Forschungsbericht 2019 - Max-Planck-Institut für Biochemie
Zwischenzelluläre Kontakte - Der Selbsthemmungsmechanismus von Talin
Zellkontakte
Ein komplexer Organismus ist aus einer Vielzahl an Zellen aufgebaut, die untereinander und mit Strukturen in den Zellzwischenräumen in Kontakt stehen. Damit Zellen mit der Umgebung physischen Kontakt aufnehmen können, besitzen sie an ihrer Zelloberfläche einen Kontaktapparat, eine sogenannte Fokale Adhäsionsstelle. Hierbei handelt es sich aber nicht um statische, sondern um sehr dynamische Verbindungen. Besonders bei Zellwanderungen während der Zellentwicklung, bei Immunreaktionen und der Blutgerinnung muss ein fein regulierter Anheftungs- und Ablösungsprozess gewährleistet sein. Deshalb sind hier hunderte von Proteinen notwendig, zu denen Aktin, Talin, Vinculin und Integrin gehören, um die komplette Maschinerie aufzubauen.
Talin – der Transformer
In dieser Zellanhaftungsmaschinerie ist Talin ein zentrales Protein, das in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erfahren hat. Talin ist ein spannungssensorisches Molekül, mit dessen Hilfe Zellen die Gewebesteifigkeit der Umgebung erkennen. Es ist Teil des zweiseitigen Signalübertragungssystems zwischen dem Inneren und dem Äußeren der Zelle.
Talin liegt in zwei Zuständen vor, aufgeklappt-aktiv oder zusammengeklappt-inaktiv. In seiner länglichen, aufgefalteten Form ist das Molekül 100 nm lang und dient als Bindungsplattform für viele Nachbarproteine, was die Anhaftung der Zelle an die Umgebungsstrukturen gewährleistet. Dieser aktive Talin-Zustand wurde in den letzten Jahren ausführlich erforscht. Jedoch war nicht bekannt, wie sich das Protein zusammenfalten und somit selbst hemmen kann. Dieser Zustand ist äußerst wichtig, da der Adhäsionsapparat nicht dauerhaft angeschaltet bleiben kann, um für Zellbewegungen und die Kontaktaufnahme zwischen An/Aus umzuschalten. Unser Ziel war es, den genauen Selbsthemmungsmechanismus von Talin zu verstehen, denn dieser Mechanismus ist bei bösartigen Krebserkrankungen außer Kontrolle geraten.
Die Schwierigkeit, den Mechanismus der Talin-Selbsthemmung aufzuklären, liegt in dem extrem flexiblen Verhalten des Proteins. Es kann seine Struktur sehr schnell und dynamisch ändern, um seine molekularen Funktionen auszuführen. Um die exakte Struktur eines Proteins aufzuschlüsseln, muss es allerdings in einem stabilen Zustand fixiert vorliegen. Für die Analyse haben wir daher zunächst Talin-Proteine in Bakterien hergestellt, diese aufgereinigt und nach optimalen Umgebungsbedingungen gesucht, in denen Talin in seiner inaktiven, kugelförmigen Form stabil ist. Um dies zu erreichen, haben wir verschiedene Salzkonzentrationen und viele weitere Parameter getestet.
Die Cryo-Elektronenmikroskopie
Für die anschließenden cryo-elektronenmikroskopischen Aufnahmen wurden die Proteine extrem schnell schockgefroren. So hat Wasser, das die Proteine umgibt, keine Zeit, Kristalle zu bilden und die molekularen Strukturen zu zerstören. Dadurch erstarren die Proteine in amorphem Eis, das wie Glas durchsichtig ist. Dann wurden tausende Bilder mit einem hochauflösenden Transmissionselektronenmikroskop aufgenommen, um die Talin Proteine aus verschiedenen Richtungen zu betrachten. Mit Hilfe der Computeranalyse wurden dann die Proteine mit ähnlichen Zuständen zusammengefasst und ein 3D-Modell mit nahezu atomarer Auflösung berechnet ([1]; Abb. 1).
Nun können wir genau erklären, welche Bindungsstellen im inaktiven Zustand von Talin für Partnerproteine nicht mehr erreichbar sind. Die Bindungsstellen für Aktin und Vinculin beispielsweise werden durch eine Abdeckung und Sicherung der Kugelstruktur durch bestimmte Proteinbereiche verschlossen. Aktin und Vinculin sind Bestandteile des Zellskelettnetzwerks und können dann keine notwendige Spannung zwischen den Zellen mehr aufbauen. Ein weiterer Bereich im Talinmolekül schirmt die Bindetasche für das Phospholipid PIP2 ab und versiegelt die Integrin-Bindungsstelle vollständig. Dadurch kann Integrin, ein Rezeptorprotein, das in der Zellmembran verankert ist und die Verbindung zur zellulären Außenwelt darstellt, nicht mehr an Talin binden. Signale werden dann nicht mehr zwischen den beiden Proteinen ausgetauscht.
Unsere Energieberechnungen ergaben, dass sich Teile des inaktiven Talins in einem "öffnungsbereiten" Zustand befinden, da es im Inneren mehrere Bereiche hat, deren Ladungen sich gegenseitig abstoßen und so eine abrupte Öffnung des Talinmoleküls von 15 nm bis zu 100 nm auslösen können. Diese Erkenntnis erklärt das instabile Verhalten von Talin und seinen schnellen Aktivierungsmechanismus.
Unsere Ergebnisse werden langfristig einen medizinischen Nutzen haben, denn besonders bei Krebserkrankungen funktioniert der Zellanhaftungsprozess nicht mehr richtig und führt zu unkontrollierten Zellbewegungen und Anhaftungsprozessen. Talin ist als Aktivator von Integrin bekannt, und Integrin ist ein bekanntes Zielprotein für die Wirkstoffe bestimmter Krebsmedikamente. Das neue Verständnis der Regulation des Anhaftungsmechanismus wird wesentlich dazu beitragen, Krankheitsprozesse zu verstehen und neue Therapien zu entwickeln.