Forschungsbericht 2020 - Max-Planck-Institut für Steuerrecht und Öffentliche Finanzen

Internationale Steuergerechtigkeit

Autoren
Stark, Johanna
Abteilungen
Abteilung für Unternehmens- und Steuerrecht
Zusammenfassung
Die internationale Steuerordnung steht vor einem grundlegenden Umbau. Es mehren sich die Stimmen, die fordern, Gerechtigkeitserwägungen bei der internationalen Verteilung von Besteuerungsrechten stärker zu berücksichtigen. Was aber bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext? Bisher gibt es darüber keinen Konsens. Ein Blick auf verschiedene philosophische Gerechtigkeitstheorien liefert kein einheitliches Bild, was die moralische Verpflichtung zur Umverteilung von Ressourcen über Staatsgrenzen hinweg angeht.

Wenn Apple ein neues iPhone in Kalifornien entwickelt, dieses in China zusammenbauen lässt, dann an deutsche Kunden verkauft und die Erträge aufgrund konzerninterner Vereinbarungen einer Tochtergesellschaft in Irland zugerechnet werden – welcher Staat darf die letztlich erzielten Gewinne zu welchem Anteil besteuern? Die Antwort darauf ergibt sich aus dem internationalen Steuerrecht, einem in seinen Grundzügen etwa einhundert Jahre alten Regelungskörper aus zwischenstaatlichen Abkommen, die die Aufteilung von Besteuerungsrechten bei grenzüberschreitenden Geschäftstätigkeiten festlegen.

Das ganze Regelungsgefüge anpassen

Dieses Regelungssystem steht nun vor tiefgreifenden Reformen. Einig ist man sich darin, dass die internationale Steuerordnung nicht nur punktueller Anpassungen bedarf, sondern das ganze Regelungsgefüge an die zunehmend globale Integration von Wirtschaftsketten, die gestiegene Mobilität von Steuerzahlern wie auch von Kapital sowie an primär digitale Geschäftsmodelle angepasst werden muss.

Weniger Einigkeit gibt es im Hinblick auf die Strukturprinzipien und Leitideale, denen eine solche Neuausrichtung der   internationalen   Steuerordnung   folgen sollte. Zunehmend sind Forderungen zu hören, dass die Staatengemeinschaft bei dem anstehenden Umbau den Blick darauf richten sollte, wie sich eine neue internationale Steuerordnung nicht nur effizient und umsetzbar, sondern auch gerecht ausgestalten lässt. Die Forderung nach internationaler Steuergerechtigkeit wird nicht zuletzt vonseiten der Entwicklungs-­ und Schwellenländer erhoben, die ihren Anteil an den Wertschöpfungsketten global operierender Unternehmen in größere Besteuerungsanteile übersetzt sehen wollen, als dies nach den bisherigen Regeln der Fall ist.

Sofern es darum geht, Wertschöpfungsbeiträge neu zu gewichten, diskutieren wir letztlich über ein plausibles Verständnis des Wertschöpfungsbegriffs. Das Ziel, Besteuerungsrechte so zu verteilen, dass sie mit anteiligen Wertschöpfungsbeiträgen im Einklang stehen, ist zwar auf den ersten Blick einleuchtend; bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass dem Wertschöpfungsbegriff die konkrete Aussagekraft fehlt. Zwar kann man damit begründen, warum Steueroasen als Heimat bloßer „Briefkastenfirmen“ nicht zum Zuge kommen sollten.

Darüber hinaus lässt sich aus dem Begriff aber kaum eine Verteilung von Besteuerungsrechten unter all jenen Staaten ableiten, die eine Verbindung mit Faktoren wie Entwicklung, Produktion, Marketing und Verkauf für sich reklamieren.

Über Grenzen hinweg umverteilen?

Die Diskussion über mehr internationale Steuergerechtigkeit hat aber noch eine ganz anders gelagerte Dimension: Hier ist es die global gesehen drastisch ungleiche Verteilung von Ressourcen und Lebenschancen, die nach politischen und rechtlichen Veränderungen auch im Bereich des internationalen Steuerrechts verlangt.

