösen können. Der Geruch und der Anblick von Nahrung erhöht nicht nur die Speichelproduktion, sondern setzt eine Vielzahl physiologischer Prozesse in Gang, einschließlich der Insulinsekretion. An unserem Institut entdeckte vor kurzem die Gruppe um Prof. Brüning, dass die Wahrnehmung von Nahrung außerdem sofort Veränderungen in der Leber hervorruft, um diese auf die Phase nach der Nahrungsaufnahme vorzubereiten (4). Diese Erkenntnisse stellen unsere langjährigen Annahmen über die Regulation der AgRP-Neurone in Frage und werfen ein neues Licht darauf, wie unser Körper die Nahrungsaufnahme kontrolliert. Auch unterstreichen diese Entdeckungen nochmals die Komplexität der Regulation der Nahrungsaufnahme als einer der grundlegendsten und wichtigsten Bedürfnisse unseres Organismus. Gleichzeitig eröffnen sie eine Vielzahl von spannenden, noch unbeantworteten Fragen, wie zum Beispiel: Wie verarbeitet unser Gehirn Nahrungs-sensorische Reize? Anblick, Geruch, Geschmack, Nahrungs-assoziierte Reize: Welcher ist der wichtigste Reiz? Inwiefern können Änderungen in der sensorischen Wahrnehmung von Nahrungsmitteln für die Auslösung von Erkrankungen verantwortlich sein? Auf diese und andere Fragen möchten wir mit unserer Forschungsarbeit zukünftig Antworten finden.
Literaturhinweise
Nature Communications 15259, 4-8 (2017)
Cell 175, 1321-1335 (2018)