Ausgangspunkt für dieses Argument sind die Bedürfnisse und (Menschen-­)Rechte von Individuen. Für die Befriedigung dieser Bedürfnisse und die Verwirklichung grundlegender Leistungs-­ und Teilhaberechte, etwa des Rechts auf Bildung, braucht es Ressourcen. Grundsätzlich wäre es denkbar, das internationale Steuerrecht als Instrument zur Umverteilung finanzieller Ressourcen insbesondere zugunsten von Entwicklungsländern einzusetzen. Im nationalen Kontext ist das Steuersystem seit jeher ein zentrales Umverteilungsinstrument, auch wenn die konkrete Ausgestaltung von Art und Umfang oft zu politischen Auseinandersetzungen führt.

Der Umgang mit globaler Armut und Ungleichheit spielt in diesem Zusammenhang indes eher selten eine Rolle. Dieses Auseinanderfallen von nationaler und internationaler Perspektive auf das moralische Gebot zur Umverteilung lässt sich in einem ersten Zugriff sozialpsychologisch erklären: Je stärker die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Beziehungen von Menschen untereinander sind, desto eher sehen sie Umverteilung als Gebot von Gerechtigkeit an. Wie steht es jedoch um die normative Kraft dieser Erklärung? Mit anderen Worten: Sprechen stärkere Gerechtigkeitsgründe dafür, mit steuerfinanzierten   Sozialleistungen   Mitmenschen in Deutschland zu unterstützen als hungernde Kinder in Bangladesch? Falls ja, was ist die Rechtfertigung für diese Varianz? Solche Fragen sind Gegenstand einer Debatte zwischen Befürwortern unterschiedlicher Gerechtigkeitstheorien; sie wird vor allem in der politischen Philosophie geführt, hat aber auch Auswirkungen auf die Gerechtigkeitsdiskussion im internationalen Steuerrecht.

Steuerverlagerungen bekämpfen

Über den Aspekt der territorialen Reichweite von Gerechtigkeitspflichten hinaus stellt sich die Frage: Ist das internationale  Steuerrecht  für  eine  internationale Umverteilung das richtige Instrument? Man muss unterscheiden zwischen den Gründen, die für oder gegen eine internationale Umverteilung von Ressourcen im Allgemeinen sprechen, und den Vor­- und Nachteilen unterschiedlicher Möglichkeiten, eine solche Umverteilung zu erreichen und damit letztlich bessere Lebensbedingungen für die Menschen insbesondere in Entwicklungsländern zu schaffen. Zu den weiteren Möglichkeiten zählen etwa humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe, aber auch eine Stärkung des Menschenrechtsschutzes im Anfangsstadium internationaler Lieferketten.

Ohne den politischen Handlungsbedarf im Hinblick auf die Situation der Menschen in vielen Teilen der Welt in Abrede zu stellen, muss man sich klarmachen, dass ein Zuwachs an Besteuerungsrechten für einen bestimmten Staat nicht zwingend mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen seiner Einwohner einhergeht. Wenn es letztlich um die Bedürfnisse, Rechte und Lebenschancen von Individuen geht und es die krasse Ungleichheit zwischen Menschen ist, die das Gerechtigkeitsproblem ausmacht – dann ist eine Umverteilung von staatlichen Besteuerungsrechten auf einer notwendigerweise kollektiven Ebene kein Garant für den gewünschten Erfolg.

Auch wenn keine ideale Lösung für eine gerechte Ausgestaltung dieses vielschichtigen Verteilungsszenarios auf der Hand liegt, hat die Debatte darüber immerhin zu politischem Handlungswillen im Hinblick auf ein verwandtes Problem geführt: Besteuerungsrechte sind für alle Staaten nur etwas wert, wenn es überhaupt einen Gewinn zu besteuern gibt. Das setzt voraus, dass die Gewinne von Apple & Co nicht wie bisher aufgrund ausgeklügelter Konstruktionen so lange durch verschiedene Konzerngesellschaften über den Globus geschickt werden können, bis sie im staaten-­ und steuerlosen Nirvana verschwinden. Gegen derartige Gewinnverlagerungen multinationaler Unternehmen vor allem im Digitalbereich versuchen die OECD und die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie-­ und Schwellenländer G20 derzeit mit einem abgestimmten Maßnahmenpaket vorzugehen. Wie groß der Erfolg sein wird, muss sich zeigen. Das Gerechtigkeitspotenzial einer in diesem Rahmen geplanten globalen Mindestbesteuerung sollte jedenfalls nicht unterschätzt werden.

Literaturhinweise

Stark, J.
Verteilungsgerechtigkeit als Prinzip des internationalen Steuerrechts
Steuer und Wirtschaft – StuW 96 (1), 71–84 (2019)
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